B. Faulenbach: Das sozialdemokratische Jahrzehnt

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Titel
Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969-1982


Autor(en)
Faulenbach, Bernd
Reihe
Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945, Bd. 3
Erschienen
Anzahl Seiten
819 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Hansen, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Auch wenn die Regierungszeit der sozial-liberalen Koalition (1969–1982) noch nicht zu denjenigen Abschnitten deutscher Nachkriegsgeschichte gehört, die durch archivgestützte und quellennahe Einzeluntersuchungen befriedigend ausgedeutet worden sind, gibt es bereits etliche Gesamtdarstellungen und Syntheseversuche. Bernd Faulenbach, als Vorsitzender der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand gewissermaßen der „Chef-Historiker“ der Sozialdemokraten, hat den geschichtswissenschaftlichen „Meistererzählungen“ über diese Zeit nun seine eigene Interpretation hinzugefügt, die ihre – durchaus provokante – These gleich im Titel trägt: Mit „Das sozialdemokratische Jahrzehnt“ liegt eine seiten- und meinungsstarke Darstellung über die Entwicklung der Partei und ihrer Politik vor.

Faulenbach gliedert seinen Untersuchungszeitraum in fünf Abschnitte. Auf die Zeit der inneren Reformen und der Ost-Verträge der SPD/FDP-Koalition (1969–1972) lässt er eine Phase der ökonomisch-politischen Krise folgen (1973/74), auf die Konsolidierung (1974–1976) die Ära Schmidt (1976–1980) und eine zweijährige Niedergangsphase der Koalition (1980–1982). Auch die konkrete Einteilung der insgesamt 17 Kapitel erscheint plausibel. Während Faulenbach sich chronologisch an den Kanzlerschaften Willy Brandts und Helmut Schmidts orientiert, differenziert er diese beiden Phasen jeweils in ihre außen- und innenpolitische Dimension. Daran anschließend untersucht er die innerparteiliche Entwicklung der SPD, ihr Personal und ihre Wahlkampfführung.

So reicht die Darstellung von den Anfängen der Koalition, mit der sich „Erwartungen und Emotionen“ verbanden (S. 67), über den bekannten Neuansatz Willy Brandts in der Ost- und Deutschlandpolitik bis zu den gesellschaftspolitischen Reformen des „Mehr Demokratie wagen“. Nicht nur in diesen Kapiteln changiert die Erzählung zwischen der allgemeinen (politischen) Geschichte der Bundesrepublik, der Entwicklung der SPD/FDP-Koalition und dem konkreten Anteil der SPD an dieser Politik. Klarer wird die Trennung im hinteren Teil des Buches, wo Faulenbach unter anderem die sicherheitspolitischen Verwerfungen im Kontext des NATO-Doppelbeschlusses und das Krisenmanagement des Bundeskanzlers während der terroristischen Anschläge der Roten Armee Fraktion beleuchtet. Besonders aufschlussreich sind, trotz einiger Längen, die abschließenden Kapitel zu den wirtschafts- und finanzpolitischen Gegensätzen innerhalb der Koalition, die maßgeblich zum Ende des Bündnisses beigetragen haben.

Der Dreh- und Wendepunkt dieser Erzählung aber ist die „ökonomisch-politische Krise“ (S. 37) von 1973/74. Dem derzeit dominierenden Forschungstrend folgend, interpretiert Faulenbach diese Jahre als wesentlichen Wendepunkt der bundesdeutschen und zugleich der sozialdemokratischen Geschichte. Auf die Phase der wirtschaftlichen Prosperität, der übersteigerten Reformerwartungen und des verbreiteten Planungsglaubens in Politik und Gesellschaft folgte nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods und der Ölpreiskrise ab Mitte der 1970er-Jahre eine Zeit der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas), in der das auf ökonomisches Wachstum und Ausbau des Sozialstaats fixierte Fortschrittsparadigma der Arbeiterbewegung dramatisch an Geltungskraft verlor. Die SPD geriet jetzt von zwei Seiten unter Druck: Sowohl die Renaissance des Konservatismus ab den frühen 1970er-Jahren als auch die Bildung von „Alternativbewegungen“ (S. 593) forderten die Partei heraus. Die Durchsetzung sozialdemokratischer Politik in Koalition und Gesellschaft wurde schwieriger; auch die inneren Spannungen und Friktionen nahmen zu.

Zu den gelungensten Passagen des Buches gehören jene, in denen Faulenbach die Geschichte der SPD in den größeren Kontext der sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung der 1970er-Jahre einordnet und fragt, inwieweit sich die Partei vor dem Hintergrund dieser Umbrüche selbst wandelte. Hier öffnet sich die auf die politische Elite fokussierte und mit den traditionellen Methoden der Politikgeschichte arbeitende Darstellung zugunsten sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektiven – man hätte sich mehr davon gewünscht. Außerdem gelingt es Faulenbach, am Beispiel des Zustroms von jungen Akademikern in die Ortsvereine und den hieraus entstehenden Konflikten mit der traditionellen Arbeiterkultur forschungspraktisch neue Zusammenhänge aufzutun. Sehr lesenswert sind darüber hinaus die Abschnitte über Charisma, Rhetorik und Führungsstil bei Brandt, Schmidt und dem Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner.

