K. Acham: Kunst und Wissenschaften aus Graz

Acham, Karl (Hrsg.): Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz. Werk und Wirken überregional bedeutsamer Künstler und Gelehrter: vom 15. Jahrhundert bis zur Jahrtausendwende. Wien 2009 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-205-77706-9 784 S. € 59,00

Acham, Karl (Hrsg.): Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften aus Graz. Zwischen empirischer Analyse und normativer Handlungsanweisung: wissenschaftsgeschichtliche Befunde aus drei Jahrhunderten. Wien 2010 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-205-78467-8 687 S. € 59,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Konrad Kobald, Wien

Mit dem vom Grazer Soziologen, Sozialphilosophen und Wissenschaftshistoriker Karl Acham als Herausgeber konzipierten Sammelwerk „Kunst und Wissenschaft aus Graz“ liegen nun insgesamt drei umfangreiche Teilbände vor, welche die Grazer Wissenschaftsgeschichte seit dem 15. Jahrhundert historisch darstellen und wissenschaftstheoretisch untermauern. Der Herausgeber stellt in seinem historischen Wissenschaftsprojekt die Wirkungsgeschichte der wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Leistungen aus Graz in den Vordergrund und bettet diese in sozialhistorische und geographische Deutungsmuster ein.

Der erste Band „Naturwissenschaften, Medizin und Technik aus Graz“ erschien bereits 2007.1 Diese Rezension bespricht die beiden jüngeren Bände „Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz“ (Bd. 2) und „Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften aus Graz“ (Bd. 3). Sie umfassen insgesamt mehr als 1.400 Seiten wissenschaftshistorischer, biografiehistorischer sowie wissenschaftstheoretischer Darstellungen, womit klar ist, dass dem Leser kein historiographisches Kompendium vorgelegt wird, sondern eine historische Chronik mit für die Grazer Wissenschaftsentwicklung zentralen Ereignissen und Personen. Die von Karl Acham gesammelten Aufsätze stammen durchweg von renommierten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen (zum Beispiel Clemens Albrecht, Maria Elisabeth Reicher, Maximilian Liebmann oder Heinrich Kleiner) und stellen durch ihre inhaltliche Vielfalt einen wichtigen Beitrag zur regional-österreichischen Wissenschaftsgeschichte dar. Ungeachtet der inhaltlichen Ausrichtung und der empirischen Dichte kann man den Herausgeber also keineswegs als einen Positivisten bezeichnen, dem an reiner Faktensammlung gelegen wäre.

Die Beiträge stellen das historische Phänomen „Wissenschaft“ entlang dem historischen Prinzip des Aktualismus dar, wobei die einzelnen Beiträge aber qualitativ und epistemologisch selbstständige Texte darstellen. Sprachlich finden sich elaborierte Texte (zum Beispiel, „Vorbemerkungen: Über konstruktive und destruktive Interferenzen in der Wissenschaft, Bd. 3, S. 107-117) genauso, wie informativ-spannende Textpassagen (etwa M. Prisching, „Joseph A. Schumpeter als Soziologe. Ein Rückblick auf Zeitdiagnosen und Zukunftserwartungen, Bd. 3, S. 449-479). Die Sammelbände stellen in wissenschaftshistorischer Perspektive die Entstehung und Entwicklung der einzelnen Teilgebiete am Beispiel herausragender Proponenten vor, wobei in den einzelnen Darstellungen auch deren wichtigste Opponenten ebenfalls zur Sprache kommen. Die beiden Sammelbände bieten somit weder einen positivistischen noch einen haltlos relativistischen Blick, sondern vielmehr einen wissenschaftsgeschichtlich-kontextualisierenden, mit vorwiegend regionalem Graz-Bezug, der in größere historische und gesellschaftliche Beziehungen eingebettet ist. Eine Herangehensweise, die angesichts des vielfältigen Materials geboten erscheint, um eine gewisse Stringenz zu gewährleisten. Es sei hier noch angemerkt, dass „aus Graz“ in weiter Bedeutung verstanden werden muss: „Es geht um Leistungen von Künstlern und Gelehrten, die hier geboren, entweder hier geblieben oder aber von hier weggezogen, aber oft auch hier zugezogen sind.“ (Bd. 2, S. 11) Die Verbindung von regionalen und überregionalen Bezügen gibt den Bänden eine spürbare Vitalität, die dem Leser die Bewältigung des Stoffes erleichtert.

