N. Boskovska: Das jugoslawische Makedonien 1918-1941

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Titel
Das jugoslawische Makedonien 1918-1941. Eine Randregion zwischen Repression und Integration


Autor(en)
Boškovska, Nada
Erschienen
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig / Imre Kertész Kolleg "Europas Osten im 20. Jahrhundert. Historische Erfahrungen im Vergleich" der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Geschichte einer als „Zankapfel“, „Wespennest“ oder „Pulverfass“ erster Güte stigmatisierten Region Europas zu schreiben und dabei deren Bedeutung für die Anrainerstaaten und etliche Großmächte samt internationaler Organisationen bewusst zugunsten einer regional fokussierten Gesellschafts-, Wirtschafts-, Bildungs-, Infrastruktur- und Verwaltungsgeschichte auszublenden, ist ein gewagtes Unterfangen. Nada Boškovska, Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich, bringt dafür sämtliche Voraussetzungen mit: Sie ist eine ausgewiesene Sozial- und Kulturhistorikerin sowie Slavistin, hat sich eingehend mit der Geschichte des ersten und zweiten Jugoslawien befasst und kennt die Region Vardar-Makedonien, bis 1991 jugoslawische Teilrepublik und seitdem als Republik Makedonien („FYROM“) unabhängig, aus eigener Anschauung. Mit ihrer Zürcher Habilitationsschrift füllt sie eine klaffende Lücke in der internationalen Forschungsliteratur zur modernen makedonischen Geschichte, die zugleich die Geschichte der Makedonischen Frage in der balkanischen wie gesamteuropäischen Politik ist und daher bis heute primär als solche geschrieben wird. Die Binnengeschichte der drei makedonischen Teilregionen – Vardar-Makedonien in Serbien und Jugoslawien, heute unabhängig, Pirin-Makedonien in Bulgarien und Ägäisch-Makedonien in Griechenland – ist darüber sträflich vernachlässigt worden. Andrew Rossos’ englischsprachige Gesamtdarstellung von 2008 etwa widmet dem breiten Themenbereich von Nada Boškovskas Buch ganze acht Seiten1, und ähnlich stiefmütterlich wird die innere Entwicklung der Region in der Zwischenkriegszeit in neueren Standardwerken in polnischer und tschechischer Sprache von Irena Stawowy-Kawka sowie Jan Rychlík und Miroslav Kouba behandelt.2 Die makedonischen, bulgarischen, serbischen und griechischen Nationalhistoriographien schließlich verstehen sich weiterhin eher als Partei im mittlerweile anderthalb Jahrhunderte währenden Kampf um eine imaginäre „Wahrheit über Makedonien“ bzw. über die ethnische Zugehörigkeit seiner Bewohner denn als Instanzen geschichtswissenschaftlicher Analyse eben dieses Konfliktgeschehens.

Ungeachtet ihrer Entscheidung, die Makedonische Frage in der südosteuropäischen Politik und den internationalen Beziehungen auszublenden, ist die von der Autorin aufgestellte Forschungsagenda gewaltig: Zum einen geht es ihr darum, wie der serbisch dominierte und 1918 gegründete Konglomeratstaat namens Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929: Königreich Jugoslawien) versuchte, seine südliche und zunächst als Südserbien, ab 1930 dann als Vardar-Banschaft firmierende Peripherie zum einen unter Kontrolle zu bekommen und zum anderen zu integrieren. Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem Mischungsverhältnis von Jugoslawisierungs-, Serbisierungs-, De-Bulgarisierungs- und Anti-Makedonisierungsbemühungen Belgrads. Und zum anderen fragt sie nach Assimilationsbereitschaft und Adaptionsstrategien, Verweigerungshaltungen und Widerstandstaktiken der Bewohner der Region, hier in erster Linie der ostsüdslawischsprachigen orthodoxen Christen, die in Belgrader Nomenklatur als „Südserben“, „Bergserben“ oder nur „Serben“ firmierten, die sich selbst aber nicht als wie auch immer geartete Serben sondern explizit, gar offensiv als „Bulgaren“, „Makedonier“, „Bulgaro-Makedonier“ oder „makedonische Bulgaren“ definierten oder aber sich ethnisch indifferent als „Hiesige“, „Unsrige“, „Orthodoxe“, „Exarchisten“, „Christen“, „Bauern“, „Bewohner der Vardar-Region“ und anderes bezeichneten.

