Buchgeschichte in der Frühen Neuzeit

: The Book in the Renaissance. . New Haven 2010 : Yale University Press, ISBN 9780300110098 450 S. € 30,86

: The Acquisition of Books by Chetham's Library, 1655-1700. . Leiden 2011 : Brill Academic Publishers, ISBN 9004206655 263 S. € 99,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philip Hahn, Seminar für Neuere Geschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

In der englischsprachigen Forschung erfreut sich die Buch- und Lesergeschichte in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit. Die entstandenen Arbeiten sind hierzulande bisher nur ungenügend wahrgenommen worden. Zwei Beispiele – eine Überblicksdarstellung und eine Monographie – sollen hier vorgestellt werden. Mit seiner Geschichte des Buches von der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Typen bis 1600 bietet Andrew Pettegree nichts Geringeres als den Versuch, die klassischen Werke zum Thema von Lucien Febvre und Jean-Henri Martin sowie von Elizabeth Eisenstein zu ersetzen. Der Verfasser, von Haus aus Reformationshistoriker, ist in den letzten Jahren durch maßgebliche Bibliographien und Arbeiten zur Geschichte des Buchs in Frankreich und den Niederlanden im 16. Jahrhundert hervorgetreten. Er ist Direktor des „Universal Short Title Catalogue“-Projekts, dessen Ergebnisse 2011 online gestellt wurden1, und leitender Herausgeber einer buchhistorischen Reihe.2 Das vorliegende Buch profitiert damit von der Vernetzung des Verfassers mit internationalen Erschließungsprojekten historischer Buchbestände und macht intensiven Gebrauch von den Recherchemöglichkeiten des Internets.

Angesichts bisheriger Interpretationen, deren Fokus meist auf dem Zusammenhang zwischen Buchdruck und Humanismus, dem Aufstieg der Naturwissenschaften oder dem Prozess der Modernisierung allgemein lag, setzt Pettegree bewusst einen Gegenakzent. Er konzentriert sich vor allem auf die Herstellung von und den Handel mit sowie auf die zeitgenössische Benutzung von Büchern. Dabei nimmt er die gesamte Bandbreite des Buchmarktes in den Blick, von gelehrten Editionen und Fachbüchern über Landkarten und Musikdrucke bis hin zu Kalendern, Almanachen und Einblattdrucken. Das läuft aber nicht darauf hinaus, dass altbekannte Namen wie Gutenberg und Aldus, Oporinus und Plantin gleichsam in revisionistischem Eifer von der Bildfläche verschwinden; auch ist der Verfasser weit davon entfernt, die Bedeutung großer gelehrter Buchprojekte in der Frühen Neuzeit wegzudiskutieren. Vielmehr rückt er das Bild zurecht, indem er aufzeigt, dass Buchdrucker solche prestigeträchtigen Vorhaben nicht selten durch den Druck von Flugschriften, offiziellen Druckaufträgen und anderen profitablen Gelegenheitsdrucken finanzierten. Der große Anteil solcher ephemerer Erzeugnisse am gesamten frühneuzeitlichen Druckmarkt werde durch die Tatsache verschleiert, dass sie meist bereits zeitnah verloren gingen: Viele Drucke sind nur in einem einzigen Exemplar erhalten. Pettegree kann mit manchen, auch eigenen Neuentdeckungen bisher unbekannter Texte in kleineren Bibliotheken aufwarten und somit demonstrieren, welches Potenzial die flächendeckende Katalogisierung und Online-Erfassung von Buchbeständen bietet.

In seiner Einleitung macht der Verfasser deutlich, was für ihn die Grundlinie der ersten 150 Jahre in der Geschichte des gedruckten Buchs ist: Nur die Entdeckung und Eroberung neuer Publikationsformate und Absatzmärkte sicherte den Fortbestand der Buchdruckerkunst (S. XIV). Die ersten vier Jahrzehnte nach ihrer Erfindung brachten zwar auch anfänglichen Enthusiasmus vor allem auf Seiten humanistischer Gelehrter, in erster Linie aber zahllose Bankrotte und finanziell gescheiterte Projekte. Anhand ausgewählter Beispiele beschreibt Pettegree die Entwicklung von Geschäftsstrategien und Handelsnetzwerken um 1500. Bevor er sich Martin Luther zuwendet, unterlässt er es nicht, die wirtschaftliche Bedeutung gedruckter Ablässe zu unterstreichen (S. 93f., siehe auch S. 131) und vermeidet damit eine (auch geographisch) einseitige Überbetonung der Reformation für die Wiederbelebung des stagnierenden Gewerbes. Deren Bedeutung bemisst er vor allem an zwei Aspekten: an der Umkehrung der bis dahin etablierten Hierarchie der Druckorte – Wittenberg war weder groß noch eine bedeutende Handelsstadt – und an dem lang anhaltenden Einfluss der reformatorischen Kontroversen auf die Gründung weiterer Druckzentren (S. 105). Gleich das nächste Kapitel, „Luther’s Legacy“, demonstriert dann eine der Stärken des vorliegenden Buches, nämlich seine Berücksichtigung ganz Europas. Mit jeweils knappen Überblicken über die Entwicklungen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts in der Schweiz, Dänemark, Schweden, Böhmen, Polen, Ungarn, Spanien, Italien, Frankreich, den Niederlanden und England gelingt Pettegree ein überaus komplexes Bild der europaweiten Auswirkungen der Reformation auf den Buchdruck und -handel.

