V. Kozlov u.a. (Hrsg.): Sedition

Cover
Titel
Sedition. Everyday Resistance in the Soviet Union under Khrushchev and Brezhnev


Herausgeber
Kozlov, Vladimir A.; Fitzpatrick, Sheila; Mironenko, Sergei V.
Reihe
Annals of Communism
Erschienen
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 51,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Behrends, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der vorliegende Band dokumentiert anhand von Quellen aus der Staatsanwaltschaft der UdSSR verschiedene Formen widerständigen Verhaltens unter Nikita S. Chruschtschow und Leonid I. Breschnew. Anhand dieser Gerichtsakten liefert er einen Einblick in die sowjetische Gesellschaft nach Stalin. Wie in der Serie „Annals of Communism“ üblich, werden Darstellung und Quellenedition miteinander verbunden. Daher enthält der Band edierte Texte, die sich vorzüglich in der Lehre nutzen lassen.

In ihrer Einleitung zur englischen Ausgabe1 erklärt Sheila Fitzpatrick das Anliegen der Herausgeber: Es geht ihnen darum, Phänomene des alltäglichen Widerstandes gegen das Regime zu dokumentieren und so zu zeigen, dass sich die sowjetische Gesellschaft keineswegs vorauseilend dem Parteistaat unterwarf, sondern dass sie spezifische Formen widerständigen Handelns kannte, die ebenso alltäglich waren wie konformes Verhalten. Im Fokus stehen eben nicht die Dissidenz der Intelligenzija, sondern die Widerständigkeit und der Eigensinn sowjetischer Arbeiter, Kolchosbauern und auch gesellschaftlicher Außenseiter, die sowohl aus der Mitte als auch vom Rande der Gesellschaft die politische Macht kritisierten. Eine besondere Rolle spielten die Freigelassenen des GULag, die seit 1953 aus den Lagern zurückkehrten. Auch der Alkohol, der aus dem sowjetischen Alltag nicht wegzudenken war, findet sich häufig in den Quellen. Sheila Fitzpatrick kontrastiert einleitend Kontinuität und Wandel alltäglichen Widerstands seit dem Stalinismus: Während zahlreiche widerständige Praktiken und Themen bereits für die 1930er-Jahre charakteristisch waren, sank nach 1953 vor allem das Risiko, eine lange Haftstrafe absitzen zu müssen. Die Zahl drakonischer Strafen nahm langsam ab und es wurde nun größerer Wert auf geordnete Verfahren gelegt. Das anschließende Vorwort des russischen Herausgebers Vladimir Kozlov überzeugt durch seine konzise Beschreibung des Quellenkorpus und eine Einführung in die Feinheiten der sowjetischen Rechtsgeschichte.

Quellen und Darstellung setzen mit einer Rekonstruktion der Reaktion auf den Tod Stalins ein, der eine Zäsur darstellte, die sowohl für die politische Geschichte der Sowjetunion als auch in der Welt populärer Gerüchte und Mythen immense Bedeutung besaß. Die Dokumentation, die sich auf Berichte aus der gesamten Union stützt, korrigiert das Bild des trauernden Volkes, das die Propaganda im März 1953 inszenierte. Zahlreiche sowjetische Bürger, besonders diejenigen, die am Rande der Gesellschaft lebten und arbeiteten, ließen ihrer Verachtung für den Verstorbenen freien Lauf. Es zeigt sich zudem, welche Themen sie am Ende dieser Epoche besonders beschäftigten: Zahlreiche Belege weisen etwa darauf hin, wie unpopulär die kollektive Landwirtschaft auch mehr als zwanzig Jahre nach ihrer Einführung war. Sie blieb ein Symbol des schlechten Lebens in der UdSSR. Zudem dokumentieren die Quellen, wie sehr die antisemitische Kampagne („Ärzteaffäre“) und die Angst vor einem neuen Weltkrieg die Bevölkerung beherrschten.

Bereits diese ersten beiden Themenkomplexe („Stalins Tod“ und „Stimmen des Volkes“) zeigen, dass es in der Sowjetunion auch nach Stalin gefährlich war, eine eigene politische Meinung zu äußern. Obwohl nach den Buchstaben des Strafgesetzes (Paragraf 58) lediglich „antisowjetische Propaganda“ ein Delikt darstellte, wurden Bürger dafür bestraft, wenn sie eine abweichende Ansicht hatten und diese in Gesprächen nicht verbargen. Hohe Strafen galten nicht nur für mündliche Äußerungen, sondern auch für private Texte, und dies selbst dann, wenn deren Autoren nicht vorhatten, sie zu veröffentlichen. In erster Instanz verhängten Gerichte jetzt Haftstrafen zwischen drei und zehn Jahren für Kritik an der Partei und ihren Führern aber auch nur für die Beschreibung der Mängel und Tücken des Alltags. Diese Praxis öffnete Tür und Tor für Denunziationen, private Abrechnungen und die willkürliche Verfolgung unbequemer Bürger.

