A. Chatriot u.a. (Hrsg.): Koloniale Politik und Praktiken Deutschlands

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Titel
Koloniale Politik und Praktiken Deutschlands und Frankreichs 1880-1962. Politiques et pratiques coloniales dans les empires allemands et français


Herausgeber
Chatriot, Alain; Gosewinkel, Dieter
Reihe
Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees 6
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
299 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Rempe, Arbeitsbereich Neuere und Neueste Geschichte, Universität Konstanz

Der vorliegende Sammelband vereinigt ausgewählte Beiträge vom 12. deutsch-französischen Kolloquium, das die deutsch-französische Gruppe zur Sozialgeschichte des XIX. und XX. Jahrhunderts im September 2008 am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ausgerichtet hat. Wie die Herausgeber Alain Chatriot und Dieter Gosewinkel in ihrer Einleitung zur Geschichtsschreibung über den französischen und deutschen Kolonialismus zurecht betonen, ist beim regen Austausch zwischen deutschen und französischen Historikern das Terrain der Kolonialgeschichte bislang weitgehend ausgeklammert worden. Dies sei vor allem darauf zurückzuführen, dass sich bis vor kurzem nur sehr wenige HistorikerInnen des einen Landes für die Kolonialgeschichte des anderen interessiert hätten, und auch Buchübersetzungen eher die Ausnahme blieben. Daher leuchtet es ein, dass der Sammelband für eine neue Entwicklung stehen soll – mehr als die Hälfte der insgesamt elf BeiträgerInnen befassen sich mit der Kolonialgeschichte des Nachbarlandes.

Inhaltlich bietet der historiographiegeschichtliche Abriss einen soliden Überblick, allerdings sticht die weitgehende Ausblendung anglophoner Forschungsliteratur insbesondere für den französischen Kolonialismus unmittelbar ins Auge.1 Gerade weil sich der Sammelband die internationale Vernetzung der Kolonialgeschichtsschreibung zum Ziel gesetzt hat, ist diese deutsch-französische Engführung zu bedauern. Zugleich macht sich damit letztlich doch bemerkbar, dass Chatriot und Gosewinkel keine Spezialisten des Themengebiets sind, wie sie selbst betonen (S. 25). Ihre dahinter stehende Überlegung überzeugt dagegen um so mehr, wenn sie dafür plädieren, die Kolonialgeschichte nicht länger gesondert, sondern als integralen Bestandteil der (nationalen) Geschichte der beiden Länder zu betrachten.

Die anschließenden Artikel stammen ausschließlich aus der Feder junger Nachwuchswissenschaftler und sind in sechs Abschnitte unterteilt: Verwaltung in den Kolonien; Religion; Wirtschaft; Koloniale Gewalt; Probleme der Dekolonisierung; schließlich Repräsentationen und koloniale Praxis. Wer jedoch eine ländervergleichende Struktur der Abschnitte erwartet, wird überwiegend enttäuscht: Ausschließlich auf den deutschen Kolonialismus ausgerichtet, handelt der erste Block zum Thema Verwaltung von der deutschen Kolonialpolizei in Togo (Joël Glasman) und Deutsch-Südwestafrika (Jakob Zollmann). Nicolas Patin widmet sich mit dem Weimarer Kolonialrevisionismus dagegen eher Verwaltungsphantasien, so man überhaupt eine Verbindung zum übergeordneten Kapiteltitel ziehen kann. Umgekehrt bleibt das Kapitel zu Religionsfragen ganz dem französischen Kolonialismus in Algerien vorbehalten: Die zwei Artikel behandeln katholische Konversionen in Algerien zwischen 1830 und 1930 (Mouloud Haddad) sowie die Entstehung eines muslimischen Journalismus im selben Land zwischen 1920 und 1950 (Philipp Zessin). Die Abschnitte Wirtschaft und Probleme der Dekolonisierung sind mit nur je einem Beitrag repräsentiert, dafür eröffnen die Artikel von Séverine Antigone Marin zur kolonialen Baumwollwirtschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts und von Urban Vahsen zur Assoziierungspolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im subsaharischen Afrika (1958–1962) europäische und damit auch vergleichende Perspektiven. Gleiches gilt für den Aufsatz von Heinrich Hartmann zur Tropentauglichkeit und damit einhergehender Neudefinitionen der Wehrkraft um 1900 im letzten Abschnitt zu kolonialen Praktiken. Dort ist auch der Beitrag von Franck Rimbault aufgeführt, der Nachwirkungen der deutschen Kolonisierung in Ost-Afrika in der Gründungsphase der tansanischen Nation in den Blick nimmt. Das Überkapitel zu kolonialer Gewalt ist schließlich das einzige, in dem je ein Artikel zum deutschen und zum französischen Kolonialismus zu finden ist: Moritz Feichtinger geht der französischen Umsiedlungspolitik im Algerienkrieg auf den Grund, während Jonas Kreienbaum den Hererokrieg (1904–1907) mit anderen Kolonialkriegen vergleicht – allerdings keineswegs mit einem, an dem Frankreich beteiligt war, sondern mit dem philippinisch-amerikanischen (1899–1902) und dem libysch-italienischen Kolonialkrieg (1911–1932). Angesichts einer derart heterogenen Themenauswahl nimmt es nicht Wunder, dass auf ein Schlusswort verzichtet wurde. Aus demselben Grund verzichten die verbleibenden Abschnitte dieser Rezension auf eine isolierte Besprechung der einzelnen Artikel. Stattdessen sollen einige synthetisierende Überlegungen angestellt werden, die sich aus der Lektüre des Bandes ergeben haben.

