J. Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin

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Titel
Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005


Autor(en)
Musekamp, Jan
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt 27
Erschienen
Wiesbaden 2010: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
423 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Hackmann, Institut für Geschichte und Internationale Beziehungen, Universität Szczecin

In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe von ostmitteleuropäischen Stadtgeschichten und Fallstudien vorgelegt, die sich mit der Kontinuität städtischer Topographien und den auf sie bezogenen Aneignungsprozessen nach den radikalen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Brüchen im 20. Jahrhundert befassen. Ein produktives Zentrum solcher Stadtgeschichtsschreibung ist die Viadrina in Frankfurt (Oder), an der Jan Musekamps Untersuchung zu Stettin als Dissertation entstanden ist. Die Tatsache, dass sie mit einem polnischen Wissenschaftspreis ausgezeichnet wurde, zeugt nicht zuletzt auch von dem öffentlichen Interesse an solchen Stadtmonographien.

Musekamp geht in seiner Darstellung dem Wandel Stettins von einer deutschen zu einer polnischen Stadt nach. Die landläufige Vorstellung, dass es sich bei den demographischen, politischen und kulturellen Umbrüchen um tragische und exzeptionelle Eingriffe in die historische Kontinuität des Ortes gehandelt habe, konfrontiert er mit einem vorangestellten Zitat von Italo Calvino aus den „Unsichtbaren Städten“, dass „zuweilen verschiedene Städte auf demselben Boden und mit dem demselben Namen aufeinander folgen“.1 Allerdings bringt Musekamps Darstellung dann doch nicht die Radikalität auf, diesen Blick auch für Stettin zu übernehmen.

Insgesamt geht es Musekamp, wie seine Periodisierung (1945-2005) und die Gliederung zeigt, weniger um die politischen Aspekte des Wandels, sondern eher um dessen Wirkungen auf die städtische Gesellschaft und die damit verbundenen kulturellen Deutungen. In knappen Kapiteln skizziert Musekamp zunächst den politischen Übergang der Stadt an Polen sowie ihre „Inbetriebnahme“, das heißt die Wiederherstellung von Infrastruktur und Wirtschaft. Dazu trägt er Fakten und Forschungsstände zusammen; es wären freilich auch Vertiefungen, etwa zum Führungspersonal der polnischen Inbesitznahme, möglich gewesen.

Diesen einführenden Skizzen folgen drei Hauptteile, die sich mit den Zwangsmigrationen der ersten Nachkriegsjahre, den kulturellen Aneignungen in der Epoche der Volksrepublik sowie dem Wandel von nationalen zu lokalen Identitätsdiskursen nach 1989 befassen. Mit Blick auf die Zwangsmigrationen weist Musekamp nicht nur auf das Nacheinander von deutscher und polnischer Bevölkerung, sondern auch auf das erzwungene Miteinander hin. Weitere Beobachtungen decken sich mit bereits an anderen Orten gewonnenen Befunden, etwa zu Zuwanderern aus Zentralpolen und polnischen Vertriebenen aus dem Osten. Hervorzuheben ist die Darstellung der jüdischen Zuwanderung nach Stettin nach Kriegsende, die Mitte 1946 mehr als 30.000 Personen umfasste, Stettin aber vor allem als Durchgangspunkt für die Auswanderung nach Übersee nutzen. Als Besonderheit Stettins unterstreicht Musekamp die als „Psychose der Vorläufigkeit“ (S. 122) bezeichnete Mentalität der Neuansiedler, deren gesellschaftliche und politische Bedingungen es freilich noch genauer zu untersuchen gilt. Offensichtlich hing diese Unsicherheit einerseits mit der Politik der Sowjetunion zusammen, Stettin etwa im Hinblick auf Demontagen als Ausläufer des sowjetisch besetzten Deutschland zu behandeln. Dazu kam andererseits, dass es – anders als in den übrigen polnischen Großstädten – praktische keine Translozierung von akademischen und künstlerischen Institutionen nach Stettin gab. Dieses Manko war bedeutsamer als das Problem einer Verdörflichung Stettins, die sich auch anderenorts stellte. In diesem Abschnitt geht Musekamp dann auch auf die Integration der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in eine neue Stadtgesellschaft ein. Allerdings rekapituliert er dabei vor allem Debatten, die – ähnlich wie in der Bundesrepublik – Produkt einer politisch motivierten Soziologie waren. Spannender wäre es hier gewesen, den „Typ des Stettiners“ etwa im Lichte der Protestwellen von 1956 bis 1980 zu beleuchten.

