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Titel
Kapitalismus. Historische Annäherungen


Herausgeber
Budde, Gunilla
Erschienen
Göttingen 2011: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
191 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christof Dejung, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Die aktuelle Finanzkrise hat nicht bloß die Bedeutung von wirtschaftshistorischen Fragestellungen erneut ins Blickfeld gerückt, sondern auch ein akutes Manko der deutschsprachigen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte offengelegt. Während die Geschichte der industriellen Produktionsweise seit jeher deren Aufmerksamkeit gefunden hat, sind die mit ihr zusammenhängenden weltumspannenden Finanz- und Dienstleistungssysteme weit weniger gut erforscht. Insbesondere blieben bislang Forschungen Mangelware, welche das wirtschaftshistorische Erkenntnisinteresse in Richtung einer Analyse des Kapitalismus erweitern.1

Umso erfreulicher, dass nun ein anlässlich der Verabschiedung Jürgen Kockas als Hochschullehrer entstandener Sammelband das Feld neu aufrollt. Kocka führt in einem eigenen Beitrag an, dass "Kapitalismus" insofern ein leistungsfähiges Analysekonzept darstelle, als der Begriff dazu zwinge, Marktmechanismen in einen sozialen, kulturellen und politischen Kontext einzuordnen. Er wirke so "der letztendlich kognitiv unproduktiven Aufspaltung der Wirklichkeit in voneinander getrennte Analysesegmente entgegen" und eröffne einen Zugang zum Bereich des Wirtschaftens, der wesentlich umfassender sei als die "'rein' ökonomischen Faktoranalysen vieler Wirtschaftswissenschaftler und mancher Wirtschaftshistoriker" (S. 178).

Der Band trägt dieser Forderung Rechnung, indem er interdisziplinäre Ansätze aufnimmt und auch nicht-westliche Spielarten des Ökonomischen analysiert. So beschreibt Wolf Lepenies, wie französische Romanciers im frühen 19. Jahrhundert den sich herausbildenden Kapitalismus als Thema entdeckten. Am Beispiel des 1837 erschienenen Romans "Grandeur et Décadence de César Birotteau" von Honoré de Balzac zeigt Lepenies die ambivalente Haltung des Bürgertums gegenüber dem Siegeszug des Geldwesens, welches sowohl als Grundlage des gesellschaftlichen Wohlergehens wie auch als Ursache von krankhafter Gier angesehen wurde.

Ähnliche Ambivalenzen finden sich im Beitrag von Hans-Ulrich Wehler, der an den Philosophen Christoph Jacob Kraus erinnert. Dieser hielt Vorlesungen über Adam Smith und begründete daran anschließend eine spezifisch deutsche Denktradition des staatlich eingehegten Kapitalismus. Die Historische Schule, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland herausbildete, empfand die Vorstellung einer staatsfreien Wirtschaft als wirklichkeitsfremdes Hirngespinst. Auch das nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Konzept der "sozialen Marktwirtschaft" bekräftigte die Idee, dass ohne Staat kein Kapitalismus zu machen sei. Die in den 1970er-Jahren salonfähig gewordene neoliberale Utopie einer Marktgesellschaft, in der soziale und ökonomische Probleme ohne Staatseingriffe gelöst werden können, habe sich spätestens in der aktuellen Wirtschaftskrise als Fata Morgana erwiesen. Wehler empfiehlt deshalb den Wirtschaftshistorikern die Ansätze der Historischen Schule als deutschen Sonderweg, den einzuschlagen sich heutzutage geradezu aufdränge.

Emotionen wurden lange Zeit als Gegenstück zur kapitalistischen Rationalität verstanden. Wie Ute Frevert darlegt, greift ein solcher Gegensatz jedoch zu kurz. Erstens wurden Gefühle seit Beginn der Industrialisierung als etwas wahrgenommen, was die Fabrikarbeit entweder behindern oder befördern konnte. Zweitens sei Konsum als wesentliche Säule des Kapitalismus nicht denkbar, ohne dass die Emotionen der Kundschaft angesprochen würden. Und drittens schürte die Arbeiterbewegung regelmäßig den Hass auf den Kapitalismus und propagierte eine proletarische Verbrüderungssemantik als Gegenmittel. Frevert regt an, diese Perspektive weiter zu verfolgen und etwa das Sozialkapital von Kaufleuten in emotionshistorischer Perspektive zu untersuchen.

