The United Kingdom in the Second Half of the Twentieth Century

: Seeking a Role. The United Kingdom 1951-1970. Oxford 2009 : Oxford University Press, ISBN 978-0-19-820476-3 658 S. £ 37.00

: Finding a Role?. The United Kingdom 1970-1990. Oxford 2010 : Oxford University Press, ISBN 978-0-19-954875-0 700 S. £ 37.00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Arnold, Neuere und Neueste Geschichte, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

„Great Britain has lost an empire and has not yet found a role“. Das berühmte Dictum des US-amerikanischen Außenpolitikers Dean Acheson aus dem Jahr 1962 dient dem Oxforder Emeritus Brian Harrison als Leitmotiv für seine große zweibändige Studie über Großbritannien in der zweiten Hälfte des „kurzen“ 20. Jahrhunderts, die im Rahmen der New Oxford History of England erschienen ist. Damit liegt eine weitere Gesamtdarstellung zu einer Epoche vor, die seit den 1980er-Jahren schrittweise aus dem Aufgabenfeld der Sozialwissenschaften und der zeitgenössischen Publizistik in das der Zeitgeschichte übergegangen ist.1 Den Anfang machte bereits 1979 David Childs mit einer Politikgeschichte Großbritanniens vom Kriegsende bis zur Gegenwart. Drei Jahre später folgte der inzwischen verstorbene Arthur Marwick mit einer viel beachteten Sozialgeschichte. Kanonischen Status haben auch die Monographien von Kenneth O‘ Morgan (1990) und Peter Clarke (1996) erlangt.2 2010 schließlich hat neben Harrison mit Paul Addison ein weiterer einflussreicher (und inzwischen emeritierter) Vertreter der Zeitgeschichtsschreibung eine eigene Synthese vorgelegt.3

Ebenso wie Childs (geb. 1933), Marwick (1936-2006), Morgan (geb. 1934), Clarke (geb. 1942) und Addison (geb. 1943) ist der 1937 geborene Harrison ein „Mitlebender“ im Sinne von Hans Rothfels‘ klassischer Definition der Zeitgeschichte. Im Gegensatz aber zu Paul Addison zum Beispiel, der auch autobiographische Erinnerungen einfließen lässt, konzentriert er sich ganz auf die „wissenschaftliche Behandlung“ des untersuchten Zeitraumes, hinter der die eigene Erfahrung vollkommen zurück tritt.4 Gestützt auf eine umfassende Rezeption der Forschungsliteratur sowie auf eine breite Auswertung der zeitgenössischen Publizistik und der Presse entwirft Harrison ein umfassendes und zugleich differenziertes Bild der britischen Gesellschaft zwischen 1951 und 1990, das Maßstäbe setzt für die zukünftige Forschung. Die titelgebende Anspielung auf das Dictum Achesons ist dabei insofern verkürzend, als die politische Geschichte nicht im Zentrum der Untersuchung steht. Im Gegenteil: Wiederholt betont Harrison die Grenzen, die den Entscheidungen von Politikern in demokratisch verfassten Gesellschaften gesetzt sind: „In no society do politicians and government administrators dominate day-to-day life, and least of all in a parliamentary democracy not involved in a major war“, heißt es in der Einleitung zum ersten Band, der die 1950er- und 1960er-Jahre behandelt (SaR, S. XVIII). Nicht Politiker, sondern „to a large extent the British people after 1951 made their own history, and great indeed were the changes that they collectively brought about” (ebd.).

„Seeking a Role“ und „Finding a Role?“ bieten keinen von leichter Hand erzählten Gang durch die britische Geschichte, wie er gerade im englischsprachigen Raum sonst gerne gepflegt wird. Die Lektüre des dicht geschriebenen, gut 1100 Seiten umfassenden Textes stellt auch nicht das dar, was man gemeinhin als ein Lesevergnügen bezeichnen möchte. Die streng systematische Vorgehensweise, mit der Harrison die Fülle des Stoffes zu bändigen sucht, fordert hier ihren Preis. Die beiden Bände sind im Wesentlichen gleich aufgebaut. Der erste Band beginnt mit einem Querschnitt durch die britische Gesellschaft im Jahr 1951, der thematisch in sieben Untersuchungsfelder gegliedert ist: Großbritanniens Stellung in der Welt; die Geographie des Landes; Sozialstruktur; Familie und Wohlfahrt; Wirtschaft und Handel; Geistesleben und Kultur sowie schließlich Herrschaft und Politik. Im Hauptteil der Untersuchung wird dann jedem dieser Felder ein eigenes Kapitel gewidmet. Es folgt eine Reflexion über den Ort der 1960er-Jahre in der britischen Geschichte sowie eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse. Eine ähnliche Struktur weist auch der zweite Band auf, der die 1970er- und 1980er-Jahre behandelt, mit der Einschränkung, dass hier die beiden rahmenden Kapitel entfallen und dafür der zusammenfassenden Rückschau eine „Vorschau“, ein Blick in die unmittelbare Gegenwart, beigegeben wird.

