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Titel
Ordnungen des Verkehrs. Arbeit an der Moderne - deutsche und britische Verkehrsexpertise im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Schlimm, Anette
Reihe
Histoire 26
Anzahl Seiten
362 S., 22 Abb.
Preis
€ 35,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Klenke, Historisches Institut, Universität Paderborn

Während sich die Geschichtswissenschaft der jüngeren Geschichte des Verkehrs unter technisch-ökonomischem und politischem Aspekt bereits eingehend zugewandt hat, fehlte bislang eine systematische ideen- und diskursgeschichtliche Untersuchung. Dieser Forschungslücke nimmt sich die Oldenburger Dissertation von Anette Schlimm an, indem sie die verkehrswissenschaftlichen Diskurse in Deutschland und Großbritannien herausgreift. Ihr Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die 1960er-Jahre. Diese Eingrenzung hat ihren plausiblen Grund darin, dass sich die Autorin auf die im Schatten zweier Weltkriege stehenden Phasen marktskeptischer antiliberaler Theoriebildung in der Verkehrswissenschaft konzentrieren wollte. Der innovative Aspekt besteht darin, dass die Autorin das Thema zu kontextualisieren versucht: Sie richtet den Blick auf die gesellschaftspolitischen Bezüge der Verkehrswissenschaft und auf die Profilierungsstrategien der Verkehrsexperten.

Für die beiden untersuchten Länder wird eine Kontinuität des verkehrswissenschaftlichen Denkens belegt, die auf den Schlüsselkategorien „Ordnung“ und „Social Engineering“ basierte.1 Aus beiden Begriffen sprach eine ähnliche, antiliberal geprägte Perspektive – mit dem Ziel, der sozialen Ordnung gegen die Veränderungsdynamik des Markts über Planung und regulierte Modernisierung Stabilität zu verleihen. Seit den 1920er-Jahren gewann der motorisierte Straßenverkehr gegenüber dem Schienenverkehr mehr und mehr Einfluss, was den Ruf nach staatlicher Regulierung provozierte. Der Transformationsprozess im Verkehrswesen erzeugte, so eine zentrale These der Autorin, transnationale Gemeinsamkeiten in der Verkehrsexpertise. Nach dem Ersten Weltkrieg gab der Rekonstruktionsbedarf bei den Eisenbahnen betriebswirtschaftlichem Rationalisierungsdenken Auftrieb. In Deutschland bezog sich das auf ein von Raubbau und Reparationsverpflichtungen gezeichnetes staatliches Eisenbahnwesen, in Großbritannien auf vier konkurrierende Bahngesellschaften, die als freie Marktagenten unfähig zu sein schienen, ohne staatliche Regulierung den Kraftakt der erforderlichen Rationalisierungsmaßnahmen zu vollführen. Während zunächst im Sinne des Rationalisierungsgedankens ein isolierender Zugriff auf die einzelnen Verkehrssektoren vorherrschte, schob sich in beiden Ländern mit der zunehmenden Konkurrenz der Verkehrsträger deren Verhältnis zueinander ins Zentrum der theoretischen Überlegungen. Es ging dabei um die Frage, welcher Art von Verkehrsteilung und Wettbewerbssystem der Vorzug zu geben sei.

In Deutschland und in Großbritannien gleichermaßen entwickelte man Kriterien für „gute“ und „schlechte“ Verkehrsbedürfnisse im Rahmen eines „holistischen“ Ordnungsdenkens. Schlimm arbeitet gut nachvollziehbar heraus, dass man dem Verkehr einen Sonderstatus gegenüber der allgemein akzeptierten Marktregulation zuschrieb und das Gegeneinander von Schiene und Straße anders bewertete als die Konkurrenz von Anbietern auf sonstigen Märkten. Sichtbarer Ausdruck dessen war in Großbritannien 1947 die Verstaatlichung der Eisenbahnen: Man wollte die Effizienz des gesamten Verkehrswesens nicht dem Markt überlassen. Ähnlich erblickten auch die deutschen Akteure in einem ungebundenen Verkehrsmarkt eher die Gefahr von Fragmentierung und Chaos als die möglichen Chancen für den verkehrstechnischen Fortschritt. Der Verkehr wurde zum Abbild und tragenden Stützpfeiler der gesellschaftlichen Ordnung erklärt und dadurch massiv mit Aufgaben befrachtet, die raumordnungs- und gesellschaftspolitisch definiert wurden – mit Blick auf die Gefahren der modernen Massengesellschaft. Der Erfahrungshintergrund war ein Zeitalter von Krieg, Bürgerkrieg und totalitären Bewegungen. Leider klingt dieser Kontext in der Studie nur flüchtig an.

