V. Knigge u.a. (Hrsg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis

Cover
Titel
Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung


Herausgeber
Knigge, Volkhard; Veen, Hans-Joachim; Mählert, Ulrich; Schlichting, Franz-Josef
Reihe
Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg 17
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Peters, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam / Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Nicht weniger als die Geschichte Europas soll bis 2014 in Brüssel museal präsentiert werden, so ist es vom Europäischen Parlament beschlossen. Die Pläne für ein „Haus der Europäischen Geschichte“ stellen derzeit zweifellos das zentrale geschichtspolitische Projekt EU-Europas dar, wurden bisher aber fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorangetrieben. Eine erste große Debatte über das Konzept des zukünftigen Museums fand im Rahmen des 9. Symposiums der Stiftung Ettersberg im Oktober 2010 in Weimar statt1; die Beiträge liegen nun in Form eines Tagungsbands vor.

Immerhin hat das „Haus der Europäischen Geschichte“ bereits einen repräsentativen Sitz im Brüsseler EU-Viertel, ein architektonisches Konzept für dessen Umbau, ein Kuratorium unter Vorsitz des ehemaligen Parlamentspräsidenten Hans-Gert Pöttering sowie eine Direktorin (die Slowenin Taja Vovk van Gaal). Aber darüber, was dort eigentlich präsentiert werden kann und soll, gehen die Meinungen weit auseinander. Das Ansinnen der Weimarer Veranstalter, das Projekt aus dem stillen Kämmerlein endlich in den Mittelpunkt einer öffentlichen Diskussion zu holen, kann deshalb nur begrüßt werden – und dies umso mehr angesichts der eigentlich skandalösen Tatsache, dass selbst der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Hauses und Mitautor seiner „Konzeptionellen Grundlagen“, der Warschauer Historiker Włodzimierz Borodziej, freimütig einräumen muss, die intransparenten Verfahren nicht zu durchschauen, in denen diese Gremien zustande gekommen sind (S. 176).

Vor dem Hintergrund der hochtourigen geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit transnationalen und europäisch vergleichenden Ansätzen sowie neuerdings auch mit „europäischen Erinnerungsorten“2 kann die weitgehende Abwesenheit öffentlicher Debatten über das geplante Museum nur verwundern. Wie Anne Lang und Claus Leggewie an anderer Stelle beklagt haben, ist dieses merkwürdige Schweigen nicht zuletzt der geheimniskrämerischen Öffentlichkeitsarbeit der Projektverantwortlichen geschuldet.3 Deshalb ist auch die Entscheidung der Tagungsband-Herausgeber, die von einem neunköpfigen „Sachverständigenausschuss“ erarbeiteten, 116 Punkte umfassenden „Konzeptionellen Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte“ im Anhang abzudrucken, obwohl diese bereits seit drei Jahren auf der Website des Europaparlaments nachzulesen sind4, entgegen dem ersten Anschein völlig nachvollziehbar.

Kritik am „Haus der Europäischen Geschichte“ kam bisher vor allem von den üblichen Verdächtigen, nämlich Euroskeptikern wie der britischen UK Independence Party, die das Projekt pauschal als Geldverschwendung ablehnen. Außerdem meldeten sich bereits Ende 2008 konservative EU-Parlamentarier aus Polen zu Wort, die sich um die angemessene Berücksichtigung des polnischen Beitrags zur europäischen Geschichte sorgten.5 Derlei Missverständnisse wurden durch ungeschickte Formulierungen in den „Konzeptionellen Grundlagen“ geradezu provoziert, beispielsweise die auf den deutschen Polenfeldzug bezogene Feststellung „Anfang Oktober 1939 erlischt der polnische Widerstand endgültig“ (Punkt 62, S. 216), mit der die Autoren den für das historische Selbstbild der Polen nicht ohne Grund zentralen Widerstand gegen Nationalsozialismus und Kommunismus unter den Tisch fallen ließen.

Auch auf dem Weimarer Symposium wurden sprachliche Unzulänglichkeiten und mangelnde Präzision des Museumskonzepts, das im Wesentlichen eine konventionelle politikgeschichtliche Chronologie des 20. Jahrhunderts mit zunehmendem Schwerpunkt auf den EU-Institutionen bietet, spitz kommentiert, insbesondere von Franziska Augstein (vgl. S. 147f.). Der Leitgedanke der Konferenz sowie des Tagungsbands war jedoch ein anderer: Anstatt den Brüsseler Entwurf einer europäischen Meistererzählung zum Ausgangspunkt zu nehmen, sollten zunächst sechs Experten und eine Expertin auf die Frage antworten, wie europäisch die nationale Erinnerungskultur in ausgewählten Ländern von Spanien bis Russland sei, um von hier aus mögliche Anknüpfungen für eine transnationale Erinnerung zu eruieren.

Die ausgesprochen disparaten Beiträge hinterlassen jedoch insgesamt eher den Eindruck, dass es an der nötigen konzeptionellen Übereinstimmung weitgehend fehlt, was Europäizität in diesem Zusammenhang nun genau bedeuten könnte. Während Etienne François und Günther Heydemann konkrete Bezugspunkte für eine gemeinsame europäische Erinnerung nach Maßgabe ihrer normativ begründeten übernationalen Relevanz vorschlagen (von der Städtetrias Jerusalem – Athen – Rom bis zur italienischen Resistenza), fragen Heidemarie Uhl und Eckart Conze eher nach der Repräsentativität der Erinnerungskulturen Österreichs bzw. des wiedervereinigten Deutschlands im europäischen Vergleich. Sie erblicken diese in der lange umkämpften, heute aber etablierten Hegemonie des Holocaust-Gedenkens sowie darin, dass der deutsche Fall die gesamteuropäische Ost-West-Spaltung der Erinnerung an nationalsozialistische und kommunistische Verbrechen auf nationaler Ebene widerspiegele.