Wenngleich der Band also nur bedingt das hält, was sein Titel verspricht, so warten erstens diejenigen Artikel, die eine ländervergleichende bzw. europäische Perspektiven einschlagen, mit neuen Einsichten auf: In der Zusammenschau der Beiträge von Marin zur kolonialen Baumwollwirtschaft und von Hartmann über Neudefinitionen der Wehrkraft im kolonialen Kontext wird deutlich, dass um 1900 regelmäßig nicht nur der Vergleich, sondern auch der Austausch mit der benachbarten Kolonialmacht auf unterschiedlichen Ebenen gesucht wurde: So kann Marin zeigen, dass die an der Baumwollwirtschaft interessierten Akteure – vornehmlich Geschäftsleute und Agronomen – nicht nur nationale Konkurrenten waren, sondern auch gemeinsame Gegner ausmachten, namentlich die übermächtigen USA auf der einen und eine weitgehend desinteressierte metropolitane Ökonomie auf der anderen Seite. Gerade der transnationale wissenschaftliche Austausch florierte um die Jahrhundertwende, wie auch Hartmann betont: Aufgrund mangelnder statistischer Daten griff man auf die Erfahrungen anderer Kolonialmächte zurück, um Kriterien für die Tropentauglichkeit der eigenen Soldaten entwickeln zu können, wodurch zugleich eine homogene europäische „Rasse“ konstruiert und indigenen Bevölkerungen gegenübergestellt wurde. In beiden Fällen ließ sich darüber hinaus eine Institutionalisierung in Form von europäischen Wissenschaftlerkongressen beobachten, die zu diesem Zeitpunkt freilich kaum Auswirkungen in der politischen Praxis hatten. Derartige Effekte, so ließe sich im Anschluss an Urban Vahsens Beitrag argumentieren, machten sich erst knapp 60 Jahre später im Zuge der Entwicklungspolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bemerkbar, insofern als einerseits die Baumwollwirtschaft des frankophonen Afrika ab den 1960er-Jahren maßgeblich auch von Brüssel aus gefördert und andererseits der Topos der Tropentauglichkeit – nun von Entwicklungshelfern – neu verhandelt wurde.2

