: The Other Iraq. Pluralism and Culture in Hashemite Iraq. Stanford 2009 : Stanford University Press, ISBN 978-0804759922 364 S. € 46,57

: State-Society Relations in Ba’thist Iraq. Facing Dictatorship. London 2010 : Routledge, ISBN 978-0-415-47551-8 272 S. 80,35 €

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Eich, Asien-Afrika-Institut, Universität Hamburg

Die beiden Studien von Orit Bashkin und Achim Rohde ergänzen einander. Bashkins Buch behandelt den Irak von den 1920er-Jahren bis 1958, Rohdes den Zeitraum von den 1970er-Jahren bis 2003. Beide setzen sich dabei in unterschiedlicher Perspektive kritisch mit der Frage eines „irakischen Totalitarismus“ auseinander. Bashkins Arbeit will aufzeigen, dass die Geschichte Iraks nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs zwingend auf die zunehmend autoritären politischen Strukturen nach 1958 zulief. Sie wendet sich dabei gegen die Tendenz, die Entwicklungen bis 1958 rückwirkend allein im Lichte der dann folgenden Militärdiktaturen zu interpretieren und lenkt den Blick auf pluralistische Elemente der Öffentlichkeit im Irak der Zwischen- und Nachkriegszeit. Rohde wendet sich demgegenüber entschieden gegen eine Beschreibung der Herrschaft Saddam Husseins als umfassend totalitäre Diktatur, die mit der Naziherrschaft im Dritten Reich vergleichbar wäre. Expliziter als bei Bashkin ist es ihm dabei ein zentrales Anliegen, Gleichsetzungen Iraks unter Saddam Hussein mit Hitlerdeutschland, die in Teilen der Forschung und Medien seit den frühen 1990er-Jahren vertreten wurden, kritisch zu hinterfragen.

Beide Bücher sind in zwei Teile geteilt. Im ersten erfolgt eine chronologische Darstellung Iraks im jeweiligen Untersuchungszeitraum mit Blick auf den gewählten Untersuchungsfokus – einmal Pluralismus in der irakischen Öffentlichkeit bis 1958 und einmal die Frage, wie umfassend Saddam Husseins Machtapparat die Durchdringung der irakischen Gesellschaft gelang.

Im ersten Kapitel ihres Buches beschreibt Bashkin, wie in den 1920er-Jahren des Iraks der Mandatszeit die Bemühungen einer kleinen Gruppe von Bagdader Intellektuellen um die Etablierung einer freien Presselandschaft weitgehend an den Realitäten der britischen Mandatsherrschaft scheiterten. Dies führte allerdings auch zu einer fokussierten Diskussion über Demokratie und Pluralismus. Diese Situation verkomplizierte sich ab Mitte der 1920er-Jahre, als neben der Mandatsmacht auch zunehmend irakisch-staatliche Strukturen entstanden. Diese manipulierten teilweise die Debatten der Intellektuellen, indem sie für einige von Ihnen Aufstiegsmöglichkeiten bereit hielten. Im zweiten Kapitel, das die Zeit der 1930er-Jahre bis 1945 abdeckt, arbeitet Bashkin den zunehmenden Einschluss nationalistischer und autoritärer Stimmen in der politischen Debatte heraus, zeigt aber andererseits, dass eine ungebrochene Kontinuität pluralistischer Konzepte existierte – wenn auch nur bei einer Minderheit der Intellektuellen. Hierbei handelte es sich vor allem um Vertreter kommunistischer und sozial-demokratischer Kreise, weswegen sich im Unterschied zu den 1920er-Jahren die öffentliche Demokratie-Debatte auch immer mehr säkularisierte. Im dritten Kapitel (1945-1958) stellt Bashkin dar, wie die irakische Obrigkeit zunehmend gewaltsam gegen Oppositionelle vorging und linke Gruppierungen, Denker und Organisationen unter erheblichen Druck setzte. Die Autorin zeigt allerdings weiter, wie es dennoch nicht gelang, die Stimmen, die eine pluralistische Gesellschaft favorisierten, völlig aus der Öffentlichkeit zu verbannen.

