U. Jensen u.a. (Hrsg.): Gewalt und Gesellschaft

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Titel
Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen


Herausgeber
Jensen, Uffa; Knoch, Habbo; Morat, Daniel; Rürup, Miriam
Erschienen
Göttingen 2011: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
423 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Baberowski, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Schon immer haben Menschen einander verletzt und getötet, heute ebenso wie vor tausend Jahren. Und immer schon haben sie über Ursachen und Wirkungen der Gewalt nachgedacht. Jede Kultur kennt das Tötungsverbot, und deshalb muss, wer tötet, begründen, warum die Gewalt sprechen soll. Legitimationen aber können widerlegt werden – es gibt immer auch Gründe, die gegen die Anwendung von Gewalt sprechen. Wer an Gründe glaubt, glaubt auch an das Ende der Gewalt. Denn wenn widerlegt werden kann, was Gewalt legitimiert, ist auch der ewige Frieden möglich. Was immer Soziologen, Historiker und Philosophen sich vorgestellt haben mögen, ob sie Gewalt als Bruch mit der Zivilisation, als Potenz einer mörderischen Moderne, als Reflex ungleicher sozialer Verhältnisse interpretierten – stets haben sie von Abweichungen gesprochen, die aus der Welt geschafft werden sollten. Erst in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kamen auch andere Einsichten zu Wort. Gewalt sei eine Ressource für jedermann, schrieb der Soziologe Heinrich Popitz, und deshalb dürfe man sich nicht wundern, dass Menschen von ihr Gebrauch machten. Wolfgang Sofsky brachte dies auf eine prägnante Formel: Menschen müssen nicht töten, aber sie können es. Allein darauf kommt es an.

Über die Frage, was Gewalt ist und was sie mit Menschen macht, die sie ausüben oder erleiden, ist vieles gesagt und geschrieben worden. Und auch Habbo Knoch weiß in seiner Einleitung nur Bekanntes mitzuteilen. Gewalt werde nicht durch „anthropologische Prägungen generiert“, sondern entstehe aus „sozialen, politischen und kulturellen Spannungslagerungen“, die man nur mit „interdisziplinärer Kompetenz“ analysieren könne. Sie müsse aber auch als mediale Repräsentation und „performatives Geschehen“ untersucht werden, damit das Verhältnis von Gewalt und Gesellschaft in ihrem Verhältnis zueinander verstanden werden könne (S. 44). Dieses Programm aber wird überhaupt nicht entfaltet, und man ist dankbar dafür, dass die Autoren nicht abarbeiten, was die Einleitung verspricht. Nicht um das Verhältnis von „Gewalt und Gesellschaft“ geht es in diesem Buch, sondern darum, wie Gewalt von Intellektuellen im 20. Jahrhundert gesehen, verstanden oder gerechtfertigt wurde.

Zu diesem Zweck haben die Autoren 35 klassische Texte des politischen Denkens aus den vergangenen 250 Jahren neu gelesen und gefragt, was in ihnen über die Rechtfertigung von Gewalt gesagt wird. Es geht um den strategischen Einsatz militärischer Gewalt bei Clausewitz, um den „Kampf als inneres Erlebnis“ bei Ernst Jünger, Antonio Gramscis Nachdenken über die revolutionäre Gewalt, um Thomas Mann und das Sterben im Krieg und vieles mehr. Dabei erheben die Autoren nicht den Anspruch, ihren Lesern Aufregendes und Überraschendes mitzuteilen. Sie fassen zusammen, was die Texte zu diesem Thema bieten. Schon dafür werden Leser dankbar sein. Manche Autoren aber entdecken auch Neues in den Schriften, die sie (wieder) gelesen haben. So zeigt Frank Bösch, was aus einem Text, der vor mehr als 100 Jahren erschienen ist, noch an Bedeutsamem herausgelesen werden kann. Joseph Conrads Novelle „Herz der Finsternis“ aus dem Jahr 1899 ist von Literaturwissenschaftlern als literarische Repräsentation des „Orientalismus“ verstanden worden. Conrad habe, so lautete der Vorwurf, Afrikaner zu Wilden und Fremden gemacht. In der Novelle geht es aber vor allem um die Entgrenzung der Gewalt und die Frage, was mit Menschen geschieht, die solche Gewalt anwenden oder erleiden. Conrad verarbeitete in dieser Geschichte seine eigenen Erfahrungen, die er mit der Gewalt gemacht hatte, als er den Kongo bereiste. Bösch sieht in der Novelle einen Versuch, menschlichen Abgründen auf die Spur zu kommen. Denn in Afrika konnten weiße Männer tun, was ihnen zu Hause niemals in den Sinn gekommen wäre: sexuelle Ausbeutung, Folter und Gewalt gegenüber Wehrlosen und Minderjährigen. Kein Recht, keine Institution und keine moralischen Vorschriften hinderten Männer daran, zu tun, wonach ihnen fernab der Heimat der Sinn stand. Conrad nahm aber auch wahr, dass Menschen mit Gewalterfahrungen nicht wieder in die Normalität des bürgerlichen Lebens zurückfanden. Man kann die Novelle, so Bösch, deshalb als Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Moral lesen, vor allem aber als Hinweis darauf, dass der Kolonialismus Räume für Entgrenzungen der Gewalt öffnete: „Afrika wird als ein Raum beschrieben, in dem alles möglich ist, auch jede Form von Gewalt.“ (S. 97)

