H. Hirsch: Juden in Schlesien und Pommern 1945-1957

Titel
Gehen oder bleiben?. Deutsche und polnische Juden in Schlesien und Pommern 1945-1957


Autor(en)
Hirsch, Helga
Erschienen
Göttingen 2011: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Nesselrodt, Osteuropa-Institut, Freie Universität Berlin

Die Geschichte der polnischen Juden in den ehemaligen deutschen Ostgebieten war jahrzehntelang kaum präsent im deutsch-polnischen Geschichtsbewusstsein. Dabei war es nach 1945 gerade der polnische Westen, in dem zeitweilig die Hälfte aller polnisch-jüdischen Holocaustüberlebenden Zuflucht fand. Die Journalistin Helga Hirsch legt mit ihrem Buch einen Versuch vor zu erklären, wie es zu dieser Ansiedlung von polnischen Juden in Pommern und Niederschlesien kommen konnte. Dabei rückt sie die im Buchtitel gestellte Frage „Gehen oder bleiben?“ in den Vordergrund ihrer Untersuchung. Für den Zeitraum von 1944 bis 1968 identifiziert Hirsch drei Auswanderungswellen, denen sie sich im Verlauf näher widmet: die Jahre nach der Befreiung Polens von 1944 bis 1947, die Zeit des „Tauwetters“ um 1956 und schließlich die antisemitische Hetzkampagne von 1967/1968.

Hirsch wertete für ihre Studie zahlreiche Archivmaterialien aus, führte Interviews mit Überlebenden und sichtete die umfangreiche polnischsprachige Literatur zur jüdischen Nachkriegsgeschichte. In dieser Vermittlungsarbeit zwischen deutsch- und polnischsprachigem Fachdiskurs liegt auch eine der Qualitäten des Buchs, ist doch die deutschsprachige Literatur zur Geschichte der polnischen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg bislang recht überschaubar.1 Hirsch versucht nun, diese Geschichte einem interessierten, nicht-polnischsprachigen Publikum näherzubringen.

Dabei konzentriert sich die Autorin vor allem auf die Räume Stettin/Szczecin und Breslau/Wrocław, wo es zu zahlreichen Kontakten zwischen Deutschen, Juden und Polen kam. Gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit verschwammen häufig die Grenzen zwischen Tätern und Opfern. So kam es vor, dass deutschsprachige Juden auf der Straße von Polen als Deutsche beschimpft wurden. Auch zwischen polnischen und deutschen Juden kam es häufig zu Differenzen um die Nutzung von Gebäuden, den Erhalt von Lebensmitteln und den Status als Verfolgte des Hitlerregimes. Besonders in der Zeit zwischen 1944 und 1946 sind Verallgemeinerungen über die Gruppe der deutschen und polnischen Juden allerdings schwierig. Hirsch zitiert Zeitzeugenberichte von deutschen Juden, die von Soldaten der Roten Armee wegen ihrer Herkunft verprügelt wurden, aber auch von Menschen, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens besonderen Schutz durch die sowjetische Besatzungsmacht erfuhren. Nichtsdestotrotz sahen die meisten deutschsprachigen Juden keine Zukunft in Polen und entschieden sich bis zum Herbst 1946 für die Auswanderung.

Die Ansiedlung polnischer Juden in Niederschlesien und Pommern begann in der zweiten Jahreshälfte 1945 und dauerte bis zum Sommer 1946. Dass die Wahl auf die grenznahen Gebiete fiel, war durch viele Zufälle bestimmt. Im Falle Niederschlesiens hatten einige tausend jüdische KZ-Überlebende nach ihrer Befreiung entschieden, sich in der Nähe jener Orte niederzulassen, wo sie die Kriegszeit verbracht hatten. Außerdem schien das Leben unter anderen Juden im neuen Westen Polens deutlich sicherer zu sein als im Landesinneren, wurden die zurückkehrenden Juden dort doch von ihren polnisch-nichtjüdischen Landsleuten mehrheitlich nicht mit offenen Armen willkommen geheißen. Angst vor eventuellen Besitzansprüchen, Rückgabeforderungen und eine allgemeine Aversion gegenüber Juden führte bei vielen nichtjüdischen Polen zu einer ablehnenden Haltung gegenüber den Holocaustüberlebenden.