Zweitens belegt die „lecture croisée“ des Artikels von Hartmann auf der einen und der Artikel zu den deutschen Polizeitruppen in Togo und Deutsch-Südwestafrika von Glasman und Zollmann auf der anderen Seite eindrücklich die Diskrepanzen zwischen kolonialem Diskurs in den Metropolen und den Praktiken vor Ort: Während in Europa um 1900 Anstrengungen unternommen wurden, europäische wie afrikanische Tropenwehrtauglichkeit nach rassischen Kriterien zu definieren, und zugleich die deutsche Kolonialpolitik einer Integration von Afrikanern in die „Schutztruppe“ zunächst ablehnend gegenüberstand, stützten sich die Polizeitruppen ganz wesentlich auf indigene Rekruten. Überzeugend weisen Glasman und Zollmann einmal mehr die These vom „starken Kolonialstaat“3 zurück, indem sie etwa aufzeigen, dass bei der (Zwangs-)Rekrutierung auf vorkoloniale Strukturen wie etwa Sklavenhändler zurückgegriffen wurde (Glasman) bzw. ohne die Einbeziehung indigener Kräfte eine Polizeiarbeit erst gar nicht möglich gewesen wäre (Zollmann). Ausgehend von Hartmanns Befund, dass der wissenschaftliche Diskurs im Kaiserreich stärker von rassistischen Konnotationen geprägt gewesen sei als in Frankreich, ist es allerdings bedauerlich, dass ein deutsch-französischer Vergleich auf der praktischen Ebene ausbleibt, zumal Zollmann konstatiert, dass bei der alltäglichen Polizeiarbeit „nicht so sehr die Hautfarbe, sondern die erfolgreiche Durchsetzung kolonialstaatlichen Herrschaftswillens“ (S. 62) gestanden habe. Eine Gegenüberstellung etwa mit dem Alltag der „Tirailleurs sénégalais“ innerhalb der französischen Kolonialarmee hätte nicht nur auf die Rassismus-Dimension Bezug nehmen können, sondern darüber hinaus für Frankreich möglicherweise auch zu anderen Antworten in der Debatte über die Beschaffenheit des kolonialen Staates geführt.4

Gesteigerter Rassismus infolge militärischer Frustrationserfahrungen war schließlich drittens auch ein zentraler Faktor für die Entgrenzung kolonialer Gewalt, wie Jonas Kreienbaum in seinem Beitrag anschaulich macht. Allerdings sorgt seine Schlussthese in der Zusammenschau mit Moritz Feichtingers Analyse der französischen Umsiedlungspolitik in Algerien für Diskussionsbedarf: Auf der Grundlage seines Vergleiches von drei Kolonialkriegen plädiert Kreienbaum dafür, den vielzitierten Weg von „Windhuk nach Auschwitz“ transnational zu weiten; dessen „Ausgangspunkte müssen im gesamten kolonialen Asien, Afrika und Amerika gesucht werden“ (S. 172). So sehr Kreienbaums transnational vergleichende Analyse kolonialer Gewalt überzeugt und zugleich als allgemeines Plädoyer zu begrüßen ist, so lassen sich gegen seine Schlussfolgerung doch einige Argumente vorbringen: Erstens ist einzuwenden, dass auch eine transnationale Deutung den Fluchtpunkt „Auschwitz“ weder aus einer kolonialhistorischen noch aus einer genozidhistorischen Perspektive plausibler macht. Koloniale Gewalt ebenso wie Genozide haben den Nationalsozialismus überdauert; welch brutale Gewaltanwendung der Algerienkrieg auch gegenüber der Zivilbevölkerung hervorbrachte, lässt sich bei Feichtinger rasch nachlesen. Zweitens weisen die vier Kolonialkriege in struktureller Hinsicht wesentlich mehr Gemeinsamkeiten untereinander auf als diese aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie: Auf Samar ebenso wie am Waterberg, in der Cyrenaika genauso wie im algerischen Hinterland ging es in erster Linie darum, Widerstand zu brechen und eine Pazifizierung zu erreichen mit dem Ziel, die wirtschaftliche Erschließung und Ausbeutung der Kolonie weiter voranzutreiben; dem Holocaust können demgegenüber derartige Zielsetzungen mitnichten zugeschrieben werden. 5 Drittens lädt die äußerst repressive und zugleich auf Modernisierung abzielende französische Umsiedlungspolitik, wie sie Feichtinger eindrücklich schildert, zu einem kontrafaktischen Räsonnement ein: Hätte eine starke deutsche administrative wie militärische Präsenz vor Ort den Völkermord an den Herero nicht zu verhindern gewusst? Kreienbaum selbst weist darauf hin, dass der Genozid ganz wesentlich auf lokale Dynamiken zurückzuführen gewesen sei. Im amerikanisch-philippinischen Krieg hätten zudem militärische und bürokratische Kontrollmechanismen dafür gesorgt, dass es auf Samar gerade nicht zu einem Völkermord kam. Freilich handelt es sich hierbei in vielerlei Hinsicht um einen schiefen Vergleich – nicht zuletzt fand der Algerienkrieg unter fundamental andersartigen internationalen Rahmenbedingungen statt, welche den Kolonialismus, auch aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, diskreditierten und Frankreich enorm unter Druck setzten. Dennoch sprechen weitere Gründe – zu erinnern wäre auch an Strukturmaßnahmen wie den Aufbau der kolonialen Polizeitruppen – dafür, die Entfesselung kolonialer Gewalt nicht als Ausgangspunkt einer „zunehmenden Bürokratisierung des Völkermordes“ (S. 172) zu betrachten, sondern als zeitgebundene Radikalisierung aufgrund unzureichender Ressourcen und militärischer Frustrationserfahrungen. Diese Perspektive soll weder das immense Gewaltpotential des europäischen Kolonialismus verniedlichen noch die Genozidforschung aus der Kolonialgeschichte vertreiben. Vielmehr fordert sie (ganz banal) dazu auf, Vergleiche zu führen, die nicht einseitig Gemeinsamkeiten, Kontinuitäten oder assoziative Verbindungswege herausstreichen, sondern ebenso der Frage nach qualitativen Unterschieden ausreichende Aufmerksamkeit schenken. Erst auf diesem Wege wird es möglich sein, das Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus näher zu bestimmen, und erst dann wird es vielleicht gelingen, den Genozid-Begriff sinnvoll auszudifferenzieren.6