Das Kapitel zur kulturellen Aneignung der Stadt in der Epoche der Volksrepublik behandelt zunächst die Beseitigung deutscher Spuren im Stadtbild und geht dann ausführlich auf die Konstruktion von polnischen Mythen ein. Als solche nennt Musekamp den Mythos der mittelalterlichen piastischen Herrschaft, der lange Zeit auch die lokale Greifendynastie umfasste, sowie den Meeresmythos, der sich aus der Zweiten Republik herleitete. Neu hinzu kam schließlich der mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 verbundene Mythos der polnischen Pioniere. Während Musekamp die Analyse der Mythen auch theoretisch begründet, analysiert er die Aneignungsprozesse des kulturellen Erbes vor allem auf der Ebene praktischer Auseinandersetzungen. Detailliert geht er auf die Beseitigung und Ersetzung von Denkmälern ein, die insbesondere deshalb aussagekräftig ist, weil vielfach die Orte unverändert und zum Teil auch die materielle Basis erhalten geblieben sind und sich nur deren Inhalte änderten. Teilweise erhielten auch Denkmäler aus der Zeit vor 1945 eine neue Bedeutung im polnischen Stettin. Am augenfälligsten ist die Umdeutung des Kreuzes für die Toten des Kriegs 1870/71 auf dem Zentralfriedhof in einen Ort des Gegengedächtnisses, als es nach 1981 zu einem Ersatzdenkmal für die Toten des Aufstands von 1970 wurde. Ausführlich behandelt Musekamp auch die Umbenennungen von Straßen und Plätzen, die die Stettiner Innenstadt mehrfach mit radikal veränderten Bedeutungsnetzen überzog. Kurios ist dabei, dass die von ihm als Fehlinterpretation kritisierte Umbenennung der Hünerbeinstraße2 bis heute fortbesteht. Weitere Themen, die Musekamp untersucht, sind der Wiederaufbau der Stadt, wobei er ausführlich auf den Abriss des Stadttheaters eingeht, und die Beschäftigung mit der Stadt in literarischen Texten.

Die Abschnitte über die Zeit nach 1989 greifen die Pluralisierung der Erinnerungskultur anhand der Diskussionen über die Jubiläen 1993 (750 Jahre Stadtrecht) und 1995 (60 Jahre polnische Herrschaft) und die Rekonstruktion bzw. Retroversion der Altstadt unterhalb des Schlosses auf. Darin äußerte sich aber, anders als es manche der städtischen Politiker nach 1989 sahen, keine prinzipielle Abkehr von den Diskursen des polnischen Stettin, sondern es formte sich ein hybrides Bild städtischer Geschichte und Kultur, wie es sich auch im Umgang mit den Denkmälern und in der belletristischen Thematisierung der Stadt spiegelt. Dass in diesen Diskursen schwedische und russische Erinnerungslinien (Katharina II., Maria Fjodorowna) keine größere Rolle spielen, scheint allerdings nicht unbedingt auf politisch begründeter Verdrängung zu beruhen, sondern eher auf der schon allein quantitativen Dominanz der deutschen Bezüge.

Nicht ganz überzeugend sind Musekamps Ausführungen zur Erinnerungskultur der Stettiner Vertriebenenorganisationen. Hier nimmt er gewissermaßen eine polnische Perspektive ein, die ihre Integration in die städtischen Debatten als wünschenswert erachtet, während diese Kreise jedoch – bis auf wenige Ausnahmen – weitgehend hermetisch agieren und teilweise auch die Agenden aus der Zeit vor 1989 fortführen. Eine exemplarische kritische Analyse des von diesen Kreisen gezeichneten Stettinbildes wäre hilfreich gewesen. Vielleicht hätte die Untersuchung insgesamt mehr Gewicht auf die Frage legen können, die Musekamp in seiner Schlussbetrachtung anschneidet: warum die polnische Inbesitznahme Stettins ungleich schwieriger war als etwa in Danzig oder Breslau und welche Konsequenzen sich daraus für die Entwicklung der Stadt ergaben. Das soll jedoch die Gesamtleistung Musekamps in keiner Weise schmälern, nimmt er doch eine umsichtige und behutsame Vivisektion des polnischen Stettin vor, die die Vielschichtigkeit der Aneignungsprozesse seit 1945 vor Augen führt.

Anmerkungen:
1 Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, München 1985, S. 37, hier zit. nach Musekamp, S. 5.
2 Der Straßenname leitete sich von einem Familiennamen Hünerbein ab, wurde aber wörtlich als Hühnerbein (polnisch „Kurza stopka“) übertragen.

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