Der noch zu besiedelnde neue Westen Polens schien dagegen mehr Sicherheit zu versprechen, denn dort gab es nach der Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung keinen Streit um besetzten Wohnraum. Zudem suchte die polnische Regierung Hände ringend nach polnischsprachigen Neusiedlern. Jene jüdischen Polen, die ihr Überleben der Sowjetunion verdankten, waren in den Augen der Regierung besonders geeignet, da sie Polnisch sprachen und dem neuen politischen System mehrheitlich wohlgesinnt gegenüber standen. Die Unterstellung, allzu willige Gehilfen des ungewollten kommunistischen Systems zu sein, fand ihre Zuspitzung in dem Feindbild der Judäo-Kommune (pln. Żydokomuna), welches die polnische Historikerin Krystyna Kersten folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Schon damals, in den ersten Jahren der kommunistischen Macht, war nicht der Jude der Feind, sondern der Feind war Jude.“ (Zitat auf S. 134)

Viele, die kamen, blieben jedoch nur für eine kurze Zeit im polnischen Westen. In der ersten von drei Emigrationsphasen, zwischen 1944 und 1947, verließen viele polnische Juden das Land, weil sie nach dem antijüdischen Pogrom im ostpolnischen Kielce im Sommer 1946 keine Zukunft mehr in Polen sahen. Stattdessen gelangten sie mittels jüdischer Fluchthelfer ins besetzte Deutschland, wo sie in alliierten Lagern für Displaced Persons auf ihre Papiere für die Weiterreise warteten.

Als einzige nationale Minderheit wurden die Juden von der polnischen Regierung bis 1948/1949 geduldet und mit gewissen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Autonomierechten ausgestattet, die ihnen bis dato noch nie zugestanden worden war. In Folge der zunehmenden Stalinisierung Polens endete jedoch die kurze Phase der jüdischen Autonomie in Niederschlesien. Und nicht nur dort. Überall im Land wurden jüdische Einrichtungen mit der Begründung geschlossen, dass es in Polen „keine nationalen Sonderwege“ geben solle. Vor dem Hintergrund dieser politischen Veränderungen im stalinistischen Polen kann auch die Massenabwanderung der polnischen Juden gedeutet werden. Von 240.000 polnisch-jüdischen Überlebenden war zu Beginn der 1950er-Jahre nur noch ein Drittel im Land verblieben. Die verbliebenen Ausreisewellen um 1956 und 1968 beschreibt Hirsch abschließend als Konsequenzen einer Politik des staatlich sanktionierten Antisemitismus.

Helga Hirschs Studie ist im Wesentlichen eine Geschichte der Auswanderung. Letztlich, so folgt aus ihrer Darstellung, habe Polen seinen jüdischen Bürgern keine sichere Heimat bieten können und vor allem auch nicht wollen. Gewalt, Beschimpfung, berufliche Diskriminierung und die empfindliche Einschränkung autonomer politischer, kultureller und sozialer Strukturen haben dazu geführt, dass zwischen 1946 und 1970 90 Prozent der überlebenden jüdischen Bevölkerung Polens das Land verließ. Hirschs Darstellung fördert wenig Unbekanntes zu Tage, ist aber durchweg hervorragend recherchiert und strukturiert. Meines Erachtens hätte Hirsch allerdings neuere Erkenntnisse zur Genese und zur Wirkungsweise des Antisemitismus stärker in ihre Argumentation einbeziehen können. Zwar stellt die Autorin ihre Aufzählung antisemitischer Vorfälle und Gewalttaten auf eine breite Quellenbasis aus Dokumenten des Sicherheitsdienstes, Augenzeugenberichten und Interviews mit Zeitzeugen. Doch bleiben die Ursachen für den Hass und das Misstrauen gegenüber der jüdischen Minderheit weitgehend im Dunkeln.2 Diese Ergänzungsvorschläge schmälern allerdings nicht den guten Eindruck, die Helga Hirschs Darstellung deutsch-polnisch-jüdischer Geschichte hinterlässt, die damit auf dem hiesigen Buchmarkt eine echte Bereicherung darstellt.

Anmerkungen:
1 Zum Beispiel: Andreas R. Hofmann, Die Nachkriegszeit in Schlesien. Gesellschafts- und Bevölkerungspolitik in den polnischen Siedlungsgebieten 1945-1948, Köln u.a. 2000; Frank Golczewski, Die Ansiedlung von Juden in den ehemaligen deutschen Ostgebieten Polens 1945-1951, in: Micha Brumlik / Karol Sauerland (Hrsg.), Umdeuten, verschweigen, erinnern. Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa, Frankfurt am Main 2010, S. 91-114; Karol Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen, Berlin 2004; Beate Kosmala (Hrsg.), Die Vertreibung der Juden aus Polen 1968. Antisemitismus als politisches Kalkül, Berlin 2000.
2 Vertiefend hierzu etwa: Agnieszka Pufelska, Die „Judäo-Kommune“ – ein Feindbild in Polen. Das Polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939-1948, Paderborn 2007; Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992.

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