Titel
Verordnete Lust. Sexualmedizin, Psychoanalyse und die „Krise der Ehe“, 1870 – 1930


Autor(en)
Putz, Christa
Reihe
1800/2000. Kulturgeschichte der Moderne 3
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 28,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Schmidtmann, Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung Hamm

1908 suchte ein junger Mann den Berliner Arzt Paul Orlowski auf. Ausweislich Orlowskis Berichts klagte er über „allgemeine nervöse Erschöpfung, psychische Depression und Schlaflosigkeit“. Anlass für den Arzt, auch nach den sexuellen Gewohnheiten des Patienten zu fragen, wobei schnell herauskam, dass dieser ebenfalls unter Impotenz, genauer „einer Erektionsschwäche, die die Penetration des Samens verhindert“ sowie „unter einem verfrühten Abgang des Samens“ leidet. Bei der folgenden Untersuchung der Harnröhre stieß Orlowski auf „Wucherungen“, die er mit einer mehrmaligen „Kauterisierung“, das heißt einer Entfernung des „überflüssigen“ Gewebes mit Hilfe einer glühend gemachten Drahtschlinge, behandelte. Es kam zu eitrigem Ausfluss, einer Entzündung und starken Schmerzen. Die Behandlung wurde trotzdem weiter geführt und nahm eine überraschend positive Wendung. Nach sechs Wochen gelang dem Patienten der Koitus „zufriedenstellend“ wie Orlowski bilanziert.

Dies ist nur eine der zahlreichen Fallgeschichten aus den medizinischen Publikationen, die Christa Putz ausgewertet hat, um in ihrer am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz 2009 eingereichten Dissertation den Wandel des Diskurses über sexuelle Störungen um die Wende des 19./20. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Auch wenn uns speziell Orlowskis Therapie doch recht fremd erscheint: Im Diskurs der ärztlichen Experten entstanden viele jener Muster im Reden über Sexualität, die heute den öffentlichen Diskurs bestimmen und unseren Umgang mit der „Lust“ steuern.

Dabei wurde Sexualität zunächst, wie Putz zeigen kann, zu einem mit wissenschaftlichen Methoden erklär- und therapierbaren Problem gemacht. Bei der medizinischen Erörterung von Sexualität ging es seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eben nicht mehr nur um Zeugung und Empfängnis, sondern der medizinische Diskurs wurde sukzessive auch auf Fragen der Potenz und des sexuellen Empfindens ausgedehnt. Letzteres wurde „wissenschaftlich“ in Form von Regelkreisläufen und nach Geschlecht differenzierten „Lustkurven“ beschrieben und damit eine Normalität produziert, vor deren Hintergrund immer weitere Bereiche der Heterosexualität aus medizinischer Sicht als therapiebedürftig erschienen. Andererseits bedeutete diese Wissensgenerierung auch, dass eine solcherart „normale“ Sexualität als wesentlicher stabilisierender Faktor für Ehen aufgewertet wurde; zu einer glücklichen, stabilen Ehe gehörte nun konstitutiv eine (be)glückende – aus Sicht der Mediziner bedeutete das im Wesentlichen regelmäßig praktizierte und von beiden Partnern als lustvoll erlebte – Sexualität. Es liegt auf der Hand, dass diese Umdeutung, wie Putz in einem eigenen Kapitel ausführt, zur „Krise der Ehe um 1900“ beitrug.