So nachvollziehbar das Ausblenden des epochalen Hintergrunds der Makedonischen Frage erscheint – zumal angesichts des diesbezüglich hohen Forschungsstandes –, so wenig überzeugt, dass die Autorin auch den teils passiven, teils aber gewaltförmigen Widerstand gegen die repressive Serbisierungspolitik Belgrads, der in einem bis 1927 anhaltenden saisonalen Bürgerkrieg sowie danach in zahlreichen Terroranschlägen samt Racheakten resultierte, ebenfalls ausblenden möchte. Allerdings – und glücklicherweise – hält sie die proklamierte „Politikabstinenz“ nicht konsequent durch, denn es geht ihr zugleich ja auch um die Ansätze staatlicher Modernisierungsstrategien in der Region, deren eklatante Misserfolge ja nicht zuletzt durch eben diese ethnopolitische Dauerhochspannung bedingt waren. Erst als von der Mitte der 1930er-Jahre aufgrund gesamtbalkanischer Veränderungen eine Entspannung in den interethnischen Beziehungen in der Vardarregion eintrat, so durch eine Verbesserung des jugoslawisch-bulgarischen Verhältnisses und durch die Reduktion des Gewaltlevels, griffen dort einige zentralstaatliche Infrastrukturvorhaben, wie etwa die Ausrottung der Malaria durch die Trockenlegung von stadtnahen Sümpfen.

Der eigentliche Hauptteil des Buches besteht aus zwei ungleich langen Abschnitten, nämlich einem einzelnen, etwas mehr als 40 Seiten umfassenden Kapitel zu den 1920er-Jahren und fünf Kapiteln im Gesamtumfang von 250 Seiten zu den 1930er-Jahren. Vorgeschaltet ist eine ebenso komprimierte wie informative Einleitung, und nachgestellt ein Schlussteil, in dem die Autorin eine überaus kritische Bilanz der Politik Belgrads in der doppelten Funktion als Hauptstadt des Gesamtstaates sowie als Metropole des für die Vardarregion „zuständigen“ Serbien zieht. 15 historische Schwarz-Weiß-Fotografien und fünf (sehr kleinformatige) Karten tragen zur Anschaulichkeit bei. Neben einer Bibliographie verfügt der Band auch über ein detailliertes Register.

Der Grund dafür, dass die Darstellung zu den 1920er-Jahren überaus knapp ausgefallen ist, liegt in dem Guerillakrieg begründet, den die von ihren Operationsbasen in Bulgarien und Albanien aus grenzüberschreitend agierende Innere Makedonische Revolutionäre Organisation (IMRO) und die serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräfte, darunter neben Armee, Polizei und Geheimdienst auch Kontraguerillas und Militärkolonisten, auf dem Territorium Vardar-Makedoniens führten. Von Frühjahr bis Herbst jeden Jahres fielen mehrere tausend IMRO-Kämpfer ein, unterstützt von speziellen Terrorkommandos sowie einzelnen Selbstmordattentätern und -täterinnen. Unter diesen Umständen konnte weder von gezielter, geschweige denn nachhaltiger staatlicher Modernisierungs- und Integrationspolitik noch von einer Annäherung der Bevölkerung an den neuen Staat die Rede sein. Die verschiedenen, von der Autorin angeführten Maßnahmepakete zu Pazifizierung, Wohlstandsmehrung und Loyalitätssteigerung griffen sämtlich nicht, und dies unabhängig davon, ob sie eher auf das Prinzip „Zuckerbrot“ oder auf dasjenige der „Peitsche“ setzen. Vardar-Makedonien blieb in jeder Hinsicht der Hinterhof Jugoslawiens, ein „serbisches Sibirien“ – bitterarm, unterernährt, analphabetisch, gewalttätig und hochgradig ungesund, kurz: der Alptraum jedes Offiziers, Gendarmen, Beamten, Lehrers, Priesters, Militärkolonisten oder Eisenbahners aus den nördlicheren Teilen Serbiens, von Kroatien oder Slowenien ganz zu schweigen. Einem ungewöhnlich (selbst-)kritischen Bericht des jugoslawischen Innenministeriums vom November 1926 zufolge hungerte die Bevölkerung des Südteils der Vardarregion an 260 Tagen im Jahr, da „die serbischen Dorfpopen dem Volk nicht erlauben, Olivenöl und vor allem Fische zu essen, während sie selbst den ganzen Tag im Fluß Crna Fische fangen und braten“. Die Folge war, dass „die Rekruten oft kaum 40 Kilo wiegen, während es ihre Popen auf über 100 und 120 Kilo bringen“.3

