K. Frey: Geschichte des Pädagogischen Vereins zu Chemnitz

Titel
Zur Geschichte des Pädagogischen Vereins zu Chemnitz (1831-1934). Eine sozialhistorische Untersuchung zur Chemnitzer Volksschullehrerkorporation


Autor(en)
Frey, Krimhild
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
547 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Josef Pircher, Institut Wiener Kreis, Universität Wien und Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, Universität Klagenfurt

Zur Schulgeschichte Sachsens sind in den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche Publikationen erschienen.1 Ziel der hier besprochenen Dissertation ist es, die Chemnitzer Lehrervereinigung2, die älteste Stadtlehrerkorporation Sachsens, im Längsschnitt darzustellen. Damit schließt die Publikation zweifelsohne eine bildungshistorische Forschungslücke.

Die strikte chronologische Anordnung bestimmt die Einteilung in fünf übergeordnete Kapitel. Im Gegensatz zu vergleichbaren Darstellungen von Lehrervereinen, die im Rahmen einer Professionalisierungstheorie ihre Ergebnisse vorstellen, will diese Arbeit eine sozialhistorische Perspektive einnehmen. Dies gelingt jedoch nur zum Teil. Als methodischer Zugang ist eine hermeneutische Quellenanalyse gewählt (S. 23), allerdings bleibt eine wissenschaftstheoretische Präzisierung dieses Ansatzes aus. Die Autorin zieht eine Vielzahl von Quellen für die Untersuchung heran. Neben den Jahresberichten, Festschriften und internen Berichten des Lehrervereins werden auch wissenschaftliche Periodika (Chemnitzer Pädagogische Blätter, Sächsische Schulzeitung, Leipziger Lehrerzeitung) und Tageszeitungen ausgewertet.

Der erste Teil umfasst den Zeitabschnitt zwischen der Gründung des Vereins (1831) und 1873/74. Mitunter weit ausholend, wird die Etablierung des Vereins vor dem Hintergrund politischer Entwicklungen in Sachsen beschrieben. Als markante Punkte sind dabei zu nennen: die Neuordnung des sächsischen Bildungssystems im Zuge der politischen Veränderungen hin zu einer konstitutionellen Monarchie 1831, das neue sächsische Volksschulgesetz von 1835 und die Ereignisse rund um die gesellschaftlichen Wirren der Revolution von 1848. Die prekäre Situation der Lehrerschaft in materieller Hinsicht sowie das Verhältnis zwischen Schule und Religion sind thematische Schwerpunkte des Chemnitzer Lehrervereins in diesem Zeitabschnitt. Die progressive Phase der 1860er-Jahre, angeregt durch Friedrich Dittes, machte den Verein auch über die regionalen Grenzen hinaus bekannt. Denn in den, später als „Chemnitzer Thesen“ bezeichneten, Vorschlägen des Vereins zur Erneuerung des sächsischen Volksschulgesetzes, wurden 1867 Missstände artikuliert, die auch in anderen deutschen Ländern als solche wahrgenommen wurden: Lehrerbildung, Trennung von Kirche und Staat, Rechte der Lehrer und politische Partizipationsmöglichkeiten der Lehrer. Als Verbesserung begrüßte der Chemnitzer Lehrerverein zwar den „Entwurf eines Volkschulgesetzes für das Königreich Sachsen“ von 1871, und das daraus 1873 folgende Volksschulgesetz, übte aber auch starke Kritik an der Kontinuität konservativer Elemente in dieser bildungspolitischen Direktive.

Im zweiten Abschnitt (1873-1900) wird der Kampf der Volksschullehrerschaft um Anerkennung, der auch im Kaiserreich weiterhin auf der Agenda des Vereins stand, detailliert fortgesetzt. Ebenso erfährt die weiterhin schwelende Auseinandersetzung mit der Kirche Beachtung. Das Quellenmaterial erweist sich in dieser Hinsicht als besonders ergiebig. Die politischen, pekuniären, berufsständischen, philosophischen, gesellschaftserzieherischen und fachlichen Aspekte werden in Bezug auf die gesellschaftlichen Veränderungen nahezu durchgängig aus zeitgenössischen Quellen herausgearbeitet. Dies geschieht primär anhand der Sächsischen Schulzeitung. Dieses Kapitel entspricht am ehesten dem gesetzten Ziel, das reziproke Verhältnis von Schule und Gesellschaft anhand des Lehrervereins nachzuvollziehen. Das Sichtbarmachen dieser Zusammenhänge ist wohl auch nur in einem sozialhistorischen Kontext möglich und rechtfertigt das gewählte Vorgehen.

Kapitel drei, obwohl beträchtlich kürzer im Hinblick auf den zeitlichen Rahmen (1900-1914), steht im Umfang den ersten beiden nicht nach (S. 281-396). Akribisch werden von der Autorin neue pädagogische Forschungsrichtungen (Reformpädagogik, Kinderpsychologie, experimentelle Pädagogik, bürgerliche Lebensreformbewegung) und daraus abgeleitete Unterrichtsmethoden beschrieben. Auf diesen Seiten ist nicht mehr zu erkennen, dass es sich nicht um eine Untersuchung der Professionalisierung handelt. Zur Verdeutlichung sei exemplarisch auf den Abschnitt III.3.3 (S. 348-396) hingewiesen. Dort werden Chemnitzer Schulversuche in Anlehnung an die Arbeitsschulidee besprochen, allerdings ohne Rückbindung zum übergeordneten sozialhistorischen Kontext. Eingedenk des anfänglich formulierten methodischen Anspruchs bleibt offen, weshalb der Darstellung der Schulversuche dieser Zeit so breiter Raum gewährt wird. Nicht, dass es sich dabei um historisch wenig aufschlussreiche Ausführungen handeln würde, aber im Hinblick auf die Länge der folgenden Kapitel ist diese Gewichtung ungleich.