Drei weitere Kapitel verfolgen die Konsolidierung des Buchmarktes in den Bereichen der sogenannten Neuen Zeitungen, der Unterhaltungsliteratur und der Schulbücher. Pettegree relativiert die Bedeutung der Zeitungen, die selten das erste Medium der Verbreitung von Neuigkeiten gewesen seien, sondern eher der vertiefenden Lektüre gedient hätten. Doch kann er anhand eigener Funde belegen, dass es weit mehr regionale Zentren der Zeitungsproduktion gegeben haben muss als bisher angenommen (S. 139, 146). Das Kapitel zur Unterhaltungsliteratur zeichnet sich durch einen umfassenden Zugriff aus und berücksichtigt neben den populären Ritterromanen – hier wird ein interessanter Blick auf deren Export in die spanischen Kolonien geworfen – unter anderem auch die Spielräume für Dichterinnen im Buchmarkt sowie die Anfänge des Musikaliendrucks. Der Erforschung der Rolle von Büchern im Schulwesen sind aufgrund des Verlusts eines Großteils der Drucke insbesondere von ABCDarien und ähnlichen elementaren Texten Grenzen gesetzt, doch wagt Pettegree zumindest eine vorsichtige Schätzung der in England produzierten Exemplare. Hinsichtlich des Abnehmerkreises der in diesen Kapiteln betrachteten volkssprachigen Drucke kommt der Verfasser zu dem Schluss, dass ein Großteil auch der billigeren Druckerzeugnisse von denjenigen gekauft wurden, die sonst teurere Bücher erwarben. Der Rückschluss von Flugblättern und Einblattdrucken auf ein vornehmlich ‚populäres‘ Publikum gehe daher fehl (S. 198).

Die beiden nächsten Kapitel widmen sich den Einschränkungen und neuen Möglichkeiten, die sich durch die Konfessionskriege und politisch-administrative Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ergaben, seien es Bücherverbrennungen, Druck und Verbreitung im Untergrund, die Verstrickung von Druckern in Häresieprozesse, Unterbrechungen der Handelsnetzwerke, aber auch der stark anwachsende Bedarf an gedruckten Verordnungen seitens städtischer und territorialer Regierungen. In Frankreich seien in der Bürgerkriegszeit im Zuge der Flugschriftenkampagnen zahlreiche neue Druckzentren in der Provinz entstanden und die bisherige Vormachtstellung von Paris als Druckzentrum nachhaltig erodiert worden. Im Kapitel „Market Forces“ erläutert Pettegree den Konzentrationsprozess, der zu einer Vormachtstellung einiger weniger zentraleuropäischer Druckzentren im lateinischsprachigen Marktsegment geführt hat, und erklärt die Schwächen und die Abhängigkeit peripherer Märkte von Importen anschaulich anhand der Beispiele Englands, Osteuropas, Spaniens und der spanischen Kolonien in Südamerika.

Im letzten Teil des Buches wendet sich der Verfasser den astronomischen, geographischen und medizinisch-pharmazeutischen Druckerzeugnissen zu. Zwar begegnen dem Leser auch hier eine Reihe großer Namen, doch betont Pettegree erneut die Bedeutung derjenigen Werke auf dem zeitgenössischen Buchmarkt, die weniger in ein glattes Modernisierungsnarrativ hineinpassen. Der jüngeren Forschung folgend zeigt er, dass die Produktion gelehrter astronomischer Werke und populärer Kalender oder Almanache in engem Zusammenhang zu sehen ist, die Verbreitung volkssprachiger medizinischer Drucke etablierte heilkundliche Hierarchien erodierte und die Bedürfnisse des Buchmarkts maßgeblich den Inhalt von Kosmographien beeinflussten.

