Titel
Kulturen der Gesundheit: Sinnerleben im Umgang mit psychischem Kranksein. Eine Anthropologie der Gesundheitsförderung


Autor(en)
Wiencke, Markus
Reihe
Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Milena Bister, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin Email:

Das Phänomen der Chronifizierung von schizophrenen Krankheitszuständen ist seit mittlerweile einem halben Jahrhundert zentrales Thema der psychiatrischen Versorgung wie auch ihrer gesellschaftlichen Kritik. Statt sich einer weiteren Analyse möglicher Ursachen und Effekte eines anhaltenden Krankheitsbildes zu verschreiben, dreht Markus Wiencke in seiner am Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie der Freien Universität Berlin verfassten Dissertation den Spieß um und fragt, wie therapeutische Settings zur Gesundheitsförderung der Betroffenen beitragen können. „Gesundheit“ spiegelt dabei in Wienckes Analyse keinen medizinischen Befund, sondern vielmehr eine subjektive Konstruktion, die aus dem jeweiligen emotionalen, körperlichen und sozialen Erleben resultiert. Entsprechend der Lücken des psychologischen Forschungsstandes, den Wiencke ausführlich zur Entwicklung seiner Forschungsfrage aufarbeitet, widmet er sich insbesondere der Rolle von sozialen Sinngebungsprozessen in der Bewältigung chronisch psychischer Krankheit. Damit setzt er seinen Fokus auf die therapeutische Bedeutung subjektiven Erlebens „in Gemeinschaft“ und zeigt empirisch auf, wie eine sozial vermittelte Sinnstiftung zur Steigerung des persönlichen Gesundheitsempfindens beitragen kann.

Entsprechend seines ethnographisch-psychologischen Zugriffs wählt Wiencke drei sozial stark divergierende Untersuchungsorte, die eindrucksvoll veranschaulichen, wie die Beurteilung psychischer Krankheit sowohl individuell als auch gesellschaftlich von kulturell plausiblen Interpretationen geleitet wird: Zwei Candomblé / Umbanda-Tempel in Brasilien, eine psychosomatische Klinik in Deutschland und die Gemeindepsychiatrie für die Mapuche in Chile. Durch eine detailreiche Erklärung, Darstellung und Analyse dieser drei Settings bietet Wiencke einen außerordentlich spannenden Einblick in die vielfältigen Therapiemöglichkeiten psychischer Belastungen. Auf Basis qualitativ-interpretativer Forschungsarbeit in diesen Settings entwickelt Wiencke das setting-übergreifende Konzept des „geteilten Sinnerlebens“. Dieses verdeutlicht, wie der soziale Kontext der Untersuchungsfelder den Betroffenen eine emotionale und körperliche Teilnahme ermöglicht, die sich gesundheitsfördernd auf den alltäglichen Umgang mit krankheitsbedingten Umbrüchen auswirkt. Somit betont Wiencke ausdrücklich die Bedeutung sinnlicher und spiritueller Erfahrungen in sozialen Gruppen für das individuelle Empfinden gesteigerter Gesundheit. Dabei überraschen am Ende der Lektüre die Parallelen im Erleben und Interpretieren der Rituale und Praktiken in den differenten Untersuchungsorten. Eine umfassende Diskussion der Unterschiede und Grenzen des Vergleichs wäre allerdings hilfreich, um die Konsequenzen des erarbeiteten Konzepts der Gesundheitsförderung genauer festlegen zu können.

Methodologisch nimmt die Arbeit eine vom Autor vermutlich ursprünglich unintendierte Wende: Während Wiencke angibt, „performative Praktiken“ der Gesundheitsförderung und somit eine Theorie des Handelns erarbeiten zu wollen, liegt meines Erachtens die Stärke der Studie in der Interviewarbeit, die Wiencke entsprechend genau und reflektiert diskutiert. Während seine (teilnehmenden) Beobachtungen im Text Beschreibungen der setting-spezifischen Praktiken liefern, erschließt Wiencke die Bedeutungen dieser Praktiken analytisch über die in den Interviews vermittelten Interpretationen. Das analytische Fundament seines Konzepts der Gesundheitsförderung als soziales Geschehen bilden daher Gespräche, nicht Beobachtungen. Dies zeigt sich vor allem daran, dass Wiencke die geführten Interviews nicht als von den Praktiken entfernte Narrative, sondern als Erklärungsmuster der beobachteten Praxisformen interpretiert.

Insgesamt liefert Wiencke eine eindrucksvolle setting-übergreifende Analyse individueller Sinnstiftung, die sich – auf kollektiv-sinnlicher Bedeutungsgebung fußend – positiv auf die Entwicklung der eigenen Gesundheit auswirken kann. Wienckes gelungene empirische Auseinandersetzung mit den gesundheitssteigernden Effekten geteilten Sinnerlebens sei daher allen LeserInnen empfohlen, die sich mit den Verschränkungen von Sinn und Bedeutung, Individuum und Gesellschaft sowie Praktiken und Diskursen insbesondere, aber nicht nur, im Kontext der Behandlung psychischer Belastungen befassen.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/