R. Tuchtenhagen: Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitl. Nordosteuropa

Titel
Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa.


Autor(en)
Tuchtenhagen, Ralph
Reihe
Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 5
Erschienen
Wiesbaden 2009: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Unter den zahlreichen Hervorbringungen der älteren Imperien-Forschung wie der neueren komparativen Beschäftigung mit Empires, die Titel wie „Imperienvergleich“ (2009) oder „Comparing Empires“ (2003) tragen, sucht man Studien zu einem regional wie epochal nahe liegenden Vergleichspaar vergebens – zu den Reichsbildungen Schwedens und Russlands der frühen Neuzeit. Und auch kulturhistorische Vergleiche beider nordosteuropäischer Großmächte erweisen sich bei näherer Betrachtung häufig als bloße Gegenüberstellungen mit dem Fokus auf den Herrschergestalten von Karl XII. und Peter I., „dem Großen“.1 Wegweisende Ausnahme ist Claes Petersons vor über 30 Jahren veröffentlichte transfergeschichtliche Studie zur Übernahme schwedischer Rechts- und Verwaltungsprinzipien durch eben diesen Romanov-Herrscher.2 Immerhin hat seitdem die Wirtschaftsgeschichtsschreibung die Ökonomien und Gesellschaften beider septentrionaler Imperien unter dem Rubrum von „iron-making societies“ vergleichend in den Blick genommen.3

Die Heidelberger Habilitationsschrift des Berliner Russland- und Nordeuropahistorikers Ralph Tuchtenhagen stellt nun einen historisch-diachronen wie strukturell-synchronen Vergleich der beiden Vormächte im frühneuzeitlichen Nordosteuropa an, wobei die jeweilige zentralstaatliche Politik in den bis 1710 schwedisch, sodann russländisch beherrschten Ostseeprovinzen – also Estland, Ingermanland, dem Län Kexholm (Karelien), Livland sowie der großen Insel Ösel – als Komparationsfolie dient. In sieben Hauptkapiteln dekliniert der Autor diesen auf das „schwedische“ 17. Jahrhundert und das „russländische“ 18. Jahrhundert bezogenen Ansatz für die Bereiche „Territorialverwaltung“, „Recht und Justiz“, „Militär“, „Kirche und Sozialdisziplinierung“, „Bildung und Staatsdienst“, „Finanzstaat, Merkantilismus, Kameralismus und Physiokratie“ sowie „Sozialstruktur und sozialer Wandel“ durch. Der Umfang dieses gewaltigen Forschungsprogramms wird noch dadurch gesteigert, dass bezüglich einiger dieser Bereiche die gesamtstaatliche Ebene erst noch aufwendig historisch rekonstruiert werden musste. Entsprechend ist die Gliederung der meisten Kapitel eine vierteilige: (1) Gesamtschwedische Ebene, (2) schwedische Ostseeprovinzen, (3) gesamtrussländische Ebene und (4) russländische Ostseeprovinzen.

Diese durch eine disparate Forschungslage bedingte Tiefenstaffelung macht das Buch zum einen zu einem veritablen Kompendium der Verwaltungs-, Rechts-, Militär-, Kirchen-, Sozial-, Bildungs-, Wirtschafts- und Finanzgeschichte Schwedens im 17. und Russlands im 18. Jahrhundert. Zum anderen macht dieser Kompendiumscharakter das Buch zu einer nicht eben leichten Lektüre. Daran ändern auch die knappen einführenden und resümierenden Passagen der einzelnen Kapitel wenig, wie auch der als „Einleitung“ überschriebene sehr kurze Abschnitt zur Hälfte aus Technikalien besteht (S. 9-18) und die „Zusammenfassung“ einem hoch verdichteten Abstract gleichkommt (S. 440-449). Das überaus umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis listet die Bestände von nicht weniger als 15 vom Autor konsultierten Archiven in Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Deutschland und der Russländischen Föderation sowie ein vielsprachiges Korpus an gedruckten Quellen und Fachliteratur auf (S. 451-569). Ein geographisches und ein Personenregister erschließen den Band. Die beiden faksimilierten historischen Farbkarten „Die skandinavischen Königreiche“ (1715) und „A New Map of the Baltick“ (ca. 1727) im inneren Einband sind kaum lesbar, wie auch die beigegebenen Erläuterungen nur dem Experten nützen. Hier wären schematisierte Kartenskizzen deutlich hilfreicher gewesen.

Im Ergebnis zeigt die Untersuchung neben zahlreichen Parallelen vielfältige Unterschiede: Das Militärwesen wurde in beiden Reichen durch das zentralstaatliche Element dominiert, wohingegen die Provinzpolitik der Zentrale (und die Politik der Ostseeprovinzen selbst) zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führte: Im schwedischen Fall zu weitreichender Integration in einen von militärischen Bedürfnissen bestimmten Zentralstaat sowie zur Beförderung des Entstehens eines modernen Staatswesens, im russländischen Fall zur nur partiell erfolgreichen Eingliederung einer in mehrfacher Hinsicht hoch entwickelten Region in einen Gesamtstaat mit deutlich niedrigerem Entwicklungsniveau. Wenig überraschend gestaltete sich die Position der regional dominierenden lutherischen Kirche im protestantischen Schweden deutlich anders als im orthodoxen Russland. Und was Recht und Justiz betrifft, bestätigt der Autor Petersons Erkenntnisse einer Kontinuität durch Transfer aus Schweden ins Zarenreich. Frappierend ist die Konstanz in der Stellung der privilegiengepanzerten (Hafen-)Städte der Ostseeprovinzen, die auf deren verkehrsökonomischer wie handelspolitischer und damit fiskalischer Bedeutung für beide Gesamtstaaten beruhte. Eine weitere Parallele ist die kontinuierliche Verbesserung der ökonomischen, sozialen und rechtlichen Lage der Bauern sowohl unter Stockholm als auch unter St. Petersburg. Der Autor erklärt die zentralstaatliche Politik der Besserstellung der Bauern überzeugend mit einem angestrebten „Ständeausgleich“ zwischen der Ritterschaft, also dem gutsbesitzenden Adel, und der Bauernschaft. Ziel dabei war ein Loyalitätsgleichgewicht und damit einer Stärkung zentralstaatlicher Herrschaft. Mit Blick auf die epochal wie thematisch weit gespannte Fragestellung des Autors wirkt die Detailkritik vor allem estnischer Fachkollegen an einigen regionalhistorischen Aspekten seiner analytischen Synthese streckenweise beckmesserisch.4