In jedem der sieben Schwerpunktkapitel verfolgt Harrison säkulare Basisprozesse, die er als zentral für die britische Nachkriegsgeschichte ansieht, darunter vor allem Tendenzen der Säkularisierung, Professionalisierung und Spezialisierung, der sozialen Differenzierung und des wachsenden Einflusses der Medien, der Langlebigkeit des Voluntarismus, des Spannungsverhältnisses von sozialer Pluralisierung und Konformitätsdruck sowie von gesellschaftlicher Atomisierung und neuen Formen der Gemeinschaftsbildung (SaR, S. XX). Hinzu kommen acht weitere kapitelübergreifende Motive, die gewissermaßen die thematische Unterströmung bilden und deren Bedeutung am Ende eines jeden Kapitels noch einmal zusammengefasst wird. Unter diesen „cross-cutting motives“ subsumiert Harrison das ambivalente Erbe des Zweiten Weltkrieges; die Spannung zwischen rezeptiven und hermetischen Tendenzen in der britischen Kultur; den Widerspruch zwischen privatem Wohlstandswachstum und öffentlicher Sorge über den wirtschaftlichen Niedergang; die Gleichzeitigkeit von zeitsparenden Erfindungen und der Beschleunigung des Alltags; das Problem der Verbindlichkeit christlich geprägter Moralvorstellungen in einer sich säkularisierenden Konsumgesellschaft; das Verhältnis von sozioökonomischem Wandel und politischer Stabilität; die Spannung zwischen staatlicher Reglementierung und zivilgesellschaftlichem Voluntarismus; und schließlich die schwierige Suche nach einem kollektiven Leitbild und einer neuen Rolle für Großbritannien in einem postkolonialen Zeitalter.

Trotz der Vielfalt der behandelten Themen und der Fülle des ausgebreiteten Detailwissens – Frank Prochaska hat Harrison in einer Besprechung im Times Literary Supplement liebevoll als „akademische Elster“ bezeichnet – trägt die vorliegende Darstellung nicht den Charakter eines Handbuches.5 Vielmehr wird eine übergreifende These entwickelt, die das einschlägige Metanarrativ vom „Konsens“ und „Niedergang“ zu modifizieren sucht. In Reinform ist diese These bereits in einem 1999 vorgelegten Aufsatz expliziert worden. Darin macht Harrison geltend, dass „Konsens-Historiker“ wie Marwick oder Addison lediglich einen Weg zu gesellschaftlicher Kohärenz herausgearbeitet hätten, den „direkten“, „korporatistischen“ der Jahre von 1940 bis 1970/9.6 Ein Blick zurück in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zeige jedoch ebenso wie die Entwicklung nach dem Regierungsantritt Margaret Thatchers, dass Großbritannien neben dem „direkten Weg“ auch einen zweiten, „indirekten Weg“ kenne. Hier bilde sich über den Umweg kurzfristigen scharfen Dissenses, ausgetragen freilich im Rahmen eines festen Korsetts gemeinhin akzeptierter Institutionen und Regularien, mittelfristig eine neue, die Gesellschaft stabilisierende Orthodoxie heraus.

Ausgestattet mit einem derart erweiterten Konsensbegriff, kann Harrison für seine beiden Untersuchungszeiträume verschiedene Antworten geben auf seine zentrale Frage, wie es der britischen Gesellschaft gelungen sei, trotz dramatischen sozio-kulturellen Wandels und internationalen Bedeutungsverlustes ein relativ hohes Maß an Stabilität zu bewahren. „How, then, was it possible in such circumstances for British society to cohere?“ (SaR, S. 532).

Für die beiden Jahrzehnte nach 1950 betont Harrison drei Elemente: Erstens habe der graduelle Charakter der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse korrosiven und zentrifugalen Tendenzen entgegen gewirkt. Zweitens sei der Wandel durch kontinuierliches Wohlstandswachstum abgefedert worden. Drittens schließlich habe eine höchst selektive, mythisch überhöhte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine weitreichende gesellschaftliche Selbsttäuschung möglich gemacht, in der neue Realitäten und Besorgnis erregende Entwicklungen lange nicht zur Kenntnis genommen wurden. Harrison resümiert: „With props and aids such as these the UK reached 1970 united, with a stable political structure and a population far more affluent than in 1951 […] There were as yet few signs of the gloom that was shortly to descend.” (SaR, S. 542 u. 546).

Wenn trotz der schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise, in die Großbritannien schon bald nach 1970 geriet, die Nation zwei Jahrzehnte später dennoch „in reasonably good order“ (FaR, S. 518) dagestanden sei, dann sei das zum einen der System stabilisierenden Rolle der Labour Party zu verdanken, vor allem aber dem radikalen Bruch mit der Nachkriegsordnung, den die Konservativen unter Margaret Thatcher vollzogen hätten. Damit betont auch Harrison den Einschnitt, den der Regierungswechsel von 1979 für die britische Geschichte bedeutet habe. Ja, entgegen einer Forschungstendenz, die bereits in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Callaghan (1976-1979) eine neoliberale Wende erkennen möchte, akzentuiert er diesen gar: Unter Labour seien monetaristische Elemente lediglich als temporäre Notbehelfe eingeführt worden, während die Konservativen später „aus Überzeugung“ gehandelt hätten (FaR, S. 297f.). Gleichzeitig aber relativiert Harrison den „revolutionären“ Charakter der Ära Thatcher, den viele Arbeiten zur jüngsten Zeitgeschichte nachgerade leitmotivisch betonen. Denn indem die Konservativen mit einem korporatistischen Wirtschafts- und Sozialmodell brachen, das keine praktikablen Antworten mehr auf die Herausforderungen der Gegenwart bereitgehalten habe, sei mittelfristig die Gesellschaft stabilisiert worden und so Kontinuität gestiftet worden.

