Cover
Titel
Vom guten Leben. Adelige Frauen im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Kubrova, Monika
Reihe
Elitenwandel in der Moderne 12
Erschienen
Berlin 2011: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
422 S.
Preis
€ 99,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Tacke, Castelfiorentino

Dieses Buch, das als Dissertation an der Universität Halle entstanden ist, handelt nicht von adligen Frauen im 19. Jahrhundert, wie der Titel suggerieren könnte, sondern von retrospektiv seit 1900 vorgenommenen autobiographischen Deutungen, die adlige Frauen ihrem Leben gaben, das sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelebt haben. Alle, insgesamt 36 autobiographischen Texte, die der Analyse zugrunde liegen, sind von Frauen adliger Geburt nach 1900 veröffentlicht worden oder waren zur Veröffentlichung gedacht. Bei aller Unterschiedlichkeit der gelebten Leben und der Frage, ob und inwieweit sie jeweils als gelungenes oder gescheitertes wahrgenommen wurden, dient allen Lebensbeschreibungen als Messlatte die Vorstellung eines ‚guten Lebens‘, in dem das ‚Familie haben‘ eine zentrale Rolle spielte. In der Selbst- und Fremdwahrnehmung als adlige Frau schwingen zwei sozial nicht deckungsgleiche Identitätskonstrukte mit, die in unterschiedlichem Maße in Anspruch genommen werden konnten. Das ‚Adelig-sein‘ betont eher die soziale Nähe zu adligen Männern, während das ‚Frau-sein‘ sie eher in der Nähe zu bürgerlichen Frauen platziert. Indem die Verfasserin diese Identitätskonstrukte konsequent als relational beschreibt und sich ihnen hermeneutisch nähert, gelingt es ihr, über die Beobachtung adliger Frauen beim Schreiben immer auch männliche adlige, sowie weibliche und männliche bürgerliche Wahrnehmungs- und Identitätskonstrukte mit in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise wird aus einer Geschichte adliger Frauen eine geschlechtergeschichtlich orientierte Kulturgeschichte des Adels in der bürgerlichen Gesellschaft.

Wie also wird ein adliges Frauenleben zum ‚guten Leben‘? Indem als relevant angesehene Andere es als ‚gutes Leben‘ anerkannten. Über das Ausmaß der Anerkennung und damit der Beziehung des Individuums zur Welt entschied in hohem Maße die Familie als Sozialisationsinstanz und als Bezugspunkt der eigenen, aktiven sozialen Verortung in der Welt. Die adlige Familie des 19. Jahrhunderts wird, wollte sie man der bürgerlichen Familie entgegenstellen, in doppelter Hinsicht als entgrenzt beschrieben: Sie ging einerseits über die unmittelbare Kleinfamilie hinaus und umfasste das ganze Netz von Verwandten und bezog andererseits immer auch die Vor- und Nachfahren mit ein. Den Autobiographien liegen familiär strukturierte Lebensläufe zugrunde, aus denen sich modellhaft eine adlige ‚weibliche Normalbiographie‘ entlang der Ideale Gattin, Mutter, Herrin und Gesellschaftsdame konstruieren lässt. In diesem ‚guten Leben‘ waren Frauen zwar im Vergleich zu Männern strukturell benachteiligt, aber sie mussten ihre Geschlechtszugehörigkeit nicht als Problem formulieren, solange sie über ihre Familie in eine relationale Herrschaftsordnung einbezogen wurden. Wenn es ihnen hingegen nicht gelungen war, ihr Leben innerhalb dieser Normalbiographie einzurichten, weil sie entweder ledig geblieben waren, oder ihre Familie in ihrer relationierenden Funktion versagt hatte, konnten Familienbeziehungen als konflikthaft und Geschlechtszugehörigkeit als problematisch erinnert werden.