So werden in Band 2 „Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz“ in vier Kapiteln (Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz vom 15. Jhdt. bis zum 19. Jhdt; Kunst in Graz seit dem 19. Jahrhundert; Geisteswissenschaften in Graz seit dem 19. Jahrhundert; Zur allgemeinen Lage der Geisteswissenschaften heute) dargestellt und in Band 3 „Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften aus Graz“ in V Kapiteln (Kulturelles Erbe und Wissenschaftsdynamik – Ein Blick zurück; Interdisziplinäre Verschränkung und ideologiekritische Distanzierung – Exemplarische Fälle; Rechtswissenschaften; Sozial- und Wirtschaftswissenschaften; Komplementarität und Pluralität in Wissenschaft und Politik) wissenschaftliche Befunde „zwischen empirischer Analyse und normativer Handlungsanweisung“ in ihren historischen sowie aktuellen Perspektiven nachgezeichnet.

Mit ihrer Konzentration auf die Geisteswissenschaften und die Künste schließen die beiden Bände eine wissenschaftshistorische Lücke, „da der Geschichte der Wissenschaft in der Steiermark ganz allgemein, den Geisteswissenschaften im besonderen, nur sehr geringe Aufmerksamkeit zuteil wird.“ (S. 9) So begegnen uns klingende Namen wie der des Komponisten Johann Joseph Fux oder jener der Fotografin Inge Morath in trauter Symbiose mit weniger bekannten Namen wie Karl Luick, der zwar ein einflussreicher Denker in den englischen Sprachwissenschaften war, einer breiteren Bevölkerung aber wenig bekannt ist.

Kapitel I stellt die regionalen Besonderheiten wissenschaftlicher Entwicklung dar: Diese wurden im behandelten Zeitraum von Glaubenskriegen und Staatsbildungsprozessen, in sozialer Hinsicht von der Kirche und dem Adel geprägt. Gerade in der Kleinräumigkeit von Graz wirkten diese historischen Rahmenbedingungen besonders stark konservierend, da der rigide Konfessionalismus die humanistischen Bestrebungen der Renaissance nachhaltig einschränkte, wodurch die gesamte Wissenschaftsentwicklung eine geringe Dynamik entwickelte. Bis weit ins 16. Jahrhundert prägte der Einfluss des Adels die künstlerischen Belange, wissenschaftliche Interessen wurden kaum gefördert: Noch 1729 beurteilte die Wiener Hofkanzlei die Leistungen der Grazer Universitäten äußerst kritisch. Eine kunsthistorische Zeitreise führt den Leser an den Madrider Hof der durch Kunst, Religion und Familienpolitik dem Grazer Hof eine Zeitlang verbunden war. Ein Abriss der historischen Baukunst der Renaissance und des Barock zeigt den Wettstreit zwischen den beiden großen christlichen Bekenntnissen. Auf den von den steirischen Landständen in Auftrag gegebenen Bau des Grazer Landhauses mit seinem prächtigen Renaissance-Arkadenhof antworteten die Habsburger mit dem in der Innengestaltung frühbarocken Jesuitengebäude, das den Einfluss des Ordens in der gesamten Region zum Ausdruck bringen sollte. Ein Aushängeschild der künstlerischen Entwicklung auf dem Gebiet der Musik stellt Johann Joseph Fux (1660–1741) dar, welcher „steirische Kunst von europäischem Rang schuf“ (S. 137).

