G. zur Nieden: Vom Grand Spectacle zur Great Season

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Titel
Vom Grand Spectacle zur Great Season. Das Pariser Théâtre du Châtelet als Raum musikalischer Produktion und Rezeption (1862-1914)


Autor(en)
zur Nieden, Gesa
Reihe
Die Gesellschaft der Oper. Musikkultur europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert 6
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Richard Erkens, Lübeck

Das Théâtre du Châtelet, im Zuge der Pariser Haussmannisierung geplant und 1862 eröffnet, ist ein kulturpolitisches Kind des Zweiten Kaiserreichs unter Napoleon III., das in den Folgedekaden das Laufen lernte und sich vom Volkstheater zur mondänen Festival-Spielstätte mauserte. Gesa zur Nieden stellt in ihrer Dissertation die wechselvolle Geschichte dieses Theaters dar, beginnend bei den architektonischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Zielsetzungen seines Baus und den politischen Prämissen, die seine letztlich realisierte Erscheinungsform bestimmten. In drei nachfolgenden Hauptkapiteln werden – in chronologischer Ordnung – die Aufführungsgenres behandelt, die für das Mehrzwecktheater wichtig waren bzw. wurden: die unter dem Begriff „grand spectacle“ fallenden Gattungen der Feerie und des Militärspektakels (Kapitel 2), die Sinfoniekonzerte mit ihren Repertoiresäulen Berlioz und Beethoven (Kapitel 3) und die exotistisch-avantgardistische Festivalkultur der „great seasons“ ab 1900, bei der internationale Künstler wie die der Ballets Russes, Felix Weingartner und Richard Strauss im großen Saal des Châtelet gastierten (Kapitel 4). Allein diese historisch-faktische Darstellungsebene der Studie empfiehlt sich zur Lektüre, da zur Nieden akribisch recherchierte Quellen – wie beispielsweise zum personell dicht vernetzten Impresario Gabriel Astruc (Kapitel 4) – aufschlussreich zu präsentieren versteht mit der Erörterung exemplarischer Aufführungen. Dabei stehen der Forschung bekannte theaterhistorische Ereignisse wie die Vorführungen der Ballets Russes oder die französische Erstaufführung der „Salome“ von Strauss neben kaum Erforschtem wie der Dramaturgie der Sinfoniekonzerte von Édouard Colonne und Gabriel Piernés oder den auf visuelle Spektakelhaftigkeit und musikalische Eingängigkeit berechneten Feerien, von denen exemplarisch das Erfolgsstück „Rothomago“ analysiert wird (Kapitel 2).

Der methodische Ansatz, von dem zur Nieden ihre Forschungsperspektiven ableitet, folgt einer Architektur- und Raumsoziologie1, die vor dem Hintergrund der Ereignishaftigkeit einer Aufführung danach fragt, wie Raumwahrnehmung und Raumnutzung ineinandergreifen und inwieweit eine spezifische Architektur dazu beiträgt, eine „Stimmungsgemeinschaft“ (S. 21) zwischen Darstellern und Zuschauern herzustellen, die sich aus wechselseitigen „Schwingungen“ (S. 296) erfolgreich konstituieren kann. Mit diesem Musik- und Theaterwissenschaft ergänzenden methodischen Instrumentarium gelingt es zur Nieden, die Ausführungen zur Entwurfs- und Konzeptionsphase des neuen Theaters erkenntnisreich mit Blick auf die kulturpolitischen Vorgaben zur Integration des Gebäudes in die sich verändernde Stadtstruktur vorzunehmen und zur heiklen Frage der Modifikation traditioneller Volkstheaterarchitekturen wie zur avisierten und letztlich auch erfolgten sozialen Publikumserweiterung Antworten zu geben. Den Schwerpunkt der Studie legt sie auf die verschiedenen Aufführungsgenres und analysiert wechselseitig Produktions- wie Rezeptionsverhalten vor den architektonischen wie atmosphärischen Maßgaben des Theaterraums des Châtelet. Dies führt vor allem im Kapitel über die Raumkonzeptionen der Sinfoniekonzerte, ihre zunehmend auch visuelle Aufbereitung und räumliche Klanginszenierung zu aufschlussreichen Ergebnissen und Erklärungsmodellen; sie erläutert beispielsweise, warum der postume Erfolg des sinfonischen Œuvres von Hector Berlioz letztlich ohne die Raumspezifik und -nutzung in den Concerts Colonne sich nicht in dieser Weise vollzogen hätte. Auch in den anderen untersuchten Genres greift der durch den Theaterraum gebundene, wechselseitige Blick auf Produktions- und Rezeptionsseite und die verschiedenen Bedingtheiten und Interaktionen diverser Gruppen im Raum; sei es nun anhand der rekonstruierbaren Dispositionen des künstlerischen Personals auf der Bühne (wie in der Feerie „Rothomago“, Kapitel 2.1.1.) oder der sozialen, auf Volksbildung der oberen Ränge ausgerichteten Zweiteilung der Zuschauer (S. 242ff.).