Mit gesellschaftspolitischen Vorstellungen von Verkehr, Raum und Massengesellschaft verbanden sich, so eine weitere Kernthese der Autorin, diskursive Profilierungsstrategien der Verkehrsexperten. Ein markantes Datum war die Gründung des Londoner „Institute of Transport“ (1919), das Verkehrspraktiker als Verein zum Zwecke der Professionalisierung und Fortbildung ins Leben riefen. Das Gegenstück in Deutschland, das 1921 in Köln gegründete „Institut für Verkehrswissenschaft“, finanzierte sich bis weit in die 1930er-Jahre trotz enger organisatorischer Anbindung an die Universität Köln ebenfalls weitgehend über private Geldgeber. Die organisatorischen Unterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien – hier akademisierte Verkehrswissenschaft, dort Selbstorganisation von Praktikern – wirkten sich nur unwesentlich auf die verkehrswissenschaftlichen Diskurse aus. Vorherrschend war ein gesamtnationales, auf machtpolitische Selbstbehauptung gerichtetes Modernisierungsinteresse, das die Gesamtheit des Verkehrs in den Blick nahm. Beide Institute hatten sich zudem mit starker interessenpolitischer Einflussnahme auseinanderzusetzen, die man in Köln und London auf je eigene Weise zu neutralisieren suchte. War es bei der Kölner Neugründung der akademische Habitus, der darauf Wert legte, dass der einzelne Wissenschaftler trotz eines gewissen Außendrucks ein Höchstmaß an interessendistanzierter Betrachtung anzustreben habe, so setzte das Londoner Institut auf den Austausch kontroverser Meinungen zu Verkehrsfragen. Nicht der einzelne Experte, sondern die Institution sollte die gewünschte Ausgewogenheit herstellen. Dahinter lauerte, so eine weitere plausible Analyseebene der Studie, die Frage der Finanzierung von verkehrspolitischer Expertise. Kam die Forschungsförderung von staatlichen Stellen, konnte die Verkehrswissenschaft unabhängiger agieren, als wenn private Geldgeber im Spiel waren, die sich des pejorativ eingefärbten Etiketts der „Interessenten“ zu erwehren hatten.

Anscheinend konnten sich die deutschen Verkehrswissenschaftler gegenüber staatlichen Stellen auch nach 1933 noch eine gewisse Unabhängigkeit bewahren. Hier muss allerdings offen bleiben, ob dieser Befund Schlimms empirisch hinreichend abgesichert ist. Jedenfalls fühlten sich die deutschen Verkehrsexperten in solch hohem Maße einem gesellschaftspolitischen Harmonieideal verpflichtet, dass sie aus der Sicht der Autorin nach 1933 ohne Mühe der nationalsozialistischen Ideologie folgen konnten. Mit anderen Worten: Die Gefahr anzuecken war selbst dann nicht allzu groß, wenn man nach subjektivem Empfinden unabhängig forschte.

Die Richtschnur war für die britischen wie deutschen Verkehrsexperten das Allgemeinwohl. Bei den Briten herrschte das Leitbild „public utility“ vor, wonach der Staat als Verkehrsunternehmer in Lücken einzuspringen hatte, wenn es keine privaten Anbieter für notwendige Gemeinschaftsaufgaben wie etwa die Verkehrsversorgung abgelegener Regionen gab. In Deutschland hingegen machte das Konzept „Gemeinwirtschaftlichkeit“ Karriere, das staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen gestattete, um den privatwirtschaftlich handelnden Verkehrsträgern im Interesse der Allgemeinheit Rechte und Pflichten aufzuerlegen, die jenseits des marktgebundenen Gewinnstrebens zu verorten waren. Seinen Niederschlag fand dies unter anderem in einer kosten- und nachfrageunabhängigen Preisgestaltung in komplexen Tarifsystemen, die abgelegene, dünn besiedelte Regionen und sozial Schwächere unterstützten. Das Konzept der Gemeinwirtschaftlichkeit legitimierte einen ordnungspolitischen Zugriff auf das Verkehrswesen. Allen Unterschieden zum Trotz stand in beiden Ländern hinter den Konzepten der Ruf nach dem verkehrspolitisch „starken Staat“.

