Titel
Political Violence in Twentieth-Century Europe.


Herausgeber
Bloxham, Donald; Gerwarth, Robert
Erschienen
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
£ 19,99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Dirk Schumann, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen

Das Interesse der historischen Forschung an zwischen- wie innerstaatlicher Gewalt im „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm) ist ungebrochen. Dabei haben jüngere Arbeiten zu kolonialen Gewaltpraktiken den Zäsurcharakter des Ersten Weltkriegs weniger ausgeprägt erscheinen lassen.1 Der vorliegende Sammelband setzt hier an, will aber keine neuen empirischen Befunde vorlegen, sondern verfolgt das weit ambitioniertere Ziel, einen systematisierenden und konzeptionell innovativen Beitrag zur Forschungsdebatte zu liefern. Von herkömmlichen Zugriffen auf die Gewalt im 20. Jahrhundert grenzt er sich in dreifacher Weise ab: Erstens definieren die Verfasser politische Gewalt sehr breit, indem sie Krieg, Genozid, Terrorismus und dessen staatliche Repression ebenso einschließen wie revolutionäre und gegenrevolutionäre Gewalt, somit also alle Formen von Gewalt, die „decisive socio-political control or change“ zum Ziel haben. Das ist in der Tat ein sehr breiter Begriff, der weit über die zumeist übliche (und auch mit dem Titelbild des Bandes suggerierte) Fokussierung auf innerstaatliche Gewaltformen hinausgeht. Zugleich ist er jedoch in doppelter Weise enger. Zum einen verzichten die Verfasser auf die Einbeziehung der als analytisches Konzept gewiss untauglichen „strukturellen Gewalt“, zum anderen aber blenden sie die im Kontext von Arbeitskämpfen sich entwickelnde Gewalt ausdrücklich aus, da sie im allgemeinen nicht auf Systemveränderung ziele. Damit gerät freilich der Klassenkonflikt selbst gegenüber seiner Ausprägung als Konflikt mit dem Staat in den Hintergrund. Zweitens wählen die Verfasser eine weite geographische Perspektive auf Europa, die vor allem auch den ost- und südosteuropäischen Raum einschließt, womit außer den „bloodlands“ (T. Snyder) zwischen Polen und Russland auch der Balkan als gewaltgenerierende Region in den Blick gerät. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass drittens das 20. Jahrhundert als „langes“ Jahrhundert gefasst wird, dessen Beginn die Verfasser um 1880 ansetzen, womit sie eben nicht, wie in der älteren Gewaltforschung etwa bei Mosse und Hobsbawm, den Ersten Weltkrieg zur scheinbar alles erklärenden „Urkatastrophe“ mystifizieren. So kann die Rolle der zweiten Phase kolonialer Expansion und der Balkankriege für die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts unterstrichen werden. Der Band nimmt damit den „imperial“ und den „global turn“ der jüngeren Zeit auf und versucht, die Gewaltgeschichte Europas von der Peripherie her in neuem Licht zu sehen. Das Resultat ist in vieler Hinsicht erhellend, macht aber eher größere Gewaltkontexte als neue Kausalitäten sichtbar.

Die beiden Herausgeber, die selbst jeweils zwei Beiträge mitverfasst haben, und die übrigen fünf Autoren sind alle herausragend ausgewiesene Experten für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, vornehmlich allerdings für die deutsche und westeuropäische Geschichte. Ein einleitender Aufsatz, den alle Autoren mitverfasst haben (außer dem vor Fertigstellung des Bandes verstorbenen James McMillan) bestimmt den spezifischen Ort Europas in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, vier weitere Beiträge untersuchen zentrale Aspekte politischer Gewalt: Krieg (James McMillan), Genozid und ethnische Säuberung (Donald Bloxham und A. Dirk Moses), Revolution und Konterrevolution (Martin Conway und Robert Gerwarth), Terrorismus und Staat (Heinz-Gerhard Haupt und Klaus Weinhauer). Im einleitenden Aufsatz setzen sich die Autoren von hergebrachten Herangehensweisen ab, die den Ersten Weltkrieg und die totalitären Ideologien der Zwischenkriegszeit als die eigentlichen Triebkräfte der politischen Gewalt des 20. Jahrhunderts bestimmten. Stattdessen rücken der Staat und das internationale Staatensystem ins Zentrum der Analyse. Demnach generierten folgende Faktoren die Gewalt: Der auf ethnische Homogenität zielende Nationalismus in den sich herausbildenden und unter Modernisierungsdruck stehenden Nationalstaaten sowie die Konkurrenz der Imperien, die die landbasierten unter ihnen unter besonderen Druck setzte, der sich dann nach außen oder nach innen entladen konnte. Mit diesem etwa an Michael Mann anschließenden Konzept lässt sich die Gewalt an der (süd-)östlichen Peripherie Europas durchaus plausibel erklären und die sonst betonte Zäsur von 1945 unter Verweis auf die Balkankriege der 1990er-Jahre überzeugend relativieren. Allerdings – und das ist den Autoren auch bewusst – trägt dies wenig zur Erklärung der von Deutschland ausgehenden und im Holocaust kulminierenden Gewalt bei, zumal wenn darauf verwiesen wird, dass sich in den Kolonien gemeineuropäische Gewaltpraktiken herausbildeten, die aber gerade nicht als auf Europa selbst übertragbar angesehen wurden. Mit dem Verweis auf den als kontinentalen Kolonialraum anvisierten Osten ist allenfalls ein Teil der Gewaltdynamik des NS-Regimes erklärbar.