Die leider nur an der Oberfläche behandelten Themen im Abschnitt vier (1914-1918) sind mit den Überschriften „Erwartungen an den Krieg“, „Die Veränderung der Schularbeit im Krieg“ und „Die Arbeit des Lehrervereins im Krieg“ tituliert. Leider gerät dieses Kapitel mit nur 17 Seiten sehr kurz. Begründet wird das mit dem aktuellen Forschungsstand, der für diese und die nachfolgende Zeitspanne ungleich höher sei als in den vorangegangenen Kapiteln. Angesichts des großen Potenzials für die gewählte Themenstellung ist das nicht unbedingt schlüssig.

Der fünfte Teil (1918-1934) ist ebenfalls verhältnismäßig kurz, wenn auch mit 53 Seiten etwas breiter angelegt. Die Anpassung der Lehrer an die neue politische Situation bzw. die Ablehnung derselben wird dabei ebenso schlüssig behandelt wie der Neubeginn einer liberalen schulpolitischen Phase zur Zeit der Weimarer Republik. Auf die Erfolge rund um die universitäre Verankerung der Ausbildung der Volksschullehrer und das Sächsische Übergangsschulgesetz von 1919 wird ebenfalls eingegangen. Den Schluss des Kapitels bildet die Selbstgleichschaltung des Vereins und seine sich 1934 anschließende Auflösung.

Weshalb diese letzten zwei Zeitabschnitte überhaupt behandelt werden, erschließt sich nur teilweise. Auch wenn 1934 die Tätigkeit des Vereins als eigenständige Institution endet, und dies eine nachvollziehbare Zäsur darstellt, erscheint sie in einem sozialhistorischen Zusammenhang nicht zwingender als vorangegangene. Ursache dieses Problems scheint in einer letztlich doppelten Zielsetzung der Arbeit zu liegen. Denn obwohl ein Professionalisierungsansatz eindeutig abgelehnt wird, schließt die Zusammenfassung in der Einleitung mit folgenden Worten: „Im Einzelnen wird untersucht, wie sich die als Bildungsverein konzipierte Gemeinschaft zu einem berufspolitisch tätigen Standesverein entwickelte.“ (S. 21) Dies kann aber nur unter Gesichtspunkten der Professionalisierung wirklich untersucht werden. Als weiteres Beispiel kann die Bezahlung der Lehrer in Chemnitz herangezogen werden, die hier erstmalig in der Forschung statistisch für den gesamten Untersuchungszeitraum aufbereitet wurde. Gerade dieser Aspekt ist immanenter Teil eines historischen Professionalisierungsansatzes, wie ihn unter anderen Böllert und Gogolin vertreten: „Eng verschränkt mit der Verberuflichung des Lehrens einerseits und vormals karitativer Ehrenamtlichkeit andererseits ist seit jeher der Kampf um die Verbesserung des öffentlichen Ansehens der Berufsinhaber, ihrer Arbeitsbedingungen und ihrer Besoldung.“3

Bestärkt wird der widersprüchliche Eindruck von Vorgabe und Ausführung noch dadurch, dass das sozialhistorische Anliegen am Ende der Dissertation als weiterführende Forschungsfrage formuliert wird: „Wie stark war die Lehrergesellschaft vom gesellschaftlichen Umfeld und der weltanschaulichen Zusammensetzung der Chemnitzer Bevölkerung geprägt?“ (S. 525) Gerade darauf zielt die Arbeit ja ab.

Es ist in historischen Abhandlungen nicht unüblich, dass erst am Ende Thesen aus der vorher geschilderten Recherche abgeleitet und argumentativ gestützt werden. In dieser Hinsicht ist zu bemerken, dass der Arbeit eine grundständige These fehlt. Denn auch wenn ein Fazit gezogen wird, handelt es sich vorwiegend um eine Zusammenfassung. Eine explizite Ausarbeitung einer These erfolgt nicht, was aufgrund des Materials, das augenscheinlich genügend Potenzial besitzt, nicht der Fall sein müsste. Die Vermutung liegt nahe, dass dies am letztlich doch zu großen Zeitrahmen liegt.

Deshalb ist die Dissertation eher einschlägig forschenden Bildungshistorikern von Nutzen. Diesen kann die quellengesättigte Untersuchung durchaus als Orientierung oder Ausgangspunkt für weitere Forschungen empfohlen werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Burkhard Poste, Schulreform in Sachsen 1918-1923. Eine vergessene Tradition deutscher Schulgeschichte, Frankfurt am Main 1993; Andreas Pehnke, Sächsische Reformpädagogik. Traditionen und Perspektiven, Leipzig 1998; Corinna Herold, Berufsethos zwischen Institutionalisierung und Professionalisierung. Studien zur Rolle des Sächsischen Lehrervereins im Professionalisierungsprozess sächsischer Volksschullehrer zwischen 1848 und 1873, Leipzig 1998; Hans-Martin Moderow, Volksschule zwischen Staat und Kirche. Das Beispiel Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert, Köln 2007.
2 Auch wenn die Bezeichnung „Chemnitzer Lehrerverein“ erst ab 1919 in Gebrauch ist (S. 491), wird sie in der Arbeit am häufigsten genutzt.
3 Karin Böllert / Ingrid Gogolin, Stichwort: Professionalisierung, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 5. Jahrg., Heft 3/2002, S. 367-383.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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