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Titel
Die Erbschaft der Dinge. Eine Studie zur subjektiven Bedeutung von Dingen der materiellen Kultur


Autor(en)
Gößwald, Udo
Erschienen
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
€ 15,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Gorgus, Historisches Museum Frankfurt, Frankfurt am Main

Wir umgeben uns ständig und überall mit Dingen. Statistisch gesehen, bewahren Westeuropäer_innen über 10.000 Stücke zu Hause auf. Noch viel mehr Dinge konserviert der Staat auf gesellschaftlicher Ebene im Museum. Zu manchen Dingen pflegen wir eine besondere Beziehung. Wie deutet nun der Einzelne für sich diese Dinge? Haben die individuellen Bewertungen über das Private hinaus auch eine gesellschaftliche Relevanz? Diesen und anderen Fragen widmet sich die Studie „Die Erbschaft der Dinge“. Es geht Udo Gößwald in seiner nun vorgelegten Dissertationsschrift um die Dinge, die für bestimmte Erfahrungen im Leben stehen und zu denen wir eine besondere Beziehung aufgebaut haben. Gößwald möchte in sechs Schritten zeigen, dass all diese „subjektiven Dimensionen der Dingbedeutungen“ [...] auch einen kulturellen und damit gesellschaftlichen Wert darstellen, der ebenfalls im musealen Raum bewahrt werden sollte“ (S.7). Um diese These zu untermauern, zieht Gößwald in erster Linie psychoanalytische Konzepte heran. Er argumentiert mit Beispielen aus der Literatur, musealen Praktiken (vor allem aus dem Heimatmuseum Neukölln, das Gößwald seit 1985 leitet) sowie mit Erfahrungsberichten aus Seminaren am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität Berlin. Leider erfolgt keine wirkliche Rezeption der mittlerweile doch sehr umfangreichen kulturwissenschaftlichen Forschungen über Mensch-Ding-Beziehungen und über die Sprache der Dinge im Museum.1

Gößwald strukturiert seine Studie analog zum menschlichen Lebensweg. Im ersten Kapitel, „Die Erfahrung der inneren Welt, Schrank und Truhe“ reflektiert er, wie Kinder ihre Umwelt mit Hilfe von Dingen erfahren. Der Schrank mit seinem reichhaltigen Innenleben dient als ein Leitmotiv, um die Bedeutung von Dingen als Bezugspunkt schon im frühen Lebensalter näher zu beleuchten. Dinge ermöglichen Erkundungen von Innerlichkeit und dienen „als Seins- und Sinneserfahrung des eigenen Selbst“ (S. 14), markieren zum Beispiel Übergänge in verschiedene Lebensepochen. Im Kapitel „Über die Aneignung der äußeren Welt“ geht es auch um die Herausbildung frühkindlicher Sammelleidenschaft am Beispiel des Steinsammelns. Hier lassen sich Analogien ziehen zu den allbekannten Überlegungen des Museumstheoretikers Krzysztof Pomian, stellten doch nach Pomian die Steine, die ein Forscher einst in einer Höhle in Frankreich fand, die älteste Sammlung der Welt (S. 30).

Wie Dinge in subjektiven Kontexten immer mehr an Bedeutung gewinnen, beschreibt Gößwald in „Die Suche nach einem Bild der Welt“. Die Dinge dienen zur „Bildung einer gefestigten Identität“ (S. 46), sind Ausdruck unserer Individualität. Dinge tragen auf diese Weise zur Objektivierung des Selbst bei. Gößwald überprüft diese These am Beispiel einer Ausstellung im Heimatmuseum Neukölln: 1995 stellten Leihgeber_innen die Gegenstände vor, die sie an mit dem 50. Jahrestag des Kriegsende 1945 verbanden. Im Kapitel „Trennen und Verbinden: Die Brücke zum Leben“ interpretiert Gößwald die Dinge als „eine Art Wegweiser, die uns eine innere Balance im Leben ermöglichen“ (S. 68). Als Träger „unsichtbarer Bedeutung“ müssen sie erst entschlüsselt werden – das gilt im individuellen, privaten Bereich ebenso wie für Museumsdinge. Mit ihrer Hilfe versichert man sich der Erinnerungen an Familiengeschichte oder Erlebnisse.