Der Körper des Menschen, schreibt Elias Canetti in „Masse und Macht“ (1960), ist nicht Objekt der Manipulation und Abrichtung, sondern eine Kraft, die sich der Macht entgegenwirft. Der Mensch will töten, um andere zu überleben, und deshalb sind die Funktionsweisen des Körpers mögliche Quellen der Gewalt. Man müsse, so Daniel Morat in seinem originellen Essay, Canetti als Antipoden Foucaults lesen. Der Körper des Menschen sei nicht allein das Produkt sozialer Konstruktion, sondern eine produktive Kraft, die das Soziale herstelle. Unsere körperliche Natur wird nicht nur geformt, sie ist an der Formung unserer sozialen Welt vielmehr beteiligt. Historiker wollen den Wandel in der Zeit beschreiben. Canettis Überlegungen aber laufen darauf hinaus, den Körper als eine Kraft zu verstehen, die sich nicht verändert. Das ist zugleich der Grund, warum die Anthropologie der Gewalt bei Historikern lange Zeit in geringem Ansehen stand.

Zur Körperlichkeit gehört auch die Folter, wie sie Jean Améry in seinem Traktat „Die Tortur“ beschrieben hat. Habbo Knoch wirbt für diesen bedrückenden, beeindruckenden Text von 1965, weil er uns den Folterer nicht als stumpfen Bürokraten zeigt, sondern als Gewalttäter aus Leidenschaft. Folterer können sich selbst verwirklichen, indem sie den Schmerz als Waffe einsetzen und sich in den Körper des Gefolterten für immer einbrennen. Denn die Opfer erleben nicht nur sich selbst als Körper, der schmerzt. Sie erleben auch die Körperlichkeit des Täters. Knoch lehnt „rächende Gewalt“ ab, wie Améry sie forderte. Rache schütze die Gesellschaft nicht vor der Dynamik entgrenzter Gewalt. Aber das Wissen der Täter, dass die Opfer Vergeltung üben können, so ließe sich einwenden, mag Täter davon abhalten, alle Grenzen zu überschreiten, und für das Opfer ist Gegenwehr ein Weg, die verletzte Identität wieder herzustellen.

In den siebziger Jahren war Johan Galtungs Schrift „Strukturelle Gewalt“ in aller Munde. Niemand nahm daran Anstoß, dass Galtung soziale Ungleichheit und prekäre Lebensverhältnisse als einen Ausdruck von Gewalt sah. Gewaltforscher hielten ihm deshalb später vor, er habe Ungerechtigkeit mit Gewalt verwechselt. Allerdings, so Dirk Schumann, habe Galtung doch die Sinne dafür geschärft, dass Gewalt auch unsichtbar sein kann, dass sie sich in Form psychischen Drucks artikulieren kann oder durch Strukturen, unter denen Menschen leiden. Diese Geschichte der Gewalt ist noch nicht geschrieben.

Auch Bourdieu sprach von Gewalt, obwohl er nur die Wirkungen der Macht untersuchte. Die „symbolische Gewalt“, schreibt Eva-Maria Silies, ist Macht, der es gelingt, Bedeutungen durchzusetzen, indem sie die Kräfteverhältnisse verschleiert. Ihre Sprache, ihre Gesten und Rituale sind verklärend. Kennzeichen der symbolischen Gewalt ist es, dass Täter und Opfer nicht voneinander zu trennen sind, weil sich das Opfer den Standpunkt des Täters unwissentlich aneignet. Wer die Sprache und die Rituale des Täters verwendet, bestätigt die Machtasymmetrie. Es lässt sich mit guten Gründen bezweifeln, ob solche Machtasymmetrie wirklich Gewalt ist. Silies schlägt vor, Bourdieus Theorie als Anregung zu verstehen, performative Gewaltakte auf ihre symbolische Bedeutung hin zu untersuchen und sie von ihrer körperlichen Dimension zu trennen.

Es ließe sich noch vieles mehr über dieses gelehrte und kluge Buch sagen, aber die Kunst des Schreibens besteht in der Beschränkung, auch für Rezensenten.