Hierauf folgen im zweiten Teil von Bashkins Buch vier thematische Kapitel über „Nationalismus“, „Iraq’s Others“, „ländliche Gesellschaft“ und „Erziehung“. Bezüglich der Nationalismus-Debatten stellt Bashkin das sehr breite Spektrum dar, das von einer stärker rein irakisch definierten Identität über Pan-Arabismus bis hin zur Verortung Iraks in der kommunistischen Weltrevolution reichte. Besonders interessant ist in diesem Kapitel die Darstellung über die Rolle von Nicht-Irakern in der irakischen Nationalismus-Debatte. Darauf aufbauend geht Bashkin darauf ein, welche „Andere“ im Irak im Zuge nationalistischer Identitätsverhandlungen definiert wurden. Sie arbeitet heraus, dass keine bestimmte Gruppe dabei durchgängig als „das Andere“ definiert wurde. Vielmehr boten Mechanismen der Identitätsstiftung über die Arabische Sprache oder das irakische Territorium Möglichkeiten, Schiiten, Juden, Kurden und Turkmenen als Teil irakischer Identität zu definieren. Hinsichtlich der ländlichen Gesellschaft wird aufgezeigt, wie irakische Intellektuelle die tribale, ländliche Gesellschaft als Problem sahen, dem durch geeignete Entwicklungsmaßnahmen entgegengewirkt werden müsse.

Insgesamt arbeitet Bashkin die Vielschichtigkeit irakischer Identitätskonstruktionen heraus, die je nach Situation und historischem Kontext einzelne Elemente unterschiedlich stark betonen konnte (der Begriff der „hyphenated identities“ – also zum Beispiel sunni-iraqi – zieht sich durch das gesamte Buch). Generell geht es dabei darum zu zeigen, dass pluralistische und demokratische Ideen im Irak der Mandatszeit und bis 1958 durchaus eine kontinuierliche Tradition aufweisen. Es wird damit explizit die Sichtweise in Frage gestellt, dass der Weg in Militärdiktaturen nach 1958 in der irakischen Geschichte genuin angelegt gewesen sei. Es ist hierbei eine große Stärke von Bashkins Arbeit, dass Sie eine große Bandbreite von Druckerzeugnissen analysiert. Dabei stellt sie auch die Entstehung von Standardwerken der irakischen Geschichtsschreibung wie Azzawis „al-Iraq bayna l-ihtilalayn“ (Der Irak zwischen den zwei Besatzungen)1 in den historischen Kontext, weswegen ihr Buch sicherlich über das konkrete Thema hinaus zu einem Referenzwerk für jeden Irakhistoriker werden wird. Gelegentlich scheint es mir jedoch, dass Bashkin die Existenz pluralistischen Denkens im Irak vor 1958 zu sehr überbetont bzw. andere Interpretationsmöglichkeiten des von ihr vorgelegten Materials unberücksichtigt lässt. So schreibt sie etwa – ohne weiter darauf einzugehen –, dass der Sunnit Azzawi anregte, das Schulcurriculum für die – überwiegend schiitischen – Stämme solle im Bereich der islamischen Geschichte unter anderem die ersten vier Kalifen lehren. Ist das wirklich so „unschuldig“ und einfach nur pluralistisch? Oder handelt es sich hierbei vielleicht um die Oktroyierung sunnitischer Geschichtssicht für schiitische Schüler? Ganz ähnlich geht Bashkin nicht weiter auf die Idee ein, in den Dörfern sollten Überwachungsmechanismen eingerichtet werden, um sicherzustellen, dass die Sedentarisierung der Stämme auch wirklich erfolgt. Hier hätte eventuell eine stärkere Berücksichtigung der Arbeiten Michel Foucaults helfen können, das auch bei manchen der von Bashkin analysierten „pluralistischen“ Denker – mehr oder weniger latent – vorhandene obrigkeitsstaatliche Überwachungsdenken frei zu legen und in Beziehung zu den Entwicklungen nach 1958 zu setzen. Dies hätte sich gerade in dem Abschnitt über die ländliche Gesellschaft angeboten, da die Idee von Modelldörfern bereits in Mitchells „Colonizing Egypt“ innerhalb der Nahostwissenschaft ausführlich auf der Grundlage der Arbeiten Foucaults diskutiert wurde.2