In einem einführenden Essay zum zweiten Kapitel reflektiert Olga Edelman über die Aussagekraft und Reichweite der präsentierten Quellen. Dabei skizziert sie die Probleme einer Geschichte der öffentlichen Meinung in der UdSSR. Mit Recht verweist sie darauf, dass die Parteiberichte ein verzerrtes Bild gesellschaftlicher Wirklichkeit zeichnen; sie sind Teil eines bürokratischen Kommunikationsprozesses innerhalb der Elite und dürfen nicht als Beschreibung gesellschaftlicher Zustände gelesen werden. Deshalb kommt Edelman zu dem Schluss, dass die Welt des sowjetischen Bürgers den Zeithistorikern ähnlich fremd bleiben wird wie das Universum des mittelalterlichen Menschen den Mediävisten: es sind stets nur Skizzen vergangener Lebenswelten möglich. Dies gelte besonders dann, wenn wir Quellen abseits der Hauptstädte heranziehen und uns vergegenwärtigen, wie niedrig das Bildungsniveau, wie groß das Gewicht der Gerüchte und wie verzerrt die Wahrnehmung aller Beteiligten durch Jahrzehnte parteistaatlicher Erziehung und Propaganda war. Zugleich wurde parteistaatliche Indoktrination immer wieder durch den harten Alltag und ältere Traditionen gebrochen. Deshalb konnte selbst eine simple „antisowjetische“ Äußerung verschiedene Bedeutungsebenen haben, die es freizulegen gilt, um ihre Bedeutung zu verstehen.

Ein aufschlussreiches Beispiel, das uns hilft, den Alltag sowjetischer Bürger in den 1950er- und 1960er-Jahren zu verstehen, ist ihr Bild des Auslandes – insbesondere ihre Vorstellung von den Vereinigten Staaten. In einer Umkehrung des offiziellen Wertehimmels konnten die USA als Projektionsfläche für die Wünsche und Sehnsüchte sowjetischer Bürger dienen. Dabei setzte sich das Image des Gegners im Kalten Krieg aus den verschiedensten Komponenten zusammen: der parteistaatliche Antiamerikanismus vermischte sich mit Gerüchten, Kriegserfahrungen und den Informationen ausländischer Radiosender. So avancierten die USA in den Visionen einiger zu dem Arbeiterparadies, das die Sowjetunion sein sollte, aber nie war, während andere hofften, die Amerikaner würden eines Tages Russland vom Kommunismus befreien. Wieder andere erträumten sich, die hermetischen Grenzen zu überwinden und in ein Land nicht gekannter Möglichkeiten auszuwandern. So erzählen die Vorstellungen von den Vereinigten Staaten viel über den Alltag, die Unterdrückung und die Beschwernisse des Lebens in der kommunistischen Diktatur.

In weiteren Kapiteln werden die Zerstörung parteistaatlicher Symbolik, die Entwicklung alternativer Ordnungen durch sowjetische Bürger und die wenigen konspirativen Zirkel thematisiert, die sich in diesen Jahren bildeten. In der Regel beschränkten sich Untergrundorganisationen darauf, ein privates oppositionelles Forum zu bilden. Ihre Mitglieder waren häufig junge Leute, die nicht selten durch die offizielle Heroisierung der Revolutionäre im zarischen Russland inspiriert wurden. Die Gründung dieser Zirkel zeugt auch davon, dass ein Rest an revolutionärem Idealismus in der jungen Generation noch vorhanden war. Doch auch illegale Organisationen operierten meist innerhalb des politischen Spektrums der UdSSR: Ihre Intention beschränkte sich auf eine „Verbesserung“ des Sozialismus.

Schließlich stellt der Band gängige Vorstellungen über das „Tauwetter“ in Frage. So belegen die Herausgeber, dass es nach 1956 eine Repressionswelle gab und von einer durchgehenden „Liberalisierung“ der Diktatur nicht die Rede sein kann. Und dort, wo das Herrschaftssystem sich veränderte, wurde dieser Wandel von der Bevölkerung nicht unbedingt begrüßt. So wurde der sich volksnah inszenierende Stalin-Nachfolger Chruschtschow häufig als Clown und Witzfigur bezeichnet; es mangelte ihm an der Gravitas, die Stalin in seinen Kult einschreiben ließ. Auch Chruschtschows Bemühungen um internationale Anerkennung und die internationalistische Hilfe für andere Staaten stießen in der Bevölkerung auf wenig Zustimmung. Der Stalinismus hatte das Ausland dämonisiert und die Egalität idealisiert, so dass jede Form der Redifferenzierung abgelehnt wurde: Eine Lockerung der Herrschaft wurde häufig als Privilegierung der Eliten gesehen und eine Annäherung ans Ausland als Schwäche begriffen. Insgesamt verdeutlichen diese Quellen die Prägekraft des Stalinismus, die über den Tod des Tyrannen hinaus andauerte. Unbeantwortet bleibt am Ende die Frage, welchen Stellenwert die hier dokumentierten Ereignisse und Verhaltensweisen für die sowjetische Gesellschaft in toto hatten: Waren sie wirklich so repräsentativ, wie der Band dies suggeriert? Oder doch eher eine Randerscheinung? Vieles spricht dafür, dass es sich keineswegs um Ausnahmen handelte, jedoch, wie der Band selbst einräumt, lassen die Quellenlage und die Werkzeuge des Historikers zu diesem Problem letztlich nur plausible Vermutungen zu.

Anmerkung:
1 Russische Originalausgabe mit einem zusätzlichen Kapitel über Dissidenten: V. A. Kozlov / S. V. Mironenko (Hrsg.), Kramola. Inakomyslie v SSSR pri Chruševe i Brežneve 1953-1982 gg. Rassekrečennye dokumenty Verchovnogo suda i Prokuratury SSSR, Moskva 2005.

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