Niemand sollte aus der Tatsache, dass Faulenbach engagierter Sozialdemokrat ist, darauf schließen, man hätte es hier mit einer bloßen Apologie von SPD-Politik in den 1970er- und 1980er-Jahren zu tun. Sicher gibt es Kapitel, in denen Faulenbach seinen politischen Standpunkt offenlegt (das Verhältnis zum christdemokratischen Gegner, das Ende der Koalition). Gleichzeitig kann man feststellen, dass er ein bemerkenswert kritisches Buch über die SPD geschrieben hat. Genannt seien hier vor allem seine nachvollziehbare Bewertung der Reformpolitik Brandts sowie seine Einschätzung des ambivalenten Verhältnisses der SPD zu den „Alternativbewegungen“ und zum Kommunismus.

Die Hauptschwierigkeit dieses Buches ist die leitende These: die Behauptung eines „sozialdemokratischen Jahrzehnts“. Nachdem Faulenbach für seine 2004 erstmals formulierte Etikettierung1 fast durchweg Kritik erntete2, kann die hier vorliegende Publikation als Versuch gelten, die These auf breiterer Basis zu verteidigen. Bemerkenswerterweise kommt der Text jedoch über weite Strecken ohne den Begriff aus. Erst auf den letzten 15 Seiten argumentiert Faulenbach konzentriert für die Stichhaltigkeit der These. Nach seiner Meinung spricht „schon die Rolle der Sozialdemokratie als führender, den Kanzler stellender Regierungspartei“ (S. 765) für seinen Vorschlag. Vieles deute darauf hin, „dass die Sozialdemokratie nicht nur an den wichtigsten politischen Schalthebeln saß, sondern auch eine zentrale Rolle im politisch-gesellschaftlichen Leben einnahm. Sozialdemokratische Orientierungsmuster wie die Teilhabe der gesamten Gesellschaft an Politik, Wohlstandsentwicklung und Bildung oder die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn setzten sich in der Breite durch“ (ebd.). Vor dem Hintergrund dieser Argumentation möchte Faulenbach mit Manfred Görtemaker für die Zeit von 1969 bis 1974 von einer „zweiten formativen Phase der Bundesrepublik“ sprechen (S. 270). Auf den vielerorts artikulierten Einwand, für die 1970er-Jahre seien neben dem unbestrittenen Einfluss sozialdemokratischer Ordnungsmuster auch gegenläufige Tendenzen prägend gewesen, antwortet Faulenbach, seine These schließe nicht aus, dass es auch „konkurrierende Strömungen“ gegeben habe, „die mit der Sozialdemokratie partiell in einem Interaktionsverhältnis standen“ (S. 766).

Es ist eher unwahrscheinlich, dass diese Präzisierung Faulenbachs Kritiker überzeugen wird. Die Einwände bleiben stichhaltig: Zwar eröffnete sich der SPD 1969 das erste Mal seit Gründung der Bundesrepublik die Möglichkeit, ihre politischen und gesellschaftlichen Ideen zu realisieren, doch wird man dies in zweifacher Hinsicht einschränken müssen. Zum einen war die Geltungskraft der sozialdemokratischen Orientierungsmuster begrenzt. Faulenbach selbst räumt das implizit ein, wenn er die Erfolge der sozial-liberalen Reformpolitik dezidiert nüchtern bilanziert. Zum anderen agierte die SPD eben im Widerstreit mit konkurrierenden politischen Strömungen: mit dem liberalen Koalitionspartner (dem Faulenbach kaum Beachtung schenkt), dem erstarkenden Konservatismus (der weite Teile der Gesellschaft prägte und sie für die SPD unerreichbar machte) und schließlich den Neuen Sozialen Bewegungen (in denen sich selbst Sozialdemokraten gegen ihre Parteiführung engagierten). Weder war die SPD für das „politisch-gesellschaftliche Leben“ (S. 765) der entscheidende Bezugsrahmen, noch hat die Partei die zentralen Wandlungsprozesse der 1970er-Jahre so maßgeblich beeinflusst, dass es gerechtfertigt wäre, von einem „sozialdemokratischen Jahrzehnt“ zu sprechen.

Lässt man diesen Begriff einmal beiseite und sieht man von einigen formalen Mängeln ab (wichtige neuere Forschungsliteratur fehlt, die Archivalien sind sehr uneinheitlich zitiert), hat Faulenbach eine lesenswerte Gesamtdarstellung der Geschichte der SPD während der Zeit der sozial-liberalen Koalition geschrieben. Dass das Werk so umfänglich geraten ist und in der Perspektive gänzlich westdeutsch bleibt, ohne europäische Wandlungsprozesse der Sozialdemokratie und des Politischen insgesamt stärker zu reflektieren, macht aus dem Buch letztlich aber doch eher eine SPD-Parteigeschichte, die vor allem einen Wert für die interne Selbstverständigung und Traditionsbildung hat.

Anmerkungen:
1 Bernd Faulenbach, Die Siebzigerjahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt?, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 1-37; auch online unter <http://library.fes.de/jportal/servlets/MCRFileNodeServlet/jportal_derivate_00021389/afs-2004-001.pdf> (21.12.2011).
2 Vgl. z.B. Frank Bösch, Die Krise als Chance: Die Neuformierung der Christdemokraten in den siebziger Jahren, in: Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die Strukturkrise der 1970er Jahre als zeithistorische Zäsur, Göttingen 2008, S. 288-301.

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