In Kap. II wird deutlich, dass auch im regionalen Umfeld von Graz seit dem 19. Jahrhundert mit dem Aufstieg des Bürgertums eine stärkere Differenzierung der Künste einherging. Im Jahr 1923 wurde beispielsweise von den drei Malern Fritz Silberbauer, Alfred Wickenburg und Wilhelm Thöny die Grazer Sezession gegründet, die zum Aushängeschild der modernen Malerei wurde. Die Kunsthistorikerin Antje Senarclens de Grancy legt in ihrem Aufsatz zur „Architektur zwischen Großstadt und Provinz“ dar, dass sich in Graz eine „bodenständige Moderne als Modell der Zwischenkriegszeit“ (S. 217) etablierte. Auf musikalischem Gebiet begegnen uns in diesem Kapitel unter anderem die Sängerin Gundula Janowitz und der Pianist Alfred Brendel, um nur zwei wichtige Namen zu nennen. Die Gründung des Musikverein für die Steiermark im Jahr 1815 steht für die rege bürgerliche Musikkultur in Graz, die unter anderem durch Nikolaus Harnoncourt bis in der Gegenwart fortgesetzt wird (Festival styriarte), Erich Kleinschuster steht für die lebendige Jazzszene der Stadt, an deren Musikhochschule Jazz bereits früh als Unterrichtsfach etabliert war. Biografisch orientierte Beiträge zu Film (Carl Mayer) und Fotografie (Inge Morath) ergänzen die Übersichtsdarstellungen.

Beim literarisch-historischen Streifzug durch Graz, Österreichs „unheimliche Literaturhauptstadt“ (S. 299), begegnen uns Johann Nepomuk Nestroy, der seine letzten Lebensjahre in Graz verbrachte, Peter Rosegger, der bosnische Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić, der in Graz studierte und eine Doktorarbeit in deutscher Sprache verfasste, Peter Handke oder Franz Innerhofer. In jüngerer Vergangenheit entstand das Forum Stadtpark und Wolfgang Bauer und Werner Schwab beherrschten lange Jahre die Grazer Theaterszene.

Mit Kap. III liegt ein kompakter historischer Aufriss der „Geisteswissenschaften in Graz seit dem 19. Jahrhundert“ vor, in dem Sprachwissenschaften, Philologie, Literaturwissenschaften, Geschichte, Volkskunde, Kunstgeschichte und Philosophie zumeist anhand von biografischen Aufsätzen über bedeutende Vertreter des jeweiligen Faches vorgestellt werden. Es begegnen uns Joseph von Hammer-Purgstall (Orientalistik), Ulrich Schulz (Romanistik), „Grazer Geschichtsforscher von europäischem Rang“ und Philosophen wie Alexius Meinong, Alois Riehl und Ernst Topitsch.

Das vierte Kapitel, in dem Herausgeber Karl Acham mit einem „aktuellen Wort aus dem klassischen Altertum“ seine wissenschaftlichen Grundpositionen darlegt, widmet sich der „allgemeinen Lage der Geisteswissenschaften heute“. „Es ist [...] lächerlich, […] um jeden Preis von allem einen Nutzen zu suchen, der außerhalb der Sache selbst liegt, und zu fragen: 'was bringt uns das für einen Vorteil?' und 'wozu kann man es brauchen?' Denn […] ein solcher Mensch hat in Wahrheit nichts gemein mit dem, der weiß, was schön und gut ist, noch auch mit dem, der Ursache und Mitursache unterscheiden kann.“2

Band drei widmet sich namhaften aus Graz stammenden oder in Graz wirkenden Gelehrten der Rechts- und Staatswissenschaften sowie der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Auch hier begegnen uns mehr oder weniger klingende Namen wie etwa jener des Schöpfers des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) Franz Anton von Zeiller, der Rechtshistoriker Arnold Luschin von Ebengreuth, oder Zivilrechtler von Rang wie Walter Wilburg. In den Sozialwissenschaften begegnen uns die Kriminologen Hans Gross und Julius Vargha, der Sozialpsychologe Fritz Heider, der Soziologe Ludwig Gumplowicz, der als Ahnherr der soziologischen Konflikttheorie gilt, und der Ökonom Joseph A. Schumpeter. Auf Forschungen der Geographie, Ethnologie und Ideologiekritik (hier wieder Karl Achams Lehrerfreund Ernst Topitsch) wird in Bd. 3 ebenso Bezug genommen, wie auf methodologische Fragen der Sozialwissenschaften (auch hier wieder Karl Acham selbst). So ist in diesem Band einiges an wissenschaftstheoretischer Epistemologie sowie methodologischer Ausführungen versammelt, was freilich bereits der Untertitel des Bandes – „Zwischen empirischer Analyse und normativer Handlungsanweisung: wissenschaftsgeschichtliche Befunde aus drei Jahrhunderten“ – andeutet.

Humanismus, Gegenreformation und Aufklärung prägten das geistige und auch das geisteswissenschaftliche Leben in Graz, ehe dieses in der Zeit von 1860 bis 1918 zur vollen Entfaltung gelangte. Der Sammelband, welcher auch grundlegende Überlegungen zur heutigen Lage der Geisteswissenschaften enthält, ist mit reichem Bildmaterial und einer umfangreichen Bibliographie versehen. Den einzelnen Kapiteln und Aufsätzen gehen zum Teil recht umfangreiche Vorbemerkungen des Herausgebers voraus. Wissenschaftshistorisch charakterisieren diesen Sammelband erkenntnislogische und methodologische Darstellungen und Interpretationen, die dem Erkenntnisfortschritt der Historiographie anregende Diskussionsgrundlagen zu liefern vermögen.

Insgesamt vertritt Karl Acham offensichtlich eine empirisch-analytische Position, aus der heraus er vernünftiges Denken entlang von erkenntnistheoretisch orientierter historischer Methodologie geltend zu machen sucht. Dieses wissenschaftliche Ethos spiegelt sich sowohl in der Auswahl der Beiträge zu den Sammelbänden als auch bei den Texten aus eigener Feder. Acham als Autor und Herausgeber will und kann nicht verleugnen, dass sein erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt, seine historische Konstruktion, seine „Lust am Klarmachen“, die sich übrigens einem Präsentismus deutlich widersetzt, wohl am stärksten an Max Weber orientiert ist. So zeigt er, dass die unvermeidliche Perspektivität des Historikers keineswegs zwingend in Nicht-Objektivität führen muss. Haltloser Relativismus und Nicht-Objektivität können nach seinem Verständnis mit hinreichender Systemrationalität (Rationalität im Sinne Max Webers) sowie durch entsprechenden kritischen Umgang mit Quellen hintan gehalten werden. Die systematische Darstellung und Behandlung der wissenschaftshistorischen Entwicklung in Graz postuliert geschichtsphilosophische sowie erkenntnistheoretische Sachverhalte als gesellschaftliche Sachverhalte. Die Position des Herausgebers zeichnet sich auch durch das Verständnis der „Komplementarität kulturwissenschaftlicher Erkenntnisorientierungen“ aus, bei dem es ihm wesentlich erscheint, einen Überblick der wissenschaftlichen Entwicklung und deren Entwicklungspfade nachzuzeichnen. Dabei werden verstehende und deduktiv-erklärende Zugriffe als gleichberechtigte methodologische Herangehensweisen verstanden (Bd. 2: S. 705-739 und Bd. 3: S. 561-597).

Die kleinregionalen Besonderheiten der Wissenschaftsgeschichte darzustellen ist ein umso wichtigeres Unterfangen, da dadurch moderne Prozesse besser verstanden werden können. In seinen eigenen Beiträgen ergänzt Acham die Beiträge mit epistemologischen und historisch-methodologischen Grundpositionen, nicht zuletzt um die Stringenz der Sammelbände zu gewährleisten. So ist es ihm ein besonderes Anliegen, gegen die „nahezu allgemeine Beiläufigkeit und flimmernde Unsicherheit bezüglich dessen, was man als Kulturwissenschaftler ist und was man tun sollte“ zu argumentieren (Bd. 2, S. 12). Offensichtlich ist es Karl Acham in seinem wissenschaftshistorischen Projekt ein Bedürfnis, Schriften für ein interessiertes Fachpublikum in abwechslungsreicher Zusammenstellung zu präsentieren, welches er durch eigene Beiträge markant mitträgt.

Anmerkungen:
1 Karl Acham (Hrsg.), Naturwissenschaften, Medizin und Technik aus Graz. Entdeckungen und Erfindungen aus fünf Jahrhunderten: vom "Mysterium cosmographicum" bis zur direkten Hirn-Computer-Kommunikation, Wien 2007, vgl. die Rezension von Alexander Preisinger, in: H-Soz-u-Kult, 05.02.2008 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=10389> (11.01.2012).
2 Aristoteles, Protreptikos, VI.

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