Diese Spaltung wird im vorliegenden Band erneut evident: Als Vertreter einer ostmitteleuropäischen Historiographie weist Robert Traba schon die übergreifende Fragestellung als „Provokation“ zurück und pocht auf die Autonomie der nationalen Erinnerungsgemeinschaften, denn „jede nationale Erinnerungskultur in Europa ist doch implizit europäisch“ (S. 71). Die homogenisierende Gegenposition – die man frei nach Schiller auf den Satz zuspitzen könnte: „Wir wollen sein ein einig Volk von Opfern“ – vertritt nicht zufällig der Franzose Gilbert Merlio. Aus seiner Sicht „fußt die heutige europäische Identität […] auf der Erinnerung an die Leiden, die allen europäischen Völkern, angefangen mit den Deutschen selber, von den Diktaturen des 20. Jahrhunderts zugefügt worden sind“ (S. 97). Alexander Vatlins Beitrag über die russische Erinnerungskultur erweist sich schließlich als gelungene Relativierung des kleineuropäischen Horizonts, in dem allzu oft aus dem Blick gerät, dass ein „Haus der Europäischen Geschichte“, welches sich von gegenwartsbezogenen politischen Engführungen lösen will, „vom Atlantik bis zum Ural reichen“ müsste (S. 135) – selbst wenn Vatlin konzediert, dass es bis dahin vor allem für die russische Seite noch ein weiter Weg sei.

Derart divergierende Ansprüche und Deutungsmuster unter einen Hut zu bekommen (sei es durch inhaltliche Übereinkünfte oder die Anerkennung von Verschiedenheit), dürfte noch einiges an Arbeit voraussetzen. Das wird auch in den Statements zum Museumskonzept und in der abschließenden Podiumsdiskussion deutlich. Anstelle der Frage nach den konkreten Bausteinen einer europäischen Meistererzählung bewegt die Diskutanten dabei vor allem, ob und auf welchem Wege eine solche überhaupt Gestalt annehmen könne. Grundsätzliche Bedenken äußert neben anderen Eckart Conze, der eine in erster Linie auf legitimatorische Effekte zielende „europäische Geschichtsschreibung im Sinne und in der Tradition der kleindeutsch-borussischen Historiographie des 19. Jahrhunderts“ ablehnt (S. 48). Auch Volkhard Knigge problematisiert den Top-Down-Charakter des Brüsseler Projekts, das er als kompensatorisches „Produkt kaum kommunizierter europäischer Kabinettspolitik“ wahrnimmt (S. 163). Statt sich auf die identitätspolitisch motivierte Aushandlung eines europäischen Gedächtnisses des kleinsten gemeinsamen Nenners zu konzentrieren und dann zu versuchen, diese „Geschichtsbilder mit der Dampframme einzupflanzen“ (S. 164), sei zunächst einmal eine Debatte über Formen und Bedingungen legitimer Geschichtspolitik im transnationalen Rahmen vonnöten.

Die protestantisch anmutende Arbeitsmetaphorik im Titel des Bandes kommt also nicht von ungefähr: Dass nach der „Aufarbeitung“ der deutschen Vergangenheit nunmehr auch die „Arbeit am europäischen Gedächtnis“ als mühsamer, aber notwendiger Prozess gedacht werden müsse, lässt sich als gemeinsame Botschaft des Großteils der Beiträge verstehen. Die Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Diskussion, die der Sammelband leistet, macht deutlich, dass auf dem weiten Weg zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerung von oben dekretierte Abkürzungen kaum weiterhelfen dürften. Wenn Włodzimierz Borodziej voraussagt: „Es wird noch viel Ärger geben mit diesem Projekt“ (S. 146), so kann man nur inständig hoffen, dass der vorliegende Band dafür die Initialzündung liefert. Anderenfalls dürfte am Ende Hans-Peter Schwarz recht behalten, der davon abrät, sich zu viele Gedanken über die Potenziale gemeinsamer europäischer Narrative zu machen. Er jedenfalls habe nichts dagegen, wenn am Ende „eine Werbeveranstaltung der Europäischen Union in einem hübschen Schlösschen“ entstünde, „ähnlich wie BMW in München ein BMW-Museum hat“ (S. 184).

Anmerkungen:
1 Vgl. den Tagungsbericht von Elisabeth Kübler, 16.12.2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3440> (18.1.2012).
2 Pim den Boer / Heinz Duchhardt / Georg Kreis / Wolfgang Schmale (Hrsg.), Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2011/12.
3 Im Interview mit Anne Lang verteidigte Hans-Gert Pöttering dieses Vorgehen mit den Worten: „Wenn wir jetzt die thematische Debatte bis in jedes Detail führen würden, bevor wir das Fundament gelegt haben, dann zerstören wir das Fundament.“ Siehe Claus Leggewie / Anne Lang, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 182-188, hier S. 185.
4 <http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2004_2009/documents/dv/745/745721/745721_de.pdf> (18.1.2012).
5 Vgl. <http://www.roszkowski.pl/www/media/files/aktualnosci/2008/34/List_ws_Domu_Historii.pdf> (18.1.2012).