N. Jansen u.a. (Hrsg.): Gewohnheit, Gebot, Gesetz

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Titel
Gewohnheit, Gebot, Gesetz. Normativität in Geschichte und Gegenwart: eine Einführung


Herausgeber
Jansen, Nils; Oestmann, Peter
Erschienen
Tübingen 2011: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XXII, 366 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Grollmann, Juristische Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität München

Im Band sind die Beiträge von 13 Autoren unterschiedlicher fachlicher Herkunft versammelt, die im Rahmen einer Vorlesungsreihe an der Universität Münster vorgetragen wurden. Fast alle Beteiligten waren Mitglieder oder Gäste am geisteswissenschaftlichen Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“. Laut den Herausgebern Peter Oestmann und Nils Jansen will das Werk den Lesern einen „Überblick über die Kernprobleme der gegenwärtigen Debatten“ (S. IX) zur Normativität verschaffen, wobei sie auch einen „Eindruck von der faszinierenden Welt der Normen“ (S. IXf.) gewinnen sollen. Jansen und Oestmann stören sich insbesondere daran, dass die entsprechenden wissenschaftlichen Auseinandersetzungen ungeachtet deren großer Bedeutung meist innerdisziplinär ausgetragen und nicht ins Verhältnis zueinander gesetzt werden (S. VII). Den Sinn der Befassung mit den historischen Formen von Normativität für die Gegenwart sehen sie beispielsweise in der Verdeutlichung solcher heutzutage entfallener Möglichkeiten zur Normbegründung, welche in einer religiös legitimierten Herrschaft zur Verfügung standen, aber in einer Gesellschaft mit pluralisierten Glaubensvorstellungen verschlossen sind (S. VIII). Zudem werfen die Herausgeber die Frage auf, ob sich frühere Erwartungshorizonte insofern von der Gegenwart unterschieden, als jene Ambiguität im rechtlichen Bereich tolerierten (S. IX).

In Umsetzung dieser Überlegungen besteht der Sammelband aus acht historischen und fünf systematischen Abhandlungen, wobei die ersteren überwiegend die Eigenarten vergangener normativer Vorstellungen herausarbeiten, während die letzteren die gegenwärtige „Begründung bzw. Geltung von rechtlichen und moralischen Geboten sowie theologischen Glaubenssätzen“ (S. X) erörtern. Ulrich Berges beschäftigt sich mit dem Verhältnis von altisraelitischem Recht und der Vorstellung von Jhwh (S. 1–26). Gerd Althoff beleuchtet hochmittelalterliche Praktiken der Ordnungsstiftung in Bezug auf die Forschungsbegriffe „Rechtsgewohnheiten“ und „Spielregeln der Politik“ (S. 27–52). Anhand einer päpstlichen Stellungnahme zu einem frühmittelalterlichen Erbstreit verdeutlicht Wolfgang Kaiser den damaligen Umgang mit schriftlichem Recht, welcher mit modernen Vorstellungen von Normgeltung in Widerspruch steht (S. 53–72). Sita Steckel behandelt die mittelalterliche Veränderung sowie Bildung von Normen anhand des Vorgehens gegen als Häretiker angesehene Personen (S. 73–98). Peter Oestmann liefert eine Einführung in die Rechtsvielfalt im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit unter dem Gesichtspunkt der Dichotomie von gelehrtem und ungelehrtem Recht (S. 99–123). Das Interesse von Nils Jansen gilt den antreibenden Faktoren von Dogmatisierungsprozessen, wie zum Beispiel der Etablierung von Textautoritäten (S. 124–154). Thomas Bauer betreibt Aufklärung im besten Sinne des Wortes, indem er das verbreitete Bild von der Sakralität und Totalität des islamischen Rechts korrigiert (S. 155–180). Am Schnittpunkt zwischen dem historischen und systematischen Teil des Sammelbands bespricht Joachim Rückert den Funktionswandel und Bedeutungszuwachs des Begriffs der Abwägung in Methodenlehre und Rechtsprechung des 20. Jahrhunderts und zeigt im Hinblick auf die damit einhergehende Spannung zum Aspekt der Normenstrenge Alternativen bei der wissenschaftlichen wie forensischen Ausdifferenzierung des Rechtsstoffs auf (S. 181–220). Thomas Gutmann hinterfragt, wie es zu der Säkularisierung der im christlich-theologischen Rahmen gebildeten, wesentlichen Bausteine der normativen Moderne kam (S. 221–248). Ludwig Siep illustriert die praktisch-philosophische Begründung von Normen mithilfe der idealtypischen Unterscheidung in handlungsinterne und handlungsexterne Normen (S. 249–274). Im Mittelpunkt des Beitrags von Christian Walter steht die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts angesichts gewandelter religiöser Verhältnisse (S. 275–300). Matthias Caspar fügt in Ergänzung des Beitrags von Thomas Bauer der Betrachtung von Flexibilität im islamischen Rechtskreis ein weiteres Kapitel hinzu, wenn er Normgeltung am Beispiel des Islamic Finance und Normumgehung am Beispiel des koranischen Zinsverbots traktiert (S. 301–328). Der Band schließt mit den Überlegungen von Perry Schmidt-Leukel zu einem gewichtigen Thema der Gegenwart, nämlich der Frage, ob es das Christentum im Lichte der vergleichsweise jungen theologischen Strömung des Pluralismus ermöglicht, andere Religionen als verschieden, aber prinzipiell gleichwertig anzuerkennen (S. 329–354).