Im Kapitel „Das Haus als Ort der Dinge“ beschreibt Gößwald mit Gaston Bachelard das Haus als Speicherort der „gelebte[n] Zeit“ (S. 87). Die Facetten sind weit gefächert und reichen von Wiederentdeckung und glücklicher Kindheitserinnerung bis zum Kunstwerk „House“ der britischen Künstlerin Rachel Whitereads, bei dem eher unheimliche und zerstörerische Aspekte im Vordergrund stehen. All die unterschiedlichen Stränge gehören für Gößwald zusammen. Er wertet das Haus als „symbolischen Ort der Erfahrung einer Ganzheit des Lebens, [..] doch mit der Erbschaft der Dinge behaftet [..] So werden Dinge, die uns umgeben, zu Zeugen eines Veränderungsprozesses, eines Reifungsprozesses, der uns die Tür zur Welt öffnet und uns gleichzeitig die Magie des „Mitgebrachten“ bewahrt“. (S.99)

Das letzte Kapitel „Das Museum des Lebens“ bildet zugleich den Schlussteil. Wie können sich die subjektiven Erfahrungen im kulturgeschichtlichen Museum abbilden? Museumsdinge sind zumeist mit positiven Konnotationen belegt. Deshalb ist das Projekt „Schwierige Dinge“ in Schweden von 2006 besonders reizvoll: hier wurden Dinge gesammelt, gezeigt und diskutiert, die mit traumatischen Erfahrungen wie Katastrophen, Verbrechen, Krankheit etc. verbunden waren. Die Objekte verweisen damit auf „eine neue Form der Formierung des kulturellen Erbes“ (S.107) und deshalb auf einen Paradigmenwechsel in den kulturgeschichtlichen Museen, weil es um die Erweiterung des Kulturerbe-Begriffs geht und nicht so sehr um systemaffirmative Sammlungs- und Deutungspraktiken.

Auch wenn Gegenstände tiefere Bedeutungen für den Einzelnen haben können, was passiert damit im Museum? Gößwald konstatiert eine Ablehnung der persönlichen Erinnerungsstücke im kulturgeschichtlichen Museum, ohne diese näher zu begründen. Er plädiert für „die Integration der subjektiven Bedeutung von Dingen in die Sammlungs- und Ausstellungspraxis eines Museums“ (S. 125). Das Museum sieht er als einen Ort, „an dem wir Dingen, die als Übergangsobjekte fungiert haben, in anderer Gestalt und in einer neuen, dem Lebensverlauf entsprechenden Perspektive begegnen. Es konfrontiert uns mit Dingen, die im doppelten Sinn individuelle und kollektive Erfahrungen repräsentieren und erschließt uns damit zugleich verschiedene Dimensionen des Gedächtnisses als individuelle, soziale und kulturell vermittelte Erinnerungen“ (S. 124f).

Die Objekte haben nach Gößwald einen „Bedeutungsüberschuss“, der im „Museum des Lebens“ gewissermaßen abgerufen werden kann, das heißt „die subjektiven Bedeutungen und die ihnen gespeicherten Erfahrungen“ (S. 126). Das Museum wirkt dann als Erfahrungsraum, „in dem die innere Welt des Individuums mit einer dinglichen Außenwelt vermittelt wird“ (S. 125). Verbunden mit einer narrativen Form können so Objekte im Museum an die eigene Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens gemacht haben, erinnern. Wie können aber die subjektiven Bedeutungen im Museum gesammelt werden? Darauf gibt Gößwald leider keine Antwort. Es verwundert auch, dass hier nicht auf den musealen Präsentationstyp verwiesen wird, der auf die mit den Objekten verknüpften Geschichten vertraut: das in den 1970er-Jahren von Daniel Spoerri und Marie-Louise von Plessen erfundene „Musée sentimental“ erfreut sich bis heute großer Beliebtheit.2

Die Verschränkung von eher literarischen Quellen und Beispielen musealer Praktiken, aus denen Gößwald reichlich schöpfen kann, macht das Buch angenehm lesbar. Manchmal hätte man sich aber doch intensivere Überlegungen gewünscht; insbesondere erzeugt das letzte Kapitel Lust auf mehr.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu stellvertretend die Diskussionen der Tübinger kulturwissenschaftlichen Gespräche anlässlich des 60. Geburtstages von Gottfried Korff: Gudrun M. König (Hrsg.), Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur. Tübinger Kulturwissenschaftliche Gespräche, Band 1, Tübingen 2005; Thomas Thiemeyer: Die Sprache der Dinge. In: <http://www.museenfuergeschichte.de/downloads/news/Thomas_Thiemeyer-Die_Sprache_der_Dinge.pdf> (19.1.2012)
2 Anke te Heesen / Susanne Padberg (Hrsg.), Musée sentimental 1979: ein Ausstellungskonzept, Ostfildern 2011.

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