V. Dohrn u.a. (Hrsg.): Transit und Transformation

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Titel
Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918-1939


Herausgeber
Dohrn, Verena; Pickhan, Gertrud
Erschienen
Göttingen 2010: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Kury, Historisches Institut, Universität Bern

Seit den 1990er-Jahren wird in Deutschland wieder intensiv über die Zuwanderung und Integration von Ausländern debattiert. Diese Entwicklung führte auch zu einem gewachsenen Interesse an historischer Migrationsforschung. Zwar bieten historische Erkenntnisse keine direkten Lösungsansätze zur Bewältigung gegenwärtiger Herausforderungen. Die Debatte darüber, wie viel kulturelle Heterogenität bzw. Homogenität städtischen Gesellschaften zuträglich ist oder welcher Wertekonsens ein Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund befördert, gewinnt durch den Blick in die Vergangenheit jedoch an Sachlichkeit. So lernen historisch Interessierte, dass der Umgang mit großer kultureller Heterogenität und hoher räumlicher Mobilität für Gesellschaften vor 1933 eine weitaus größere Selbstverständlichkeit darstellte als für Zeitgenossen nach 1945.

Der Bezug zu den Multi- und Trankulturalitätsdebatten der Gegenwart stand auch am Anfang des Projekts „Charlottengrad und Scheunenviertel“, das die osteuropäisch-jüdische Geschichte Berlins erforscht. Während das „russische Berlin“ – so die Herausgeberinnen – dank den Arbeiten von Karl Schlögel gut untersucht ist, habe bisher eine systematische Untersuchung zur Geschichte der jüdischen Zu- und Durchwanderer aus Osteuropa im Berlin der Zwischenkriegszeit gefehlt. Dass diese Lücke nun geschlossen werden soll, ist auch vor dem Hintergrund der aktuellen, teilweise xenophob aufgeladenen Debatten sehr zu begrüßen, denn gerade das damalige Berlin mit seinen unter anderem osteuropäisch-jüdischen Zuwanderern zeichnete sich durch eine ausgeprägte soziale, sprachliche und religiöse Vielfalt aus.

Die Ergebnisse des von der DFG seit 2008 geförderten Projekts „Charlottengrad und Scheunenviertel“ sollen in der gleichnamigen Buchreihe veröffentlicht werden. Den Auftakt macht der von Gertrud Pickhan und Verena Dohrn herausgegebene Sammelband „Transit und Transformation“, der den transitorischen Charakter Berlins für jüdische Migranten aus Osteuropa in den Mittelpunkt rückt. Der Band enthält neben einer von Verena Dohrn und Anne-Christin Saß verfassten Einführung 18 teilweise essayistische Beiträge von amerikanischen, britischen, russischen und deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die Beiträge wurden erstmals im Oktober 2009 auf einer Konferenz zur Diskussion gestellt, die gemeinsam mit dem Jüdischen Museum Berlin und dem Leo Baeck Institut veranstaltet worden war.

Der Band, der in vier inhaltliche Kapitel mit jeweils vier bis fünf Beiträgen gegliedert ist, legt ein breites Spektrum kulturwissenschaftlicher Studien zur jüdischen Migration aus Osteuropa vor. Dabei liegt das Hauptgewicht auf literaturhistorischen und publizistischen Fragestellungen. Das Kapitel „Topographie“ fragt nach der Bedeutung Berlins für die jüdische Migration vor 1933 und innerhalb der Stadt nach den Orten der Erinnerung. Am Beispiel der Berliner Cafés und literarischen Clubs wird der Rolle von Erinnerungsorten für die Entwicklung der hebräischen und jiddischen Literatur und Presse in der Zwischenkriegszeit nachgegangen. Im Kapitel „Identifikation“ werden kulturelle, politische und soziale Betätigungsfelder für jüdische Exilanten in Berlin beleuchtet. Bereits im Dezember 1909 hatte, wie der Beitrag von Tamara Or zeigt, in Berlin die erste „Konferenz für hebräische Sprache und Literatur“ stattgefunden, so dass Berlin in der Zwischenkriegszeit und vor dem Hintergrund der Migration von Tausenden von Jüdinnen und Juden aus Osteuropa für kurze Zeit zu einem Zentrum des Hebräischen aufstieg. So wurden im Berlin der Weimarer Republik zahlreiche Verlage gegründet, die neben deutsch in jiddischer oder hebräischer Sprache publizierten. Berlin erwies sich aber auch für politische Exilanten unterschiedlicher Couleurs als ideales Betätigungsfeld. Die Stadt bot einen geeigneten Ort, um die Entwicklungen in der Sowjetunion kritisch zu beobachten, zu analysieren und politisch tätig zu werden. Oleg Budnitskiis Untersuchung zu Alexis A. Goldenweisers Bolschewismuskritik und Markus Wolfs Beitrag zum „Vaterländischen Verband“ dokumentieren die häufig unterschätzte antibolschewistische Publizistik und Agitation von jüdischer Seite. Das Kapitel „Netzwerke“ befasst sich mit der Rolle Berlins als Zentrum jüdischer Hilfstätigkeit für Migranten und Arbeitssuchende sowie als Standort von Vereinen und politischen Organisationen. Der Bogen reicht von linksradikalen politischen Organisationen über die ORT (jüdische Handwerker- und Landarbeiterhilfe) bis hin zu zionistischen Zirkeln. Das Kapitel „Wahrnehmungen“ schließlich setzt sich am Beispiel verschiedener Autoren – genannt seien Micha Joseph Berdyczewski und Moyshe Kulbak – und anderer mit Berlin als Faktor und Produkt literarischer Erinnerung auseinander. Weiter legt Jeffrey Wallen einen Vergleich jüdischer Lebenswelten im Exil des Berliner Scheunenviertels und von Boyle Heights in Los Angeles vor.