Es ist an dieser Stelle nicht ansatzweise möglich eine Autopsie dieser Beiträge vorzunehmen. Stattdessen sollen knapp einige Beobachtungen exemplarisch hervorgehoben werden, um die Eigenarten der Publikation zu verdeutlichen. In fruchtvoller Ergänzung zu der nicht allzu selten auftretenden Orientierung rechtsgeschichtlicher Einführungen am Fluchtpunkt des – für frühere Zeiten gegebenenfalls in Anführungszeichen zu setzenden – Staats öffnet der Sammelband den Blick auf andere Träger der Rechtskultur wie Gelehrte (Nils Jansen, hier S. 134f., 142ff.), Kirche (Sita Steckel) oder Anwälte (Peter Oestmann, hier S. 115f.). Wünschenswert wäre vielleicht noch die Aufnahme eines Beitrags zur spezifischen Normativität von Genossenschaften, wie zum Beispiel Universitäten, Kommunen, Zünfte und Gilden, gewesen, um die Vielschichtigkeit älteren Rechts noch intensiver zu vermitteln, auch wenn der Publikation zugegebenermaßen letztlich auch platzökonomische Grenzen gesteckt sind. Die Pluralität der Rechtskreise, und das bedeutet vor allem „kleinräumige Rechtszersplitterung“ (S. 107), wird besonders augenfällig im hilfreichen Überblick von Oestmann und der darin integrierten Darstellung der gemeinrechtlichen Rechtsanwendungslehre. Abwechslungsreich für den am modernen Recht geschulten Juristen ist zudem die Erläuterung solcher im hochmittelalterlichen königlich-höfischen Kontext beobachtbaren, nicht schriftlich vorgegebenen Verhaltensweisen im Spannungsfeld zwischen Politik und Recht, welche der Bewältigung von Konflikten dienten.1 Aufschlussreiche Beobachtungen enthält der Band auch zu manchen der Moderne fernstehenden Anwendungsmodalitäten von Recht, wie zum Beispiel das Heranziehen solcher Normen, deren „Geltung“ dem zeitgenössischen Personalitätsprinzip zuwiderzulaufen schien, durch den am Ende des Frühmittelalters amtierenden Papst Johannes VIII. (Wolfgang Kaiser) oder die Schwierigkeiten bei der Einzelfallanwendung im Rahmen des islamischen Rechts infolge seines nicht restlos eindeutigen sowie unvollständigen hermeneutisch-theoretischen Überbaus (Thomas Bauer). Eine über das thematische Anliegen hinausweisende Bedeutung für die Methodik besitzt der Beitrag von Joachim Rückert zur primär vom Bundesverfassungsgericht vorangetriebenen Bedeutung von Entscheidung durch Abwägung, indem einer dogmatischen Entwicklung durch ihre historische Kontextualisierung neue Seiten abgewonnen werden.2

Das Werk stellt nicht zuletzt wegen der Herausgabe in Form eines Sammelbands, welche die anregende Vielfalt von Themen wie Zugängen begünstigt, eine echte Bereicherung der Lehrbuchliteratur dar. Neben dem studentischen Adressatenkreis (S. IX) ist dieser auch für die forschende Gemeinschaft interessant, da mehrere gegenwärtig laufende Debatten aufgeworfen werden und die Vertiefung über den Fußnotenapparat ermöglicht wird. Das Lesen dürfte ferner auch dem mit der Wissenschaftssprache und dem Forschungsstand unvertrauten Laien großes Vergnügen bereiten, nicht alleine aufgrund der angesprochenen Vielfalt, sondern auch wegen der ganz überwiegend von Fachausdrücken freigehaltenen Formulierungen, in welchen die Beiträge auf Wunsch der Herausgeber verfasst wurden (S. IX). Die Benutzung des Sammelbands wird durch ein Personen- und Sachverzeichnis erleichtert, wobei die Auswahl der Stichwörter ausgewogen die Felder der Theologie, Geschichte, Philosophie und Rechtsdogmatik abdeckt. Es kann vom Lesen des Bands aber nicht erwartet werden und wird von den Herausgebern auch nicht beansprucht, dass die Lektüre die Studenten für Grundlagen- und Abschlussprüfungen hinreichend vorbereitet, da das Werk keine Gesamtdarstellung liefert, so dass das Erarbeiten des Prüfungsstoffs mithilfe der üblichen Lehrbücher erforderlich bleibt, was eine Empfehlung im Unterricht aber nicht verhindern sollte. Es ist begrüßenswert, dass der Verlag Mohr Siebeck – mutmaßlich mit Rücksicht auf die Zahlungskraft der angesprochenen Käufer – den Band zu einem moderaten Preis auf dem Markt gebracht hat, insbesondere wenn jener mit den üblichen Kosten für universitäre Sammelbände verglichen wird. Auch gegenständlich ist das Buch aufgrund des unaufdringlichen Schriftbilds und des handlichen Formats, welches die Nutzung als Vademekum zulässt, als gelungen zu bezeichnen.

Anmerkungen:
1 Eine kritische, in bisweilen heftige Sprache gekleidete Auseinandersetzung mit dem Forschungsbegriff „Spielregeln der Politik“ findet sich bei Peter Dinzelbacher, Warum weint der König? Eine Kritik des mediävistischen Panritualismus, Badenweiler 2009.
2 Vgl. auch das methodische Vorgehen der Re-Kontextualisierung (vermeintlich) abstrakter Verfassungsauslegungen des Bundesverfassungsgerichts bei Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u.a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Berlin 2011, S. 159–279, insb. S. 182 ff.

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