Die Arbeit von Achim Rohde beschreibt zunächst in drei Kapiteln die Geschichte Iraks jeweils in den 1970er- und 1980er-Jahren sowie 1991-2003. Im ersten Kapitel stellt Rohde dar, wie sich die Ba’th-Partei zunehmend – unter teilweise erheblichen Problemen – stabilisierte und sich schließlich Saddam Hussein als Alleinherrscher durchsetzte. Aus dieser überwiegend auf Gewalt basierenden Etablierung der Ba’th-Partei resultierte auch ihre Hauptschwäche: Militär und Sicherheitsapparat erhielten überragende Priorität, was kombiniert mit der starken Abhängigkeit von Erdöleinnahmen zu einer strukturellen Schwäche Iraks führte. Das zweite Kapitel beschreibt, wie sich diese Entwicklung in den 1980er-Jahren im Zuge des Iran-Irak-Krieges fortsetzte. Iraks Rüstungsausgaben stiegen zusätzlich an, was auch in einer sich ausweitenden Verschuldung resultierte. Unzufriedenheit in der Bevölkerung wurde mit zum Teil massiver Gewalt beantwortet und medial als eine Verteidigung nationaler Identität präsentiert. Im dritten Kapitel (1991-2003) wird die Situation Iraks nach dem Kuwait-Krieg unter den internationalen Sanktionen nachgezeichnet. Vor diesem Hintergrund beschreibt Rohde die Methoden, durch die sich Saddam Hussein weiter an der Macht hielt. Paradoxerweise wurde dies durch den weitgehenden Zusammenbruch formaler staatlicher Strukturen und Funktionen ermöglicht. So stärkte Hussein beispielsweise die Stämme, indem er ihnen Machtbefugnisse einräumte, sicherte sich mit diesem Schritt aber zugleich die Abhängigkeit dieser einflussreichen gesellschaftlichen Akteure. Dies sicherte seine Position als Quelle dieser Macht – auch wenn letztere immer mehr schwand. In den beiden folgenden Kapiteln „Gender Politics“ und „Arts and Politics“ geht Rohde dann im Detail dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Irak seit den 1970er-Jahren nach. Ihm ist dabei ein Anliegen, beispielsweise mit Fragestellungen der Genderwissenschaft auch methodisch neue Horizonte in die Irakforschung einzubringen. So zeichnet er anhand der General Federation of Iraqi Women (GFIW) – einer zivilen, der Ba’th angegliederten Massenorganisation – nach, wie sich einerseits die staatliche Frauenpolitik je nach politischer Gesamtlage wandelte. So wurde eine explizite Unterstützung von berufstätigen Frauen im Zuge des Iran-Irak-Krieges als Reaktion auf – unter anderem – steigende Arbeitslosigkeit zunehmend durch ein traditionelleres Frauenbild abgelöst. Ein weiteres Beispiel ist eine Hinrichtungskampagne zwischen Juni 2000 und Mai 2001 gegen Frauen, denen Prostitution vorgeworfen wurde. Andererseits war die GFIW aber keineswegs bloßer Erfüllungsgehilfe von Beschlüssen der Staatsspitze. Vielmehr kann Rohde aufzeigen, wie im Bereich der Geschlechterpolitik, aber auch in der Kunstszene, diese Beschlüsse konterkariert bzw. subversiv unterlaufen wurden.

Auch Rohdes Arbeit ist eine hervorragende Studie, die in hohem Maße davon profitiert, dass der Autor neben dem Englischen und Arabischen auch deutsche und französische Texte rezipiert. Er arbeitet überzeugend heraus, wie und warum es der Ba’th-Partei nicht gelang, die irakische Gesellschaft völlig zu durchdringen. Auf diese Weise widerlegt er auch die These eines im Irak unter Saddam Hussein verwirklichten, die Gesellschaft durchdringenden Totalitarismus.

Manchmal erscheint es mir dabei allerdings, dass Rohde ähnlich wie Bashkin das Material im Rahmen der Gesamtthese seiner Arbeit etwas einseitig interpretiert. Rohde zeigt an vielen Stellen überzeugend die Schwächen der Gleichsetzung Iraks unter Saddam Hussein mit Hitlerdeutschland auf. Bisweilen erscheint der Vergleichspunkt, den Rohde aus der Geschichte des Dritten Reichs wählt, nicht zwingend. Ein Beispiel hierfür sind die Betrachtungen zur Anfal-Kampagne in Kurdistan 1988, die neben zahlreichen Militärschlägen auch eine Hinrichtungs- und Vertreibungspolitik der verbrannten Erde umfasste. Es ist offensichtlich, dass dies nicht mit der Vernichtungspolitik der Nazis in Konzentrationslagern verglichen werden kann. Leider geht Rohde aber gar nicht auf die systematische Gewalt während der Russlandfeldzugs ein, was in meinen Augen zumindest rein formal der wesentlich näher gelegene Vergleichspunkt gewesen wäre.

Bashkins und Rohdes Bücher stellen jeweils für sich hervorragende und wichtige Beiträge zur Erforschung der Geschichte Iraks im 20. Jahrhundert dar. Dabei ergänzen sie sich nicht nur zeitlich, sondern auch hinsichtlich ihres zentralen Anliegens der differenzierten Betrachtung des Komplexes „Totalitarismus im Irak“. Beide Autoren liefern zudem wertvolle methodische Beiträge zur Historiographie des Modernen Nahen Ostens. Zweifellos werden sie zu Standardwerken avancieren, wobei nachdrücklich zu empfehlen ist, die beiden Arbeiten zusammen zu lesen.

Anmerkungen:
1 Abbas Azzawi, Ta‘rikh al-Iraq bayna ihtilalayn, Baghdad 1935.
2 Timothy Mitchell, Colonising Egypt, Cambridge 1988.

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