Erst ein Schisma innerhalb der IMRO im Jahr 1928, das in fratrizider Gewalt extremen Ausmaßes resultierte, verminderte die Kampfkraft der Organisation dramatisch und trug so paradoxerweise zum Ende des saisonalen Guerillakrieges im äußersten Süden Jugoslawiens bei. Allerdings gelang der IMRO und der ihr verbündeten kroatischen Ustaša 1934 noch ein letzter Schlag gegen Belgrad in Form eines erfolgreichen Attentats auf den jugoslawischen König Aleksandar I. Karadjordjević bei dessen Besuch in Marseille. Zeitgleich intensivierte sich die Belgrader Entwicklungspolitik im äußersten Süden des Landes: Jetzt wurden Bildungswesen sowie Straßen- und Eisenbahnnetz ausgebaut, 1939 gar ein Kredit in Höhe von 100 Millionen Dinar zur Flussregulierung, Melioration, Krankenhausbau, Trinkwasserversorgung und anderem bereit gestellt. Der Überfall der Wehrmacht auf Jugoslawien im April 1941 verhinderte dann allerdings die Umsetzung dieser Maßnahmen.

Entsprechend fällt das Fazit der Autorin auch für die relativ friedliche Phase ab 1935 vernichtend aus: Die Politik Belgrads in Makedonien war ihr zufolge „bis zuletzt kolonialistisch […] und ausbeuterisch“ und glich einem Besatzungsregime, das die regionale Elite und die rurale Bevölkerung zugunsten der verschiedenen aus Altserbien in die Vardarregion entsandten Kolonisatorengruppen massiv benachteiligte (S. 354). Die Reaktion darauf, so ihre Schlussfolgerung, war die Ausprägung eines anti-serbischen und nun dezidiert makedonischen Regionalbewusstseins ethnokultureller Prägung – die Grundlage des Prozesses der Herausbildung einer makedonischen Nation, wie sie dann von 1944 an in der Teilrepublik Makedonien im Jugoslawien Titos erfolgte (S. 366). Dabei spielte auch der Umstand eine Rolle, dass in den beiden Jahrzehnten serbischer Herrschaft über die Vardarregion der ethnopolitische Einfluss Bulgariens abgeschwächt wurde, wie überdies die dreijährige bulgarische Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg bezüglich der Option einer Zugehörigkeit zum bulgarischen Staat samt ethnonationaler Zuordnung als Bulgaren auf die Bewohner Makedoniens eher abschreckend denn anziehend wirkte.

Die Materialgrundlage der Autorin zur Beantwortung ihrer ambitionierten Forschungsfragen sind neben dem einschlägigen Verwaltungsschrifttum die Bestände von Archiven in Belgrad, Skopje und Bitola, ergänzt durch Archivalien aus dem britischen Public Record Office und dem Archiv der Außenpolitik der Russländischen Föderation in Moskau. Hinzu kommt ein umfangreicher Korpus an Fachliteratur in makedonischer, anderen südslavischen sowie internationalen Sprachen. Eine veritable Trouvaille sowie Fundgrube an Information sind dabei die Memoiren des Romanautors und britischen Vize-Konsuls im Skopje der Zwischenkriegszeit, David Footman, der nach dem Zweiten Weltkrieg eine dritte Karriere als Russland-Historiker in Oxford machte.4 Zu spät, um in dem anzuzeigenden Buch noch berücksichtigt zu werden, erschien Dimitris Livanios’ Untersuchung der britischen Makedonienpolitik der Jahre 1939-1949 samt Vorgeschichte 5, doch hätte man erwartet, dass eine Reihe von Standardwerken in englischer sowie – ungeachtet ihres nationalen Tunnelblicks – in makedonischer und bulgarischer Sprache herangezogen worden wären.6