Bei allem Bemühen um wissenschaftliche Distanz, die die Arbeit auszeichnet, fällt doch auf, mit welch großem Respekt hier der Leistung der Politik im Allgemeinen und derjenigen Margaret Thatchers im Besonderen begegnet wird.7 Zugespitzt könnte formuliert werden, dass in Harrisons Meistererzählung die neoliberale Wende der 1980er-Jahre als alternativlos erscheint, als nachgerade komplementär zu Basisprozessen der wirtschaftlichen Tertiärisierung, sozialen Individualisierung und kulturellen Pluralisierung. Die zahlreichen Kritiker hingegen werden gezeichnet als Menschen, die nicht viel mehr anzubieten gehabt hätten als ein „besseres Gestern“ (FaR, S. 530). Spätestens mit dem Wandel der Labour Party seit Mitte der 1980er-Jahre hin zu New Labour seien dann wesentliche Elemente des Thatcherismus parteiübergreifend konsensfähig geworden.

Ist es Großbritannien gelungen, in den vier Jahrzehnten nach dem Verlust der Weltmachstellung eine neue kollektive Rolle zu finden? Harrison kommt zu einem nüchternen Befund. Während es in den 1950er- und den frühen 1960er-Jahren noch möglich gewesen sei, sich über das Ausmaß des internationalen Bedeutungsverlustes hinwegzutäuschen, sei in den beiden folgenden Jahrzehnten schmerzhaft deutlich geworden, dass auch alternative Rollenentwürfe nicht dauerhaft identitätsstiftend wirken konnten: weder die aus der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zehrende Vorstellung, dass Großbritannien in ganz besonderem Maße die Werte der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit verkörpere, noch die konkurrierende Idee, dass das britische Gesellschaftsmodell einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus darstelle. Schließlich habe auch die Hoffnung, dass Großbritannien aufgrund seiner Vergangenheit und Gegenwart als moralisches und/oder kulturelles Vorbild dienen könne, spätestens Anfang der 1970er-Jahre keine besondere Strahlkraft mehr entfalten können. Am Ende, so Harrison, bedürfe es solch kollektiver Selbstbilder in einer modernen, pluralistisch verfassten Gesellschaft in einer globalisierten Welt vielleicht auch gar nicht mehr. Und dennoch: „No such acquiescence could ever spirit away the remarkable story of how so small a nation could once have played so distinctive a role in the world” (FaR, S. 548).

Wie der wehmütige Nachsatz verdeutlicht, liegen bei Harrison elegischer Schwermut über das Verlorene und nüchterne Freude über den Zugewinn an Pluralität und Wohlstand eng beieinander. Als enzyklopädische Fundgrube setzt Harrisons Geschichte Großbritanniens neue Maßstäbe; als thesenorientierte Gesamtdarstellung wird sie die zeitgeschichtliche Forschung auf Jahre hinaus herausfordern.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Literaturbericht von Dominik Geppert, Großbritannien seit 1979: Politik und Gesellschaft, in: Neue Politische Literatur 54 (2009) 1, S. 61-86, hier S. 61f.
2 David Childs, Britain since 1945. A political history, 6. Aufl., London 2006 (1. Aufl. 1979); Arthur Marwick, British Society since 1945 (= The Penguin Social History of Britain), 4. Aufl., London 2003 (1. Aufl. 1982); Kenneth O. Morgan, Britain since 1945. The people’s peace, 3. Aufl., London 2001 (1. Aufl. 1990 als „The people’s peace. British history 1945-1989”); Peter Clarke, Hope and glory. Britain 1900-2000 (= The Penguin history of Britain), 2. Aufl., London 2004 (1. Aufl. 1996 als „Hope and glory. Britain 1900-1990”)
3 Paul Addison, No turning back. The peacetime revolutions of post-war Britain, Oxford 2010.
4 Vgl. die berühmte Definition in: Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1 (1953) 1, S. 1-8, hier: S. 2.
5 Frank Prochaska, A humble one. Review of Brian Harrison, Finding a Role? in: Times Literary Supplement, 6. August 2010, S. 24.
6 Brian Harrison, The Rise, Fall and Rise of Political Consensus in Britain since 1940, in: History. The Journal of the Historical Association, 84 (1999) 274, S. 301–324.
7 Vgl. auch die Bemerkung in Finding a Role?, S. XVII: „In discussing Britain since 1970 it is particularly necessary to stress the politicians‘ importance and achievement, given that their difficult and delicate art –integral to democracy—was after the 1960s more depreciated and misunderstood than for at least a century.“

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