Nach diesem Ausflug in das Fachbuchgenre, der zuweilen etwas vom selbst gewählten Fokus auf der materiellen Geschichte des Buches abweicht, präsentieren die beiden letzten, einander komplementären Kapitel einerseits eine kurze Geschichte der Bibliothek im 16. Jahrhundert, andererseits einen zusammenfassenden Überblick über diejenigen Druckerzeugnisse, die kaum mehr nachweisbar sind. Der Autor erklärt hier unter anderem, warum öffentliche Bibliotheken im 16. Jahrhundert dem Buchmarkt hinterher hinkten, warum es verhältnismäßig wenige gedruckte Theaterstücke gibt, er erörtert die Probleme, die sich bei der Erforschung privaten Buchbesitzes anhand von Nachlassinventaren ergeben und verfolgt schließlich die Zerstörung historischer Buchbestände von der Frühen Neuzeit bis ins 21. Jahrhundert.

Aus der Perspektive eines deutschsprachigen Rezensenten ist bedauerlich, dass der Verfasser trotz der Bandbreite der von ihm verwendeten aktuellen Forschungsliteratur einige wichtige deutsche Arbeiten zum Thema übergeht.3

Auch ist Pettegree freilich nicht der erste, der auf die Schwächen der traditionellen buchgeschichtlichen Meistererzählungen hinweist.4 Doch hat sein Buch aufgrund des Facettenreichtums und der Ausgewogenheit der Darstellung das Potenzial, zum Standardwerk und Ausgangspunkt für die nächsten Jahre zu werden. Es bleibt zu hoffen, dass Pettegrees Anregungen einen Anstoß zu weiteren buchgeschichtlichen Studien geben.

Ein gelungenes Beispiel dafür bietet die in der bereits erwähnten, von Pettegree herausgegebenen Reihe erschienene Studie von Matthew Yeo über die ersten viereinhalb Jahrzehnte der Chetham’s Library in Manchester. 1655 auf der Basis des umfangreichen Vermächtnisses eines lokalen Händlers gegründet, war sie eine der ersten öffentlichen Bibliotheken Englands. Die Dichte des erhaltenen Quellenmaterials – erwähnt seien hier vor allem die Korrespondenz mit einem Londoner Buchhändler sowie das mehr als 2.500 Einträge mit Preisangaben enthaltende Anschaffungsverzeichnis – bietet dem Verfasser die Möglichkeit, eine doppelte Fragestellung zu verfolgen: Einerseits interessiert ihn, mit welchen Zielsetzungen und Methoden ein im Lauf der Jahrzehnte wechselnder Kuratorenstab unter finanziell idealen Bedingungen (was in dieser Zeit für eine öffentliche Sammlung ungewöhnlich war) eine Büchersammlung aufbaute. Andererseits bietet die geographische Lage außerhalb Londons und der Universitätsstädte aufschlussreiche Einblicke in den Buchhandel zwischen der Metropole und den Provinzen.

Yeos Buch ist in sechs Kapitel untergliedert. Der Verfasser tritt selbstbewusst gegen führende Vertreter der englischsprachigen buchhistorischen Forschung wie Elizabeth Eisenstein und Adrian Johns an, denen er vorwirft, ausschließlich den Buchhandel der Stationers‘ Company berücksichtigt und die zeitgenössische Benutzung von Büchern außer Acht gelassen zu haben. In letzterem Punkt stößt allerdings auch seine Studie an Grenzen.

