H. Talkenberger: Gauner, Dirnen, Revolutionäre

Titel
Gauner, Dirnen, Revolutionäre. Kriminalität im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Talkenberger, Heike
Erschienen
Darmstadt 2011: Primus Verlag
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Schwerhoff, Institut für Geschichte, Geschichte der Frühen Neuzeit, Technische Universität Dresden

„Ich kam in den Saal der Portefeuillearbeiter und wurde Mitglied einer Riege, in welcher feine Geld- und Zigarrentaschen gefertigt wurden. […] Unser Arbeitssaal faßte siebzig bis achtzig Menschen. Ich habe unter ihnen nicht einen einzigen bemerkt, dessen Verhalten an die Behauptung erinnert hätte, daß das Gefängnis die hohe Schule der Verbrecher sei. Im Gegenteil! Jeder einzelne war unausgesetzt bemüht, einen möglichst guten Eindruck auf seine Vorgesetzten und Mitgefangenen zu machen. Vom Schmieden schlimmer Pläne für die Zukunft habe ich während meiner ganzen Gefangenschaft niemals etwas gehört. Hätte irgend einer gewagt, so etwas zu verlautbaren, so wäre er, wenn nicht angezeigt, so doch auf das energischste zurückgewiesen worden.“1

So beschreibt einer der berühmtesten Häftlinge des 19. Jahrhunderts, der Schriftsteller Karl May (1842 – 1912), den Beginn seines Aufenthaltes im Arbeitshaus Schloss Osterstein (Zwickau), nachdem er im Juni 1865 wegen mehrfachen Betrugs und Diebstahls zu vier Jahren Haft verurteilt worden war. Obwohl er bald als Gefängnis-Musiker und Schreiber reüssierte und in der Gefängnisbibliothek nach eigener Angabe seine Strafzeit in eine Studienzeit verwandelte, war der Tiefpunkt seiner Lebenskurve damit noch nicht erreicht. Nach der Entlassung wurde er erneut straffällig und im Mail 1870 für vier Jahre ins Zuchthaus Waldheim eingeliefert. Diese Zeit verbrachte er phasenweise in Isolierhaft, bevor er erneut als Kirchenmusiker und Bibliotheksaufseher tätig wurde. Erst danach begann seine schriftstellerische Karriere Fahrt aufzunehmen und ihn aus dem Gravitationsfeld der Kriminalität herauszuführen.

Den Literaten Karl May und seine außergewöhnliche autobiographische Rechtfertigungsschrift sucht man im Buch von Heike Talkenberger vergebens. Aber auch überraschend viele „einfache“ Strafgefangene des 19. Jahrhunderts haben Selbstzeugnisse hinterlassen. Mehrere Dutzend dieser autobiographischen Texte, Briefe und Memoiren, oft von Gefängnisdirektoren oder Anstaltsgeistlichen angeregt, bilden die Grundlage des vorliegenden Buches. Talkenberger, kriminalhistorisch bereits durch die mustergültige Edition des Betrügers Luer Meyer ausgewiesen2, der auch hier eine prominente Rolle spielt, bringt damit eine neue Perspektive in die blühende Kriminalitätsforschung zum 19. Jahrhundert ein.3

Dominierte bisher der Blick auf Normen und Strafrechtsreformdebatten, auf die Kriminologie als Wissenschaft, auf die mediale Aufbereitung von Verbrechen oder auch auf deren statistisch messbare Konjunkturen, so will Talkenberger nun den Stimmen der Gefangenen selbst Gehör verschaffen. Dabei weiß die Autorin selbst, dass ihr Unterfangen nicht unproblematisch ist. Ob man zum Beispiel die schönfärberische Darstellung Karl Mays über das Arbeitshaus in Zwickau zum Nennwert nehmen darf, ist zu bezweifeln; ohnehin ist das Verhältnis zwischen moralisierenden Deutungen und empirischen Beschreibungen bei May so problematisch, dass darin wohl der Grund für die Nichterwähnung im vorliegenden Buch zu sehen ist. Aber auch andere Selbstzeugnisse bieten keineswegs „authentische“ Einblicke in die gesellschaftliche Wirklichkeit, vielmehr handelt es sich um Konstruktionen des Selbst, die häufig genug die herrschenden Normen übernehmen. Talkenberger ignoriert diese Deutungsprobleme ihrer Quellen nicht und thematisiert sie an verschiedenen Stellen des Buches, aber nimmt sich trotzdem die Freiheit, die Texte behutsam als Zeugnisse für die Lebenswelt des 19. Jahrhunderts zu benutzen. Anhänger eines radikalen Dekonstruktivismus wird dieses Vorgehen nicht zufrieden stellen. Ich halte es für methodisch dennoch vertretbar, nicht zuletzt gemessen am reichen Ertrag der Studie. Es gelingt ihr, farbig und abwechslungsreich das Kriminalitätspanorama eines Jahrhunderts zu entfalten. Damit wird sie nicht nur die kriminalhistorische Fachwissenschaft ansprechen, sondern auch ein breiteres Sachbuchpublikum zur Lektüre ermuntern.