James McMillan versucht in seinem, an Herbert Butterfield und jüngere französische Arbeiten anschließenden Beitrag (der gänzlich ohne Bezug zur deutschsprachigen Forschung auskommt), die Entgrenzung der Gewalt in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts mit der Herausbildung einer „Kriegskultur“ zu erklären, die Kriegführung als Teil einer „Zivilisierungsmission“ verstand und damit ideologisch, vor allem aber auch religiös auflud und so die Grenzen zwischen Kolonialkrieg und dem Krieg zwischen europäischen Mächten verschwimmen ließ. Der Ansatz (der im übrigen den expliziten Staatsbezug der anderen Aufsätze nicht aufweist) hat den Vorzug, das Verhältnis von Religion und kriegerischer Gewalt in eine längerfristige Perspektive zu stellen und die Neupositionierung der Kirchen im Kalten Krieg, die die Versöhnung zwischen den Gegnern des Zweiten Weltkriegs mit Antikommunismus, aber auch mit dezidiertem Pazifismus verband, in ein neues Licht zu rücken. Als Erklärung für die Entgrenzung kriegerischer Gewalt erscheint er aber doch zu monokausal und die gruppendynamischen Faktoren negierend, die etwa Christopher Browning für die „ganz normalen Männer“ als Exekutoren des Holocaust herausgearbeitet hat. Ertragreicher sind die Überlegungen von Donald Bloxham und Dirk Moses zu Völkermord und ethnischen Säuberungen. Sie wenden sich überzeugend gegen eine Interpretationslinie, die diese Art von Gewalt als zwangsläufiges Resultat radikalnationalistischer Ausgrenzung von Minderheiten versteht. Stattdessen betonen sie konkrete machtpolitische Zusammenhänge, die Angst vor „Fünften Kolonnen“ des Feindes, die etwa im Ersten Weltkrieg die Armenier zum Genozidopfer und danach, nicht zuletzt aufgrund britischer Einmischung, die griechische Minderheit in der Türkei zum Verfolgungsopfer werden ließen, während andererseits in den Balkankriegen nach 1990 bosnische Moslems zur Zielscheibe serbischer Attacken wurden, in Serbien selbst lebende Moslems aber unbehelligt blieben. Auch den als kumulativen Prozess verstandenen Holocaust ordnen Bloxham und Moses diesem Muster zu, da er zunächst die in Osteuropa, dem für deutsche Expansion vorgesehenen Territorium, lebenden Juden betraf. Hier stößt das Erklärungsmodell freilich an seine auch von den Autoren eingeräumten Grenzen, zumal es auch die aus lokalen Zusammenhängen zu erklärende und sich in Pogromen manifestierende Gewalt „von unten“ in den Hintergrund treten lässt. Sein Verdienst ist es aber, vor jeglicher Essentialisierung von Ethnizität zu warnen und das Großmachtinteresse an stabilen, durch keinen Irredentismus bedrohten Grenzen in Europa als wichtigen Faktor bei der Genese und Tolerierung ethnischer Säuberungen hervorzuheben.

Martin Conway und Robert Gerwarth grenzen sich in ihrem Beitrag von Arno Mayer ab, der einen notwendigen Zusammenhang zwischen Revolution und Gewalt postuliert hat. Sie schlagen dagegen eine situative Erklärung revolutionärer Gewalt vor, in der die Expansion des modernen Staates an der europäischen Peripherie seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und die damit einhergehende Ausbildung von Kulturen (innen)politischer Gewalt, die im Extremfall revolutionäre Form annehmen konnte, die zentralen Faktoren bilden. Anregend sind auch hier wieder die vergleichenden Überlegungen zu (Süd-)Osteuropa, etwa die Beobachtung, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kommunistische Bewegungen dort eine gewaltsame Revolution versuchten (etwa in Jugoslawien), wo sie auf eine Vorkriegskultur der Gewalt aufbauen konnten, während in der Tschechoslowakei dies nicht versucht wurde, da kommunistische Gewalt nur im Widerstand gegen die deutsche Besatzung als erlaubtes Mittel gegolten hatte. Eher überblickshaften Charakter hat der letzte Beitrag des Bandes von Heinz Gerhard Haupt und Klaus Weinhauer, der die Entwicklung des modernen Terrorismus als an den Funktionszuwachs und die Repressionsformen des modernen Staates gebunden beschreibt und ihn als Kommunikationsstrategie an Stärke verlierender sozialer Bewegungen versteht. Hervorgehoben wird die Diskontinuität des Terrorismus über das 20. Jahrhundert hinweg und seine Verortung in spezifischen nationalen Protestkulturen.

Da die Forschung zur europäischen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts sich kaum mehr überschauen lässt, ist es zu begrüßen, dass die Verfasser des Sammelbandes den Mut gehabt haben, eine pointierte Synthese vorzulegen, deren Verdienst vor allem darin liegt, die Gewalt in den Kolonien und an der Peripherie Europas über die Fokussierung auf den Staat in einen Zusammenhang zu bringen und zur Dekonstruktion des Mythos von der epochalen Zäsur des Ersten Weltkriegs beizutragen. Mit der gewählten Definition politischer Gewalt und der Fixierung auf den Staat und die auf ihn einwirkenden Modernisierungszwänge des internationalen Systems treten freilich soziale Konflikte, kulturelle Deutungsleistungen und lokale Zusammenhänge als Faktoren der Gewaltgenese in den Hintergrund. Auch wird man bedauern können, dass die USA als zwar nicht europäischer, doch wesentlicher weltpolitischer Akteur nur en passant Erwähnung finden. Gleichwohl wird jede künftige Arbeit zu transnationalen Aspekten der europäischen Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert von den zahlreichen Anregungen dieses Bandes profitieren können.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Isabel V. Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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