Anhand der Herausarbeitung von Rezeptionsmodellen, die sich für bestimmte Genres im Théâtre du Châtelet herausgebildet hätten, nimmt zur Nieden eine theoretische Fundierung ihrer Beobachtungen an den vorhandenen Aufführungsquellen vor. In diesem Zusammenhang erläutert sie aus der Raumspezifik des Theaters und aus seinen Aufführungen abgeleitete Konstituenten wie eine strenge Symmetrie von Bühne und Zuschauerraum (S. 66) sowie eine bühnenbildnerische wie musikalische Halbkreis- bzw. Bogenform (zum Beispiel S. 97 oder S. 124). Ein stichhaltiges Argument dafür, dass man tatsächlich von einer derartigen raumgebundenen Modellhaftigkeit der Rezeptionshaltung ausgehen kann, bleibt zur Nieden aber schuldig. Ihre Ausführungen, was genau das von Jacques Offenbach abgeleitete Rezeptionsmodell des „Rundtanzes“ (S. 124, 159) denn ist, das für das Genre der Feerie und darüber hinaus als Standardmodell dieses Theaters ins Feld geführt wird, vertiefen sich nicht zum Beweis einer Existenz, sondern bleiben Behauptungen. Das dieser Versuch einer genauen Definition von kollektiven Rezeptionsverhalten nicht wirklich sattelfest ist, deutet schon die attributive Fülle an, mit der zur Nieden begrifflich verfährt: Es gäbe ein „kreisförmiges“ (S. 114), ein „klassisches“ (S. 202), ein „französisches“ (S. 283), ein „romantisch schwingendes“ und ein „symmetrisches“ (S. 339) Rezeptionsmodell. Dem Verständnis dieses wichtigen Versuches zur Bestimmung von Rezeptionshaltungen wäre förderlich gewesen, ihm ein grundsätzliches Kapitel zu widmen, damit nicht die verschiedenen Modelldefinitionen quasi en passant in den Ergebnispassagen des Textes kurz aufscheinen. Dies umso mehr, da zur Nieden den Rezeptionsmodellen ein großes argumentatives Gewicht beimisst, indem sie den Erfolg einzelner Aufführungen auf die Deckungsgleichheit des Präsentierten mit einem vermeintlich stabilen und der Tendenz nach normativen Rezeptionsmodell zurückführt. So bewertet sie den Erfolg und Misserfolg avantgardistischer Ballette von Claude Debussy und Igor Strawinsky folgendermaßen: „Ein Vergleich zwischen Le Martyre de Saint Sébastien und Petrouchka macht in der Tat deutlich, dass […] absolut einfache geometrische Formen und ein Sinn für die Aufführungssituation im Theater nötig waren, die seit jeher das französische Rezeptionsmodell bestimmten und auf den ‚Rundtanz‘ und die Symmetrie als kulturelle Parameter des zweiten Kaiserreichs zurückgingen. Lediglich diese künstlerische Konzeption schien beim Pariser Publikum zum Erfolg zu führen, indem sie sogar beim Adelspublikum die ‚Schwingung‘ zwischen Bühne und Saal erzeugte.“ (S. 330)

Zwar wird mit dem Begriffskonstrukt Rezeptionsmodell die Komplexität der Aufführungssituation als Interaktion zwischen Bühne und Saal zentral gedacht, doch ist die Frage einer hinreichenden Definierbarkeit dieses Phänomens noch nicht beantwortet. Bevor hier nicht weitere Forschungen vorliegen, erscheint es angeraten, den Begriff der Stückdramaturgie nicht gänzlich zu vernachlässigen, mit dem besonders auch im Bereich des Unterhaltungsgenres wie der Feerie, der Revue oder dem Militärspektakel die Konstruiertheit und Wirkungsausrichtung einer beliebigen Aufführung hin auf eine vermutete, erhoffte oder vorausgesehene Erwartungshaltung eines lokalen Publikums beschreibbar und auswertbar wird. Eine Modellhaftigkeit von Stückdramaturgien lässt sich – anders als jene von Rezeptionshaltungen – an Quellen eindeutig verifizieren. Zur Nieden geht über weite Strecken ihrer Untersuchung auch genau diesen Weg und kombiniert musik- und theaterwissenschaftliche Analyseverfahren – allerdings unter sicher nicht unüberlegter, aber fraglicher Umgehung des Begriffs Dramaturgie.

Im Zuge ihrer Schlussbemerkung, in der die Bedeutung der Rezeptionsmodelle, ihre Modifikation bzw. Sedimentierung in 50 Jahren Volkstheater Châtelet resümiert und in die kommerzialisierte, laut zur Nieden eklektizistische Pariser Unterhaltungskultur der langen Jahrhundertwende einordnet wird, unterstreicht zur Nieden bestätigend die Bedeutung eines architektursoziologischen Ansatzes „als kulturell ‚dichte‘ Beschreibung aus mehreren Perspektiven.“ (S. 349) Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen, beweist doch ihre Studie eindringlich, wie der Komplexität des Ereignisses „Aufführung“ im Fadenkreuz von Theater-, Musik-, Kultur- und Architekturgeschichte souverän beizukommen ist. Aus der Interdisziplinarität kommend, ist zu wünschen, dass diese Untersuchung in alle Teildisziplinen bereichernd zurückwirkt und ähnlich strukturierte Theatergeschichten in (europäischen) Metropolen des 19. und 20. Jahrhunderts anregt, die der Frage nach Internationalität und Kulturtransfer des Theater- und Musiklebens einen neuen Grad der Vertiefung ermöglichen.

Anmerkung:
1 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001.

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