Die Problematisierung des Sexuellen einte Urologen, Dermatologen, Gynäkologen, Internisten, Balneologen (Bäderärzte), Neurologen und Psychiater. Ihre Diagnosen unterschieden sich zunächst aber wesentlich. Urologen und Gynäkologen gingen vorzugsweise von organischen Ursachen „gestörter“ Sexualität aus und leiteten dementsprechende Therapien ein. Das Vorgehen von Orlowski ist ein zeitlich sehr spätes und wohl auch besonders drastisches Beispiel. Bei bestimmten Pathologien waren chirurgische Eingriffe an männlichen und auch weiblichen Geschlechtsorganen wohl keine Einzelfälle, im allgemeinen bemühte man sich aber um vermeintlich schonendere Therapien wie „Bepinselungen“, lokale Wasserbäder oder die Behandlung der Genitalien mit Stromstößen. Internisten und Psychiater waren dagegen geneigt, Störungen der Sexualität als Teil von sehr komplexen „nervösen“ Krankheitsbildern zu beschreiben. Die „Neurasthenie“ rückte im „Zeitalter der Nervosität“ (J. Radkau) in diesem Bereich zum alles erklärenden Deutungsangebot auf. Freilich herrschte bei ihnen ebenfalls eine gewisse therapeutische Konzept- und Ratlosigkeit, andere Mittel als ihre Kollegen hatten sie auch nicht zur Verfügung. Allerdings zielten ihre Bemühungen in der Regel auf den ganzen Körper und sein Nervensystem, therapiert wurde meist im Rahmen umfassender Kuren beispielsweise mit Elektrizität, Wasser, Massagen und spezieller Ernährung sowie dem Ratschlag, „die Phantasie vom Denken an geschlechtliche Dinge möglichst frei zu halten“ (S. 164). Ausschlaggebend für solche Aufforderungen war die spätestens um 1910 weit verbreitete Einsicht, dass der Psyche ein zentraler Stellenwert bei der Entstehung der Lust zukommt. Dabei spielte die Etablierung der Psychoanalyse eine wichtige Rolle. Ab 1905 gelang es den Vertretern der Psychoanalyse fortschreitend eine eigene Theorie sexueller Störungen auszuformulieren. Putz thematisiert die Bedingungen für diesen Erfolg nicht. Jedenfalls erlangten die Vertreter der Psychoanalyse innerhalb sehr kurzer Zeit auf dem Feld sexueller Störungen die medizinische Diskurshoheit. Selbst Gynäkologen griffen spätestens ab den 1920er-Jahren durchgängig auf psychotherapeutische Behandlungsmethoden zurück. Dabei verstärkte sich der Trend zur Problematisierung und Pathologisierung noch einmal deutlich. „Unter psychoanalytischen Vorzeichen geriet [sexuelle Normalität] zu einer psychischen Leistung, die nur mehr annäherungsweise zu erreichen war.“ (S. 233) Dem entspricht, dass auch die Patientinnen und Patienten selbst ihre Sexualität zunehmend als „gestört“ wahrzunehmen schienen und Heilung von ihren Ärzten auch vermehrt einforderten, wie aus den aufgeführten Fallgeschichten hervorgeht. Putz diskutiert nicht, ob sexuelles Begehren wirklich „verordnet“ war, wie der Buchtitel suggeriert: in jedem Fall war „Lust“ gegen Ende des beschriebenen Zeitraums zu einem höchst erstrebenswerten, jedoch stark gefährdeten und deswegen breit verhandeltem Aspekt des menschlichen Körpers – bzw. des Redens über ihn – geworden.

Christa Putz’ Arbeit wendet das in den letzten Jahrzehnten in Diskurs- und Körpergeschichte entwickelte analytische Instrumentarium außerordentlich sparsam an. Sie versteht ihren Beitrag zwar als „diskursgeschichtliche Arbeit“, die die „Genese eines bestimmten Diskurstyps“ aufzeigt (S. 13). Weitere theoretische und methodische Fundierungen fehlen allerdings. Wie sie selbst über den Körper und seine (Nicht-)Historizität denkt, etwa das Verhältnis von Diskurs und Körperlichkeit, bleibt unklar. Machtfragen werden ebenfalls nicht thematisiert. Sie unterlässt zudem fast gänzlich eine Verortung ihrer Ergebnisse in den intensiven Forschungsdiskussionen in diesem Bereich. In erster Linie ist ihre Arbeit deskriptiv angelegt. Das höchst interessante Quellenmaterial wird dabei sinnvoll angeordnet aufgearbeitet und sorgfältig präsentiert. Insofern hat Christa Putz überzeugend eine solide empirische Basis für weitergehende Überlegungen zum Verhältnis von Wissen, Körper und Sexualität in der „klassischen Moderne“ (D.J.K. Peukert) gelegt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension