O. Dimbath u.a. (Hrsg.): Soziologie des Vergessens

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Titel
Soziologie des Vergessens. Theoretische Zugänge und empirische Forschungsfelder


Herausgeber
Dimbath, Oliver; Wehling, Peter
Reihe
Theorien und Methoden, Bd. 58
Erschienen
Konstanz 2011: UVK Verlag
Anzahl Seiten
362 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Feindt, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; Félix Krawatzek, Nuffield College, Department of Politics, University of Oxford; Daniela Mehler, Graduiertenkolleg „Kulturelle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa“, Friedrich-Schiller-Universität Jena; Friedemann Pestel, Geschichte des Romanischen Westeuropa, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Rieke Schäfer, Institut für Politikwissenschaft, Universität Hamburg

Während die Themen „Erinnerung“ und „Gedächtnis“ seit den 1980er-Jahren breit diskutiert werden, ist das „Vergessen“ ein weitgehend blinder Fleck geblieben – nicht nur in der Soziologie. Der von Oliver Dimbath und Peter Wehling herausgegebene Band „Soziologie des Vergessens“ beabsichtigt, den Gegenstand gerade für dieses Fach wiederzuentdecken und forschungspraktisch nutzbar zu machen. Die Relevanz eines solchen Vorhabens, auch über den disziplinären Rahmen des Bandes hinaus, zeigt sich besonders in den aktuellen Debatten zu Vergangenheitspolitik, digitalen Medien und Organisationsforschung. Vergessen als der „Verlust, das Verblassen oder auch das Verdrängen von etwas bereits Gewusstem“ (S. 17) konstituiert sich dabei als Komplementärphänomen, nicht in Dichotomie zum Erinnern. Entgegen dem präsentistischen Paradigma der traditionellen Soziologie lässt es sich nicht allein als ein momentanes Fehlen von Erinnerung fassen, sondern stellt eine temporalisierte Praxis des Sozialen dar. Zwischen digitaler Speicherung, physiologischer Zersetzung und schierem Informationsüberfluss gewinnt es für die Ambivalenzen einer komplexen Wissensgesellschaft an Bedeutung.

Als Konsequenz aus der Kritik an holistischen Konzeptionen des Sozialen wird Vergessen nicht als „kollektives Vergessen“ in Symmetrie zu Maurice Halbwachs’ „mémoire collective“ definiert. Vielmehr soll die Bezeichnung als „soziales Vergessen“ sowohl der Heterogenität sozialer Gruppen als auch der sozialen Reichweite des Phänomens gerecht werden. Auf der Basis dieser Profilierung des Themas als soziologischer Gegenstand verfolgen die Herausgeber und Beiträger das ambitionierte Ziel, dem Vergessen den Weg als soziologische Teildisziplin zu ebnen, einer Teildisziplin mit thematischen Bezügen vor allem zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, zur Technik- und Mediensoziologie und zur Politischen Soziologie.

Bevor im zweiten Teil des Bandes aktuelle Problemstellungen den forschungspraktischen Mehrwert des Ansatzes aufzeigen, konstruiert der erste Teil anhand der „Spuren“ (S. 25), die sich aus dem Werk soziologischer Klassiker rekonstruieren lassen, zunächst ein theoretisches Gerüst. Er besticht durch den durchgehend ähnlichen Aufbau aller einzelnen Aufsätze: Die Beiträge zu Maurice Halbwachs, Karl Mannheim, Alfred Schütz, Michel Foucault, Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu versammeln jeweils in einem ersten Abschnitt diejenigen Aspekte der Theorien der einzelnen Denker, die in einem zweiten Schritt die Rekonstruktion ihrer Vorstellung von Vergessen erlauben. Alle Aufsätze eruieren in einem dritten Abschnitt Implikationen für eine Soziologie des Vergessens, indem sie Brücken zu anderen Theorien schlagen oder eigene Weiterentwicklungen vornehmen.

Nun könnte ein solches Vorgehen an das erinnern, was Richard Rorty prominent als „doxography“ bezeichnete: Die eigenen Themen werden an die ‚üblichen Verdächtigen‘ des theoretischen Olymps einer Disziplin herangetragen und ihre Antworten zu einer Ideengeschichte des Problems zusammengelesen. Aber entgeht die „Soziologie des Vergessens“ der Gefahr des „boredom and despair“, die Rorty diesem Genre unterstellte? 1 Auch wenn die ersten Abschnitte der einzelnen Aufsätze für den soziologischen Leser größtenteils keine Überraschungen bereithalten, sind sie doch in ihrem einführenden Charakter für das interdisziplinäre Publikum der Erinnerungsforschung hilfreich. Durch ihre Gesamtschau werden Leitmotive sichtbar, die mit dem Begriff des Vergessens an die Erinnerungsforschung herangetragen werden, so beispielsweise der Bedarf nach einem überindividuellen Strukturkonzept, das einer zu statischen Vorstellung des Sozialen entkommt und dynamisch gedacht werden kann. Damit hängt auch die Frage zusammen, ob der Begriff des Vergessens nicht dennoch immer die Möglichkeit eines Zugriffs auf eine „Urimpression“ (so zum Beispiel Gerd Sebald über Schütz, S. 85) impliziert. Die Rekonstruktion der theoretischen Bausteine für die neue Teildisziplin erweist sich schlussendlich eher als eine Suche nach kanonischen Splittern, so dass sich dieses Verfahren letztlich an seiner theoriebildenden Erklärungskraft bemessen muss.

Welche Perspektiven für eine Soziologie des Vergessens zeigen also die innovativen letzten Abschnitte jedes Aufsatzes auf? Während Dimbaths Zweifel, ob diejenige Soziologie, die das Thema des Vergessens vielleicht am explizitesten zum Thema hat – die Systemtheorie Luhmanns – „auch über metaphorische Inspirationen hinaus ein Gewinn für die Soziologie des Vergessens sein kann“ (S. 163), zunächst pessimistisch stimmen, geben einzelne Beiträge doch vielversprechende theoretische Anregungen. So entwickelt Martin Endreß ausgehend vom Mannheimschen Generationskonzept ein dynamisches Verständnis von Vergessen, das nicht auf lineare Prozesse beschränkt bleibt. Rainer Keller plädiert dafür, die Komplexität des Phänomens durch Diskursanalyse aufzuschlüsseln.

Obschon die Herausgeber in der Einleitung in der selbstreflexiven Kontextualisierung der Vergessensthematik überzeugen, verliert sich dies leider in den rationalen und damit präsentistischen Rekonstruktionen der einzelnen Beiträge des Theorieteils wieder, deren Schlussfolgerungen für die neue Teildisziplin sich zum Teil erheblich von der Klassikerlektüre entfernen. Aufschlussreicher als der Maurice Halbwachs‘ Erinnerungstheorie implizite Vergessensbegriff wäre so möglicherweise die Frage gewesen, warum dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade nicht thematisiert wurde – und welche Bedeutung dieser Differenz für den aufkommenden Umschwung von „Erinnern“ auf „Vergessen“ zukommt. Dazu hätten jedoch die anklingenden Kontextualisierungen der Autoren in den Debatten ihrer Zeit systematischere Berücksichtigung finden müssen.

Die im zweiten Teil des Sammelbandes vorgestellten und nachfolgend exemplarisch ausgewählten empirischen Forschungsfelder reichen von sozial- und organisationssoziologischen über mediale, ethisch-juristische bis hin zu therapeutischen Fragestellungen. Überaus heterogene Vergessensbegriffe, die gerade technisches oder biologisches Vergessen stark machen, weisen auf die Breite der Ansätze in Theorie und Empirie hin – und unterstreichen damit nur einmal mehr die Notwendigkeit einer Konzeptualisierung.

Dariuš Zifonun leitet diesen Teil mit der Skizze einer Wissenssoziologie des Erinnerns und Vergessens ein, die er besonders aus Institutionen und deren Strategien im Umgang mit Wissen bezieht. Sehr anschaulich nimmt Dimbath in seiner Ausführung über den „wissenschaftlichen Oblivionismus“ die Funktionslogiken des Gedächtnisses der modernen Wissenschaft im Spannungsfeld von Wissensakkumulation, Wettbewerb und Selektion in den Blick. In strategischer Ignoranz und dem Nicht-Zitieren macht er ein Vergessensregime aus, das nicht-intendierte Nebenfolgen für wissenschaftliche Innovationspotentiale haben kann. Angela Kühner stellt der gegenwärtigen Erinnerungsobsession als unhinterfragtes Befolgen eingeübter Rituale und Vorstellungen das Vergessen als Kritik an Vergangenheitspolitik gegenüber. Sie illustriert, inwiefern die Frage nach dem Vergessen die Unsicherheit über den vermeintlich eindeutigen Zusammenhang zwischen Erinnern und Demokratie reflektiert. Am Beispiel der gegenwärtigen deutschen Erinnerungskultur zeigt sie auf, dass diese aus identitätsspezifischen Gründen ein stabiles, einheitliches Erinnern gegen „unerwünschtes“ Vergessen (S. 222) verteidige, ohne dabei für gesellschaftliche Wandlungsprozesse offen zu sein. Sie plädiert daher für eine unabgeschlossene, „reflexive Vergangenheitspolitik“ (S. 223f.). Demgegenüber behandelt Stephanie Porschen in ihrem Beitrag organisationssoziologische Fragestellungen und versteht Vergessen als erfolgloses Komplement zum Selektionsprozess des Erinnerns. Diese Betrachtung intentionalen und unbewussten Vergessens ergänzt sie um die Unterscheidung zwischen Vergessen und Verlernen. Dabei wird deutlich, dass die noch zu vertiefende Vergessensforschung weiterer Differenzierungen bedarf, um das Phänomen empirisch fassen zu können.

Im Ganzen bietet der Sammelband einen einsichtsreichen Überblick über ein junges, weiter zu erschließendes und vielversprechendes Forschungsfeld und sollte somit selbst nicht dem wissenschaftlichen Oblivionismus anheimfallen.

Anmerkung:
1 Richard Rorty, The Historiography of Philosophy: Four Genres, in: Richard Rorty/Jerome B. Schneewind/Quentin Skinner (Hrsg), Philosophy in history : essays on the historiography of philosophy, Cambridge 1984, S. 62.

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