Monika Kubrova strukturiert den Aufbau ihres Buches um diese beiden Gruppen der integrierten Frauen und der Außenseiterinnen. Im ersten Kapitel beschäftigt sie sich in quellenkritischer Absicht mit den Fallstricken einer historischen Autobiographieforschung, unter anderem mit der Qualifizierung der Autobiographie als (männlicher) bürgerlicher Gattung, der dann adlige (Männer-)Autobiographien nur als Sondergruppe der Gattung – die dadurch schon per se auf Adeligkeit zu verweisen scheinen – gegenüber gestellt wurden. Sie widerlegt diese Klassifizierungen durch den Hinweis, dass die schreibenden Zeitgenossen um 1900 – Männer und Frauen, Bürgerliche und Adlige – von der eigenen Lebensgeschichte in unterschiedlicher Weise Gebrauch machen konnten. Ihr autobiographisches Schreiben konnte an ihre soziale Gruppe anknüpfen, musste es aber nicht. Die Autobiographien der adligen Frauen zeigen zwei verschiedene Erzählungen: ‚Wir-Geschichten‘ oder ‚Geschichten anderer‘ einerseits, in der sich die Autorinnen als integriertes Mitglied einer adligen Gemeinschaft verorteten, und ‚Ich-zentrierte Texte‘ andererseits, die stärker den Autobiographien männlicher Bürger ähnelten und ihr Ich in ein konfliktreiches Verhältnis zur Familie und Gesellschaft setzten.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den ‚Wir-Geschichten‘, in denen das ‚Familie haben‘ sich als zentraler Sinnbezug erweist. Das von Männern und Frauen geteilte Ziel des Namens- und Besitzerhalts wies beiden Geschlechtern zwar ungleiche Rollen zu, wurde aber nicht als ungleich problematisiert, sondern als Möglichkeit der Selbstpräsentation und des aktiven Teilhabens „in tradierten, von beiden Geschlechtern bewohnten adelskonformen Räumen“ begriffen (S. 212). In der Vorstellung der adligen Familie als Generationen übergreifende Geschlechterkette, kam Männern im Hinblick auf den Namenserhalt und die Sichtbarkeit des Familienglanzes höhere Wertschätzung zu, während Frauen durch ihre Pflicht, einen Erben zu gebären, generative Verantwortung übernahmen. ‚Familie-haben‘ war für adlige Frauen nicht mit einem Aufgehen in einem emotionalen Binnenraum der (Klein)Familie verbunden, sondern überantwortete ihnen die aktive Pflege der weiten verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen – ein Wirkungskreis, der auch im Hinblick auf die Positionierung ihrer Söhne und Töchter essentiell war.

Um gestörte Anerkennungsverhältnisse und ihre desintegrierende Wirkung für adlige Frauen geht es im dritten Kapitel, das sich mit Ich-zentrierten Autobiographien beschäftigt. Diese Texte präsentieren adlige Frauen als „Ich mit Eigenschaften“, die in mehr oder weniger lösbare Konflikte mit den Erwartungen der über das ‚Wir‘ konstituierten Familie traten. Das mögliche Versagen adliger Familien im Hinblick auf die „natürliche Bahn“ ihrer Töchter erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass diese sich individuellen Lebensmodellen öffneten, die an die Chiffren Arbeit, Liebe, Bildung gebunden wurden. Dies konnte zu einer meist nicht intendierten Auflösung der Familienbindungen führen, musste es aber nicht. Die Vorstellung des Versagens der Familie als Ort der sozialen Positionierung blieb darüber hinaus immer gebunden an ein Ideal des ‚guten Lebens‘. Keine der autobiographischen ‚Ichs‘ verzichtete im Unterschied zu den Frauen der ersten Gruppe in ihrer Konfliktgeschichte auf eine geschlechtliche Positionierung ihrer Selbst, allerdings konnte auch hier die Bedeutung, die die schreibenden Frauen der Unterscheidungskategorie Geschlecht zuschrieben, unterschiedlich ausfallen. Inwieweit Geschlecht als marginal oder dominierend wahrgenommen wurde, hing immer auch mit anderen sozial-kulturellen Kriterien zusammen, sei es die Stellung innerhalb der Geschwisterfolge, das Autoritätsverhältnis zu den Eltern oder die materielle Lage, soziale Verortung und Anerkennung der Familie.

Ledigen adligen Frauen ist das letzte Kapitel gewidmet. Sie füllten die gleichen familienbestimmten Räume aus wie verheiratete Frauen, nahmen aber als Tanten, Erzieherinnen und Hofdamen im relational hergestellten Netz der Familie eine andere, untergeordnete Position wahr. Auffällig ist, dass der Status des Ledigseins allenfalls in der Furcht vor dem möglichen Sitzenbleiben auf dem ersten Ball mitschwingt, aber als eigenständige Lebensform innerhalb der adligen Familie in den Lebensgeschichten nicht explizit reflektiert wird. Den ledigen adligen Frauen nähert sich die Verfasserin deshalb auf einem Umweg, indem sie die Frage stellt, warum adlige Frauen im 19. Jahrhundert die ‚traditionelle‘ Lebensform der Stiftsdame nicht mehr wahrgenommen haben. Mit dem Blick auf das Stift und dessen Wandel vom „Brautdepot“ (S. 347) zur „Altersversorgungsanstalt“ von Junggesellinnen (S. 367), arbeitet sie heraus, dass sich die Lebensperspektiven adliger Frauen an der Wende zum 20. Jahrhundert gewandelt und Adelsfamilien „ihre ledigen Töchter in die Selbständigkeit“ (S. 366) entlassen haben. Das Berufsleben begann eine mögliche und ernstzunehmende Alternative zur Ehe oder zur ledigen Tanten-Anbindung an die Familie zu werden, auch wenn die Selbst- und Fremdwahrnehmung als Mangelwesen auch hier noch die normative Gültigkeit des ‚guten Lebens‘ unterstreicht.

Eine gelungene Frauengeschichte, das zeigt dieses Buch in höchster Vollkommenheit, besteht nicht darin, der (adligen) Männergeschichte ‚nur‘ eine weibliche Geschichte an die Seite zu stellen, sondern eröffnet Fragestellungen und gibt Antworten, die die ‚allgemeine‘ Geschichte – hier die Adelsforschung – insgesamt mit neuen grundlegenden Erkenntnissen bereichert.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension