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Titel
Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams


Autor(en)
Bauer, Thomas
Erschienen
Berlin 2011: Insel Verlag
Anzahl Seiten
463 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Bernhardt, Berlin

Trifft es zu, dass „der Islam“ keine Trennung zwischen religiöser und weltlicher Sphäre kennt?1 Ist der Islamismus ein zwingend notwendiges Ergebnis der historischen Entwicklung der „islamischen Zivilisation“ und ihres gescheiterten Versuchs, sich „die Moderne“ anzueignen? Existiert „im Islam“ tatsächlich keine Wissenschaft, die nicht durch die Religion beeinflusst wird?2 Ist die „islamische Kultur“ lustfeindlich und durch eine rigide Sexualmoral geprägt? Mit diesen und ähnlichen Annahmen setzt sich der in Münster lehrende Islamwissenschaftler Thomas Bauer in seiner jüngsten Veröffentlichung „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ auseinander. Entstanden ist eine selektive Kulturgeschichte des Islams, in deren Zentrum die arabisch-islamische Kultur Syriens und Ägyptens in der Zeit zwischen dem 9. und dem frühen 16. Jahrhundert steht.

Zu Beginn stellt Thomas Bauer kurz das aus der Psychologie stammende Konzept der Ambiguitätstoleranz vor und erläutert, warum er dessen Übertragung auf die Kultur- und Mentalitätsgeschichte für notwendig hält. Gemäß Bauer sind auch Kulturen mit Ambiguität in vielfältigen Erscheinungsformen konfrontiert und unterscheiden sich durch ihren Umgang mit Mehrdeutigkeit, Pluralität und Vielfältigkeit, das heißt durch ihre Fähigkeit, unterschiedliche oder gegensätzliche Wahrheiten und Diskurse zu ertragen, ohne auf die Durchsetzung alleingültiger Wahrheiten zu bestehen. Der zentralen These des Autors zufolge zeichneten sich die durch den Islam geprägten Kulturen des Nahen Ostens während des untersuchten Zeitraums durch eine hohe Ambiguitätstoleranz aus, die erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Folge zunehmender Auseinandersetzungen mit dem Westen verloren ging.

In den anschließenden Kapiteln untersucht Thomas Bauer eine Auswahl von arabischen Texten unterschiedlicher Disziplinen aus dem untersuchten Zeitraum auf ihren Ambiguitätsgehalt, um so allgemeine Erkenntnisse über den Stellenwert von Ambiguität im kollektiven Bewusstsein jener Zeit zu gewinnen. Einen Schwerpunkt der Darstellung bildet die Analyse von Werken aus den Koran- und Hadithwissenschaften (S. 54-156) und dem islamischen Recht (S. 157-190). In den folgenden Kapiteln werden jedoch auch Textbeispiele aus panegyrischen Werken, aus der Medizin und aus der Liebesdichtung angeführt. Letztere beansprucht mit dem Kapitel „Die Ambiguität der Lust“ (S. 268-311) breiten Raum.

Die angeführten Beispiele zeigen, dass die Annahme, „der Islam“ kenne keine gesellschaftliche oder kulturelle Sphäre, die nicht maßgeblich von der Religion geprägt sei, und somit auch keine von der Religion unabhängige Wissenschaft, nicht belegbar ist. Vielmehr standen auf den meisten Gebieten stets wissenschaftliche und religiöse Diskurse nebeneinander, wobei letztere keineswegs in allen Fällen dominierten. Insgesamt zeichneten sich laut Thomas Bauer die durch den Islam – aber nicht nur durch den Islam – geprägten Kulturen des Nahen Ostens durch eine sehr hohe Ambiguitätstoleranz aus. Vielfalt und Mehrdeutigkeit in den Bereichen Recht und Religion, Sprache und Literatur sowie in den Diskursen über Politik und Sexualität seien nicht nur toleriert, sondern von vielen Zeitgenossen sogar als notwendig anerkannt, als intellektuelle Herausforderung und Bereicherung der eigenen Lebenswirklichkeit empfunden und bewusst erzeugt worden.

Selbst die verschiedenen Disziplinen der Koranwissenschaft, die noch am ehesten im Verdacht stehen könnten, ambiguitätsintolerant zu sein, zeichnen sich durch eine große Vielfalt unterschiedlicher Zugänge aus, was nach Ansicht von Bauer auch daran liegt, dass der Koran der „ambige Text schlechthin“ ist (S. 46). Das von Bauer zitierte Gleichnis des im 14. Jahrhundert geborenen Ibn al-Jazari, der den Koran mit einem „gewaltigen Meer“ verglich, „in dem man nie auf den Grund stößt und nie durch ein Ufer zum Halten gebracht wird“ (S. 116), steht in bemerkenswertem Kontrast zu dem in der Gegenwart häufig erhobenen Anspruch auf Eindeutigkeit der koranischen Botschaft und dem Bemühen um die Durchsetzung einer bestimmten Interpretation.

Einen wichtigen Grund für den Verlust der ambiguitätstoleranten Tradition sieht Bauer in der Auseinandersetzung mit der ambiguitätsintoleranten Kultur des Westens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Muslimische Intellektuelle hätten aus einer defensiven Position heraus die einstige Ambiguitätstoleranz zunehmend als Anzeichen von Schwäche oder sogar als ursächlich für einen angeblich seit Jahrhunderten anhaltenden „Niedergang des Islam“ empfunden und ein Bedürfnis nach Eindeutigkeit entwickelt, die das gegenwärtige Religionsverständnis vieler Muslime entscheidend geprägt habe. Bei der von Islamisten angestrebten Re-Islamisierung handle es sich daher in Wirklichkeit um eine „Neuschaffung des Islams als eine Ideologie“ bzw. eine „Islamisierung des Islams“, der damit alle Merkmale einer westlichen Ideologie annehme und sich in Abgrenzung zu diesen positioniere (S. 52). Diese Einschätzung entspricht den Erkenntnissen eines großen Teils der Forschung, die im Islamismus eine Transformation des Islam in eine politische Ideologie unter dem Einfluss des europäischen politischen Denkens sieht. Die von Islamisten vertretene Ansicht, der Islam sei ein politisches System (nizam) oder Programm (manhaj), das sich durch eine eindeutige und klare Botschaft auszeichne, ist nur ein Ausdruck dieser Entwicklung.3

Thomas Bauers Hauptthese, die klassische arabisch-islamische Kultur habe sich in der Zeit zwischen dem 9. und dem 16. Jahrhundert durch ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz ausgezeichnet, ist relativ weit gefasst. Sie wird jedoch, unter Hinzuziehung einer beeindruckenden Anzahl an Quellen, überzeugend belegt. Die Schilderung der Entwicklung seit dem frühen 16. Jahrhundert gehört nicht zu den Anliegen des Buches. Sie erfolgt daher vergleichsweise kurz und anhand weniger Beispiele. Es bedarf daher weiterer Untersuchungen um im Einzelnen nachzuvollziehen, wie der einstmals dominierende „gelassene Blick auf die Welt“ – so der Titel des 9. Kapitels – im 19. Jahrhundert verloren ging. Nicht zuletzt handelt es sich um einen wichtigen Beitrag, der in der Vergangenheit von einigen Vertretern der Orientalistik geschaffene und heute immer noch populäre Zerrbilder relativiert, wie etwa die Vorstellung, die nahöstlichen Gesellschaften seien ausschließlich durch die Religion geprägt. Dieses Bild, so Thomas Bauer, habe mit der Lebenswirklichkeit etwa so viel zu tun, wie „das mönchische Ideal der Kartäuser mit dem Alltag eines Lübecker Kaufmanns“ (S. 202).

„Die Kultur der Ambiguität“ richtet nicht nur an das Fachpublikum, bei dem Thomas Bauer mit vielen seiner Thesen vermutlich ohnehin offene Türen einrennen wird, sondern auch an eine interessierte Öffentlichkeit. Da die Darstellung im Sinne einer flüssigen Lesbarkeit auf einen allzu umfangreichen Anmerkungsapparat verzichtet, ist ihm dies überzeugend gelungen.

Anmerkungen:
1 Vgl. u. a. Bernard Lewis, What went wrong? Western impact and Middle Eastern response, Oxford 2002.
2 U. a. Bassam Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, Frankfurt am Main 1992.
3 Vgl. Olivier Roy, Secularism confronts Islam, New York 2007.

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