Die Beiträge dokumentieren eindrücklich die soziale und sprachlich-kulturelle Heterogenität der osteuropäisch-jüdischen Lebenswelten in Berlin, die, wie Verena Dohrn und Anne-Christin Saß in ihrer Synthese einleitend festhalten, politisch durchaus entlang der Konfliktlinien der Weimarer Republik verlaufen sind. Gleichzeitig ist zu ergänzen, dass die osteuropäisch-jüdischen Migranten mit zionistischen und bundistischen Vereinen auch eigene Konfliktlinien ausbildeten. Zudem plädieren Dohrn und Saß mit Nachdruck dafür, das Gegensatzpaar „Ostjuden – Westjuden“ für das Berlin der Weimarer Zeit zu relativieren und zu differenzieren. Dem ist beizupflichten, wenn es darum geht, eine allzu rasche sozio-ökonomische Differenzierung zu skizzieren. Wenn das Oppositionspaar jedoch dazu dient, auf verschiedenartig verlaufene kulturelle und religiöse Prozesse hinzuweisen, die sich besonders im 18. und 19. Jahrhundert für die jeweiligen geographischen Räume durchaus festmachen lassen, besitzt die Unterscheidung noch immer ihre Berechtigung.

Die Hauptthese des Bandes fokussiert auf die Bedeutung Berlins als zeitlich begrenzter Aufenthalt, sozusagen als Zwischenraum für jüdische Migranten aus Osteuropa – dies etwa im Gegensatz zu London, Paris oder auch Zürich. Für diese These nimmt der Beitrag von Tobias Brinkmann „Ort des Übergangs – Berlin als Schnittstelle der jüdischen Migration aus Osteuropa nach 1918“ eine zentrale Rolle ein. Dazu gilt es Folgendes vorauszuschicken: Die sozialen und wirtschaftlichen Transformationen im ausgehenden 19. Jahrhundert hatten große Teile der jüdischen Bevölkerung Osteuropas ins Elend gestürzt. Im Zuge politischer und ökonomischer Krisen in Osteuropa nahm die judenfeindliche Stimmung zu. Nach der Ermordung des russischen Zaren Alexander II. am 1. März 1881 setzte eine – teilweise gesteuerte – antisemitische Welle ein, die ihren Höhepunkt in verschiedenen Pogromen fand. Diese Ausschreitungen, vor allem jedoch die andauernde wirtschaftliche Notlage führten zu einer fluchtartigen Massenauswanderung. Während der sogenannten „großen Wanderung“ zwischen 1881 und dem Ersten Weltkrieg und dann wieder aufgrund nationalistischer Unruhen mit pogromartigen Ausschreitungen an verschieden Orten Osteuropas nach dem Ersten Weltkrieg flohen mehrere Millionen Juden in Richtung Westen. Der Großteil suchte in den Vereinigten Staaten von Amerika eine neue Heimat, ein geringer Teil siedelte nach Südamerika, insbesondere nach Argentinien, aber auch nach Südafrika über; einige wenige wanderten nach Palästina aus. Zehntausende verblieben hingegen in den städtischen Zentren in Mittel- und Westeuropa, in Warschau, Riga und Wien, in Paris und London. Innerhalb dieser Entwicklung bildete Berlin – wo die preußischen Behörden die Zuwanderung aus dem Osten einzuschränken suchten – in der Regel kein dauerhaftes Asyl für jüdische Migranten, sondern eine Durchgangsstation auf dem Weg Richtung Atlantikhäfen und Übersee. Als nach dem Ersten Weltkrieg die Einreisebestimmungen in amerikanischen und europäischen Staaten verschärft wurden und sich die jüdische Bevölkerung Osteuropas zugleich mit neuen Ausschreitungen konfrontiert sah, wurde nun aber auch Berlin, wie Brinkmann und andere eindrücklich zeigen, zu einem Aufenthaltsort für jüdische Migranten. Die Stadt avancierte für kurze Zeit zu einem „Dreh- und Angelpunkt der jiddischsprachigen Diaspora“ (Brinkmann, S. 33). So ermöglichte das Weimarer Berlin einigen Zehntausend, meist Kriegs-, Pogrom- und Revolutionsflüchtlingen, einen länger währenden Aufenthalt. In den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg waren die Aufenthaltsbestimmungen für jüdische Migranten trotz der sogenannten Ostjudenerlasse nicht ungünstig, da die Zuwanderung in eine Phase rasanten Wachstums fiel, in der sich die Bevölkerungszahl der werdenden Metropole verdoppelte. Nach 1933 wurde Berlin jedoch, wie Dohrn festhält, zum „Unort“ (Dohrn/Saß S. 22) für jüdische Migranten aus Osteuropa. Viele von ihnen zogen weiter und konnten sich vor den Nationalsozialisten in Sicherheit bringen. Dass zuvor die Zeit gefehlt hatte, am neuen Ort heimisch zu werden, hat sich vor dem Hintergrund der verbrecherischen Politik der Nationalsozialisten zynischerweise als Vorteil erwiesen.

Die Beiträge dieses Sammelbands erhellen ein bisher stark vernachlässigtes Kapitel deutscher Migrationsgeschichte. Es zeigt, dass Migranten mit bescheidenen ökonomischen Möglichkeiten zum kulturellen Reichtum die Stadt Berlin vor 1933 beigetragen haben. Der etwas einseitige Zugang über literaturhistorische Fragestellungen schuldet sich der Quellensituation, denn Transmigranten hinterlassen weniger Spuren als fest niedergelassene Zuwanderer. Auf die weiteren Forschungsergebnisse des Projekts „Charlottengrad und Scheunenviertel“ darf man gespannt sein.

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