„Schweden und Russland! – Was liegt nicht alles in der Zusammenstellung dieser Worte, – die so wenig zusammenpassen, dass sie sich gegenseitig gegen die kleine Konjunktion und aufzulehnen scheinen, die sie wie ein schmaler Steg über einen Abgrund hinweg verbindet, aus welchem man die Brandung hört und die Gischt einer vielhundertjährigen Feindschaft aufsteigt.“ Was der Gründervater der schwedischen Geschichtswissenschaft Erik Gustaf Geijer 1838 festzustellen glaubte5, wird in Ralph Tuchtenhagens umfangreicher Studie teils bestätigt, teils widerlegt: Sicher war Feindschaft, in Stockholmer Perspektive gar Erbfeindschaft zwischen dem Moskauer Staat bzw. dem Russländischen Reich und Schweden ein Signum der hier mit Klaus Zernack als „Zeitalter der nordischen Kriege“ apostrophierten frühen Neuzeit in der Ostseeregion. Hinsichtlich staatlicher Maximen, Handlungsweisen und Strukturen wiesen beide benachbarte Gemeinwesen aber große Ähnlichkeiten auf – was sich nicht zuletzt in der Politik gegenüber den zu Beginn des 18. Jahrhunderts vom Territorialbestand Stockholms in denjenigen St. Petersburgs übergegangenen Ostseeprovinzen manifestierte. Zugleich prägten die zwischen 1561 und 1629 erworbenen transbaltischen Besitzungen das schwedische Ostseereich entscheidend, ja bildeten die Voraussetzung für das Eingreifen in den Dreißigjährigen Krieg und für die weiteren Expansionsschübe des 17. Jahrhunderts nach Norddeutschland und in vormals dänisches Gebiet. Und von Peter I. bis zu den Revolutionen des Jahres 1917 fungierte „das Baltikum“ (Pribaltika) als Modernisierungsmotor oder zumindest -vorbild für Russland.

In seinem Schlusssatz spricht der Autor von einer „allgemeine[n] frühneuzeitliche[n] Strukturgeschichte in einem spezifischen Raum Nordosteuropa […], der unabhängig von den jeweiligen namengebenden Staaten spezifische Handlungsbedingungen hervorbringt und die staatlichen Akteure zu einem spezifischen politischen Handeln veranlasst“ (S. 449). Damit ordnet er seine grundlegende Untersuchung überzeugend in das von Klaus Zernack in den 1970er-Jahren begründete geschichtsregionale Forschungsparadigma eines frühneuzeitlichen „Nordosteuropa“ ein, wie es seitdem hierzulande wie im Ostseeraum selbst ein zwar verhaltenes, aber in der Summe produktives Echo gefunden hat.6

Anmerkungen:
1 Sverker Oredsson (Hrsg.), Tsar Peter och Kung Karl. Två härskare och deras folk [Zar Peter und König Karl. Zwei Herrscher und ihr Volk], Stockholm 1998; Per Sandin (Hrsg.), Peter den store och Karl XII i krig och fred [Peter der Große und Karl XII. in Krieg und Frieden], Stockholm 1998.
2 Claes Peterson, Peter the Great’s Administrative and Judicial Reforms. Swedish Antecedents and the Process of Reception, Stockholm 1979.
3 Maria Ågren (Hrsg.), Iron-Making Societies. Early Industrial Development in Sweden and Russia, 1600-1900, New York 1998 (Reprint 2003).
4 Vgl. die detaillierte kritische Stellungnahme von Enn Küng, Uurimus riigi ja provintside suhetest varauusaegses Baltikumis [Eine Untersuchung über die Beziehungen des Staates und der Provinzen im frühneuzeitlichen Baltikum], in: Akadeemia 2009, Nr. 12, S. 2353-2373, sowie die Besprechungen von dems. und Mati Laur in: Forschungen zur baltischen Geschichte 5 (2010), S. 315-323; ders. und Andres Andresen, in: Journal of Baltic Studies 43 (2010), S. 396-399.
5 Zitiert nach Alekxander Kan, Sverige och Ryssland. Ett 1200-åriga förhållande [Schweden und Russland. Ein 1200-jähriges Verhältnis], Stockholm 1996, S. 7.
6 Klaus Zernack, Das Zeitalter der nordischen Kriege als frühneuzeitliche Geschichtsepoche, in: Zeitschrift für Historische Forschung 1 (1974), S. 55-79. Vgl. auch Stefan Troebst, Klaus Zernack als Nordosteuropahistoriker, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2001), S. 572-586; Ralph Tuchtenhagen, Osteuropaforschung in der nordeuropäischen Historiographie, Lüneburg 2001.

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