Aus buchhistorischer Perspektive zentral sind die beiden folgenden Kapitel. Zunächst beschreibt der Verfasser den Auswahlprozess bei der Anschaffung der Bücher, den er vor allem vor dem Hintergrund des Bildungshintergrunds und der früheren Erfahrungen der Kuratoren mit anderen Bibliotheken erklärt. Ferner berücksichtigt er die Bedeutung gedruckter Kataloge von Buchhändlern sowie deren Strategie, ansonsten unverkäufliche Lagerbestände einer öffentlichen Sammlung gleichsam ‚unterzujubeln‘. Die Sammlung der Chetham’s Library wurde demnach von beiden Seiten geprägt. Der Rest des Kapitels bietet einen mit reflektiertem Vorbehalt unterbreiteten, angesichts der in der buchhistorischen Forschung meist wesentlich ungenügenderen Quellenbasis aber sehr brauchbaren statistischen Überblick der Bibliothek hinsichtlich der Druckjahre und -orte, der Fachzugehörigkeit und der Sprachzugehörigkeit ihres bis 1695 erworbenen Buchbestands. Deutlich wird, dass der Bestand zu drei Vierteln aus einer großen Bandbreite kontinentaler Druckpressen stammt und Latein durchweg dominiert, sich aber ab den 1660er-Jahren ein Trend hin zu einem wachsenden Anteil englischsprachiger Drucke (aus London) abzeichnet. Bei einem Großteil der vom Kontinent stammenden Bücher handelt es sich um Ware aus zweiter Hand. Auf diesen bisher von der Forschung wenig beachteten Buchhandelszweig geht Yeo dann im dritten Kapitel detaillierter ein. Anhand von handschriftlichen Eintragungen und Einbänden demonstriert er unterschiedliche Provenienzen des Bibliotheksbestands und argumentiert auf der Basis der Korrespondenz der Kuratoren mit dem Buchhändler sowie der Ankaufslisten, dass es im Second-Hand-Buchmarkt keine festen Gewinnspannen gab, sondern die Preise je nach Verkaufssituation und momentaner Marktlage individuell gestaltet wurden. Im Lauf des Beobachtungszeitraums stellt der Verfasser zudem zwei wichtige Veränderungen fest: das Aufkommen von Buchversteigerungen ab den 1670er-Jahren sowie die Verlagerung der Buchankäufe der Bibliothek auf lokale Buchhändler in Manchester. Bemerkenswert ist auch seine Feststellung, dass sich Benutzerspuren wie handschriftliche Marginalien offenbar nicht negativ auf den Preis auswirkten. Außerdem erwarb die Bibliothek auch unvollständige oder beschädigte Ausgaben, wenn es sich um seltene Werke handelte.

Die drei verbleibenden Kapitel des Buchs sind den Sammelschwerpunkten der Bibliothek gewidmet: der Theologie, den klassischen Literaturen, Geschichte und Jura sowie der Naturphilosophie. Gerade bei den theologischen Ankäufen ist der persönliche Einfluss der Kuratoren besonders greifbar; auch ist hier die Benutzung durch den örtlichen Klerus am ehesten nachweisbar. Hinsichtlich der Naturphilosophie konstatiert Yeo, dass die Sammlung in diesem Bereich weit über die potenzielle Rezeption vor Ort hinausging. Zwar akzeptierten die Kuratoren längst nicht alle ihnen unterbreiteten Titel, doch ist etwa der Ankauf von Newtons Principia mathematica am ehesten als die gelungene Weitergabe eines schwer verkäuflichen Titels durch den Buchhändler zu interpretieren (S. 205f.) – und dies sei kein Einzelfall geblieben. Der Verfasser mahnt daher an, bei der Erforschung der Verbreitung und Rezeption solcher wissenschaftlicher Werke den Buchhandel und die Materialität der Bücher stärker in den Blick zu nehmen.

Yeo ist sich bewusst, dass sein eigenes Quellenmaterial kaum Rückschlüsse auf die Lektüre der Bücher in der Bibliothek zulässt. Doch leistet seine Arbeit in Bezug auf den frühneuzeitlichen Buchhandel, insbesondere mit gebrauchten Büchern, sowie die Vernetzung von Bibliothek und Buchhandel wichtige Grundlagenarbeit und setzt neue Akzente. Auch veranschaulicht sie, dass eine national beschränkte Sichtweise in der Buchforschung am Gegenstand vorbei geht (S. 221) – ein bereits von Pettegree formuliertes Desiderat. Yeo plädiert ferner dafür, Buchgeschichte nicht als isolierte, gleichsam antiquarische Disziplin, sondern stets im Dialog mit anderen Fächern zu betreiben. Denn der Handel mit Büchern sagt immer auch etwas über ihren Inhalt aus – wenn auch bisweilen in negativ-relativierender Weise.

Yeos Beispiel spornt dazu an, auch in Deutschland die Sammlungs- und Benutzungsgeschichte kleinerer historischer Bibliotheken stärker in den Blick zu nehmen. Pettegrees Überblicksdarstellung verdient eine deutsche Übersetzung.

Anmerkungen:
1 Webseite: <http://www.ustc.ac.uk> (27.03.2012).
2 Library of the Written Word. The Handpress World, im Brill Verlag, Leiden.
3 V.a. Gerd Dicke, Heinrich Steinhöwels „Esopus“ und seine Fortsetzer: Untersuchungen zu einem Bucherfolg der Frühdruckzeit, Tübingen 1994; Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt 1991.
4 Vgl. Andreas Würgler, Medien in der Frühen Neuzeit, München 2009 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 85), S. 69.

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