Zusammenfassend bleibt auf den ersten Blick der Eindruck eines mit geringem Aufwand zusammengestellten Sammelbandes zurück, was sich leider auch in der Präsentation widerspiegelt: In formaler Hinsicht bewegen sich die Beiträge auf unterschiedlichem Niveau, und auch offensichtliche Setzfehler (etwa in der Kopfzeile von Kreienbaums Artikel) wurden übersehen. Auf den zweiten Blick ergeben sich demgegenüber durchaus aufschlussreiche Vergleiche und neue Einsichten in die Kolonialpolitiken und -praktiken der beiden Länder, die man sich allerdings in einem Fazit gebündelt gewünscht hätte.

Anmerkungen:
1 Angesichts der äußerst ergiebigen anglophonen Forschung zur französischen Kolonialgeschichte kann der isolierte Verweis auf zwei namhafte Vertreter kaum als Gegenargument dienen; eher werden dadurch „nationale“ Historiographien zementiert, vgl. S. 9.
2 Vgl. zur Rolle der EWG in der afrikanischen Baumwollwirtschaft etwa: Walter Kennes, European Communities Assistance for Agricultural Development in Cameroon, Senegal, and Tanzania, 1960-87, in: Uma Lele (Hrsg.), Aid to African Agriculture. Lessons from Two Decades of Donors' Experience, Baltimore 1992, S. 325–385.
3 Vgl. zu dieser Debatte zusammenfassend etwa Andreas Eckert, Vom Segen der (Staats-)Gewalt? Staat, Verwaltung und koloniale Herrschaftspraxis in Afrika, in: Alf Lüdtke / Michael Wildt (Hrsg.), Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008, S. 145–165.
4 Vgl. zu den Tirailleurs u.a. Myron J. Echenberg, Colonial Conscripts. The Tirailleurs Sénégalais in French West Africa, 1857–1960, Portsmouth/NH 1991, der die Rassismus-Dimension allerdings nicht explizit thematisiert.
5 Ausführlicher zu beiden Argumenten bereits Robert Gerwarth / Stephan Malinowski, Der Holocaust als „kolonialer Genozid“? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439–466.
6 Vgl. zu bisherigen Typologisierungsversuchen zusammenfassend Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen, München 2006, S. 12–29.

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