Nada Boškovskas Monographie zur Geschichte des jugoslawischen Teils Makedoniens in der Zwischenkriegszeit stellt eine vorbildlich strukturierte, quellengesättigte und gut lesbare Pionierstudie dar, die eine empfindliche Lücke in der Politikgeschichte des ersten Jugoslawien sowie in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Südosteuropas füllt. Überdies ist sie ein hochwillkommenes Korrektiv zu den Produkten national verengter Makedonien-Geschichtsschreibung, wie sie bis heute in Skopje, Sofija, Belgrad und Athen vorherrschend sind.

Anmerkungen:
1 Andrew Rossos, Macedonia and the Macedonians. A History, Stanford 2008, S. 33-41; siehe dazu die Rezension von Stefan Troebst in H-Soz-u-Kult, 14.10.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-042> (01.02.2012).
2 Irena Stawowy-Kawka, Historia Macedonii [Geschichte Makedoniens], Wroclaw 2000; Jan Rychlík / Miroslav Kouba, Dějiny Makedonie [Geschichte Makedoniens], Praha 2003.
3 Hristo Andonov-Poljanski u. a. (Hrsg.), Dokumenti za borbata na makedonskiot narod za samostojnost i za nacionalna država [Dokumente zum Kampf des makedonischen Volkes für Selbständigkeit und für den Nationalstaat], Bd. 2: Od krajot na Prvata svetska vojna do sozdavanjeto na nacionalna država [Vom Ende des Ersten Weltkriegs zur Gründung des Nationalstaats], Skopje 1981, S. 20.
4 David Footman, Balkan Holiday, London 1935. Der Diplomat hat seine Skopjoter Erlebnisse überdies in belletristischer Form verarbeitet: David Footman, Pig and Pepper, London 1936 (Reprints London 1954 und 1990).
5 Dimitris Livanios, The Macedonian Question. Britain and the Southern Balkans 1939-1949, Oxford 2008.
6 Dies gilt etwa für das Grundlagenwerk von H. R. Wilkinson, Maps and Politics. A Review of the Ethnographic Cartography of Macedonia, Liverpool 1951, sowie für seinen Vergleich des Vardar-Makedoniens vor dem Zweiten Weltkrieg mit demjenigen der Zeit danach: ders., Jugoslav Macedonia in Transition, in: The Geographical Journal 118 (1952) 4, S. 389-405; desgleichen für Keith S. Brown, The Past in Question. Modern Macedonia and the Uncertainties of Nation, Princeton 2003, hier vor allem für das Kapitel zur Alltagsgeschichte einer vardarmakedonischen Kleinstadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Between the Revolutions: Life in Kruševo, S. 103-125). Es gilt überdies für den chronologisch einschlägigen vierten Band der neuesten Gesamtgeschichte Makedoniens Skopjoter Prägung: Ivan Katardžiev, Makedonija megu Balkanskite i Vtorata svetska vojna (1912-1941) [Makedonien zwischen den Balkankriegen und dem Ersten Weltkrieg (1912-1941)], Skopje 2000 (= Istorija na makedonskiot narod, 4); für das bulgarische Gegenstück: Dobrin Mičev u.a. (Hrsg.), Nacionalno-osvoboditelnoto dviženie na makedonskite i trakiijskite bălgari 1878-1944 [Die nationale Befreiungsbewegung der makedonischen und thrakischen Bulgaren 1878-1944], Bd. 4: Osvoboditelnite borbi sled Părvata svetovna vojna 1919-1944 [Die Befreiungskämpfe nach dem Ersten Weltkrieg 1919-1944], Sofija 2003; sowie für Kostadin Palešutskis nüchterne Untersuchung der Makedonien-Politik der Kommunistischen Partei Jugoslawiens in der Zwischenkriegszeit (Jugoslavskata komunističeska partija i makedonskijat văpros 1919-1945 [Die jugoslawische kommunistische Partei und die Makedonische Frage 1919-1945], Sofija 1985).

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