Die Darstellung folgt, nach einleitenden exemplarischen Skizzen des Lebens dreier Krimineller, dem biographischen Spannungsbogen einer kriminellen Karriere von den Anfängen über den Gefängnisaufenthalt bis zur „Zeit danach“. Die Darstellung setzt mit der Frage ein, wie man zum Verbrecher wird. Bei ihrer Beantwortung zeigen sich unübersehbare Übereinstimmungen zwischen den wissenschaftlichen Erklärungsangeboten der Zeit und den autobiographischen Selbstdeutungen: Sittlich-moralische Verfehlungen werden häufig eingeräumt, daneben aber auch die Gesellschaft und die Verführung durch andere verantwortlich gemacht. Plastisch treten im folgenden Kapitel die kriminellen Milieus hervor, insbesondere die modernen Versuchungen der wachsenden Großstädte, etwa der entstehenden Vergnügungsszene in Hamburgs Viertel St. Pauli. Andere Aspekte erinnern eher an die Vormoderne – zum Beispiel die Bedeutung von Wirtshäusern als Orte krimineller Vergesellschaftung oder das kriminogene Potential des Milieus der Nichtsesshaften.

Das Kapitel über die Strafverfolgung schöpft dann, ebenso wie das darauf folgende Kapitel über Reformansätze des Strafvollzuges, zunächst aus der allgemeinen Literatur und schildert knapp die entsprechenden Strukturen und Diskurse. Sodann werden vor dem Hintergrund der allgemeinen Deliktstruktur der Zeit exemplarische Tatschilderungen in den Selbstzeugnissen vorgestellt. Dabei scheinen insbesondere die Texte politischer Gefangener, der Achtundvierziger und später der oppositionellen Arbeiterfunktionäre, aus der Masse der anderen Quellen herauszuragen. Sie waren von politisch-moralischem Sendungsbewusstsein erfüllt und rechtfertigten selbstbewusst ihre Taten als Widerstand gegen ein Unrechtregime.

Ein Glanzpunkt des Buches stellt das Kapitel über den „Alltag hinter Gittern“ dar, weil hier die Stärken des autobiographischen Ansatzes voll zum Tragen kommen. Die Schilderungen der Gefangenen fallen überraschend differenziert aus. So unterschlägt Luer Meyer keineswegs die positiven Aspekte des Arbeitshauses in Bremen, er lobt die Beköstigung, die Möglichkeit zum „Überverdienst“ und zur Berufsausbildung. Weit entfernt von Mays Idealbild über Zwickau entfaltet er aber auch die Schattenseiten, zu denen vor allem die Gleichgültigkeit, Unfähigkeit und Brutalität des gesamten Personals gehörten. Der sonntägliche Müßiggang hätte zudem Gelegenheit dafür geboten, dass hart gesottene Kriminelle ihren schlechten Einfluss auf noch nicht so „verdorbene“ Gefangene ausübten konnten – hier scheint der von May abgelehnte Topos von der ‚Schule des Verbrechens‘ wiederaufzuleben. Besonders eindringlich erscheinen einmal mehr die Schilderungen der politischen Gefangenen: Der adlige Achtundvierziger Otto von Corvin-Wiersbitzki empfindet das Abschneiden der Haare und das Scheren des Bartes als „Tortur“, das Wollspinnen und die Schuhfertigung als „Schmach“. Aber auch der Sozialist Johannes Most hält seinem Gefängnisdirektor – allerdings vergeblich – vor, dass seine politischen Agitationen nicht „ehrenrührig“ seien und er deshalb nicht mit „Spitzbuben und Raufbolden“ auf eine Stufe gestellt werden dürfe.

„Wieder ein ehrlicher Mensch werden“, so ist der letzte Abschnitt des Buches überschrieben, der sowohl die institutionellen Aspekte einer möglichen „Resozialisierung“ in Form der Gefangenenfürsorge als auch die Bedeutung der ehelichen, familiären und sozialen Netzwerke herausstellt. Deutlich wird, wie viele Betroffene unter ihrem Vorleben zu leiden hatten: „Einen aus dem Gefängnis nimmt keiner mehr“, so resümiert ein Fabrikarbeiter seine bitteren Erfahrungen. Auswanderung oder der Gang zur Fremdenlegion konnten die möglichen Folge der Unmöglichkeit sein, in der Heimat wieder Fuß zu fassen. Selbst der schriftstellerische Erfolg Karl Mays wurde in den späteren Jahren zunehmend von der publizistischen Schlammschlacht über seine kriminelle Vergangenheit überschattet, die seine Gesundheit nachhaltig ruinieren sollte.4 Das seit Jahrhunderten gepflegte Ideal der Besserung der Strafgefangenen und der nachhaltig schlechte Ruf des einmal inhaftierten „Verbrechers“ standen in einem starken Spannungsverhältnis – eine Spannung, die partiell bis heute zu beobachten ist, wie die Autorin abschließend bemerkt.

Anmerkungen:
1 Karl May, Mein Leben und Streben, Band I, Freiburg im Breisgau 1910, S. 127.
2 Heike Talkenberger (Hrsg.), Die Autobiographie des Betrügers Luer Meyer. 1833-1855, Kommentierte Edition, Hannover 2010.
3 Zusammenfassend: Gerd Schwerhoff, Historische Kriminalitätsforschung, Frankfurt am Main 2011, S. 22ff.
4 Jürgen Seul, Karl May und Rudolf Lebius. Die Dresdner Prozesse. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Claus Roxin, Husum 2004.