Probleme bereitete seit den späten 1920er-Jahren vor allem die Verschärfung der Konkurrenz zwischen Schiene und Straße. Man erblickte eine systemische Widersinnigkeit in der Parallelität von wachsenden Bahndefiziten und expandierender Kraftfahrt sowie in den Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Konkurrenten. Es verbreitete sich die Vorstellung eines ruinösen Wettbewerbs, der nach der lenkenden Hand des Staates schreie. Es wurde das Ideal des gerechten Wettbewerbs vertreten, wobei man jedoch nicht genau wusste, wie eine optimale Wettbewerbsordnung einzurichten sei. Einig war man sich nur darüber, dass die historisch bedingten Unterschiede bei den Wettbewerbsvoraussetzungen nach einem Ausgleich verlangten. Hier machten die Briten trotz ihrer freihändlerischen Tradition keine Ausnahme, weil auch sie das Strukturproblem des Wettbewerbs zwischen alten und neuen Verkehrsträgern zu bewältigen hatten. In beiden Ländern gab es harte dirigistische Eingriffe in den Markt, in Großbritannien etwa die stark restriktive Lizensierung des Güterfernverkehrs auf der Straße in den frühen 1930er-Jahren. In Deutschland baute das NS-Regime einen Zwangsverband für alle Fuhrunternehmer auf, um die Schiene-Straße-Konkurrenz zu regulieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erblickte man in der Bundesrepublik in einem politisch sanktionierten Tarifkorsett des Fernverkehrs ein unabdingbares Bindemittel zwischen den Großräumen, die dezentral angeordnet sein sollten, und darüber hinaus ein wirksames Mittel, die Schiene-Straße-Konkurrenz einzudämmen. Dieses Denken hat die zeitgeschichtliche Forschung bislang zu sehr rechtskonservativen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit zugeschrieben, wie Schlimm mit Recht hervorhebt. In Wirklichkeit war es erheblich breiter verankert, wobei sich die britischen Verkehrsexperten gegenüber autoritären Eingriffen eine größere Skepsis bewahrten als die deutschen.

Die Studie endet mit den 1960er-Jahren, in denen sich in der westlichen Welt auf breiter Front ein neues Ordnungsdenken anbahnte, dass nicht mehr im Bann des allmählich abebbenden Schiene-Straße-Konflikts stand und kaum mehr auf organizistische, die Marktkräfte eindämmende Ordnungsvorstellungen für den Verkehr abhob. Zu Leitbegriffen wurden nunmehr der individuelle Verkehrsbedarf und eine marktökonomische Rationalität, die vom individuellen Willen zur Kostenübernahme geprägt war. Dass bei diesem Übergang ein hoher Preis im Hinblick auf die ungedeckten sozialen und ökologischen Kosten des Verkehrs gezahlt wurde, wird in der Studie nicht mehr angesprochen. Damit wäre ein neues thematisches Tor aufgestoßen worden.

Anette Schlimms Arbeit lässt sich mit großem Gewinn lesen, wenn man sich für den Zusammenhang zwischen Professionalisierungsprozessen und diskursiven Konstruktionen gesellschaftspolitischer Leitbilder durch Expertenkreise interessiert. Ein Erklärungsdefizit zeigt sich dort, wo nach einer umfassenderen Verbindung zwischen verkehrswissenschaftlichen Leitbildern und allgemeiner Gesellschaftsgeschichte gefragt wird. Auch die Analyse des Verhältnisses zwischen Verkehrsexpertise und Verkehrspolitik bleibt eher blass und würde sich als Thema weiterer Forschungen anbieten – nicht zuletzt wegen der zahlreichen Gegenwartsbezüge.

Anmerkung:
1 Zum breiteren Zusammenhang der Forschungen, aus dem das hier besprochene Buch hervorgegangen ist, siehe v.a. Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, rezensiert von Christian Geulen, in H-Soz-u-Kult, 20.1.2010 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-1-044> (29.1.2012).