Hartmut Berghoff zeigt ebenfalls, dass ein eindimensionales Verständnis von Rationalität für die Untersuchung von Finanzmärkten zu kurz greift. In der öffentlichen Diskussion wie auch in der ökonomischen Theoriebildung werde häufig die Frage aufgeworfen, ob Finanzmärkte auf dem Handeln rationaler Akteure beruhten oder einen bloßen Hexensabbat darstellten. Dieser Gegensatz sei insofern irreführend, als sich die Grenze zwischen rationalem Handeln und irrationalem Verhalten nicht trennscharf ziehen ließen und es für soziale Akteure durchaus rationale Gründe gebe, sich auch im Bereich des Ökonomischen dem Verhalten einer Mehrheit anzuschließen. Deshalb sei es höchste Zeit, sich von verengten Rationalitätskonzepten zu verabschieden und ein differenzierteres Menschenbild in die wirtschaftshistorische Analyse zu integrieren.

Gunilla Budde beleuchtet die Bedeutung der Familie für moderne Unternehmen. In der Frühindustrialisierung waren familiäre Ressourcen unter anderem wichtig, um soziale Netzwerke zu Geschäftspartnern zu knüpfen und die Unternehmenserben zu sozialisieren. Mit dem Durchbruch des Managerkapitalismus verlor die Familie an Bedeutung, und wichtige Funktionen innerhalb der sich herausbildenden Großunternehmen wurden durch bezahlte Manager ausgeübt. Anders als eine an Alfred Chandler2 orientierte Unternehmensgeschichte lange Zeit annahm, spielten Unternehmensfamilien jedoch auch im Hochkapitalismus eine wichtige Rolle. Dies führt zu dem Schluss, dass die in unternehmenshistorischen Studien häufig gestellte Frage, ob Familientraditionen für moderne Unternehmen funktional oder dysfunktional seien, zu kurz greift, da Familien und Unternehmen oft weniger klar getrennt werden können, als es die ökonomische Theorie postuliert.

Eine Stärke des Bandes besteht darin, dass er explizit nicht-westliche Ausprägungen des Kapitalismus ins Auge fasst und diesen als Wirtschaftssystem mit globalhistorischer Reichweite versteht. Damit überwindet er den Fokus auf den nordatlantischen Raum, der in vielen wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten vorherrscht, ohne dass die Implikationen einer solchen Selbstbeschränkung reflektiert würden. In einem höchst anregenden, wenn auch etwas sprunghaft argumentierenden Beitrag zeigt Charles Maier, dass eine Geschichte des Kapitalismus anders geschrieben werden muss, wenn sie sich nicht bloß auf die westliche Welt konzentriert. So demonstriert Maier, wie der Kapitalismus im Zuge seiner Durchsetzung eine neue Landkarte entwerfen und Gräben zwischen unterschiedlichen Teilen der Welt vertiefen konnte, etwa durch eine räumliche Differenzierung zwischen industrialisiertem Zentrum und rohstoffproduzierender Peripherie. Weiter ist es laut Maier nötig, das Verhältnis zwischen staatlicher Territorialität und der Ausgestaltung von Märkten in den Blick zu nehmen, um die räumlichen Dimensionen des Kapitalismus auszuloten.

Gudrun Krämer überprüft Max Webers These, dass sich die bürgerlich-kapitalistische Ordnung nur in der westlichen Welt habe entwickeln können. Der von Weber postulierte Zusammenhang zwischen calvinistischer Ethik und bürgerlicher Rationalität genügt ihrer Ansicht nach jedoch nicht, um ökonomische Unterschiede zwischen westlicher und nichtwestlicher Welt zu erklären. Laut Krämer kann auch der Islam kulturelle Ressourcen für eine rational-methodische Lebensführung bieten. So sei in den vergangenen Jahrzehnten in der islamischen Welt ein neuer Unternehmertypus aufgetaucht, der ökonomische Erfolge sowohl als Resultat der eigenen geschäftlichen Fähigkeiten wie auch als Ausdruck des göttlichen Wohlwollens interpretiert.

Inwiefern ein globalgeschichtlicher Blickwinkel zu einer differenzierteren Vorstellung von Wirtschaft führen kann, zeigt Marcel van der Linden, der die lange Zeit angenommene Kongruenz von Kapitalismus und freier Lohnarbeit einer kritischen Überprüfung unterzieht. Van der Linden argumentiert, dass man Plantagen mit ihrer ausgeklügelten Arbeitsteilung und Kapitalintensität durchaus als erste großformatige Produktionsstätten des Kapitalismus verstehen könne. Überhaupt sei die Vorstellung irreführend, Lohnarbeit sei innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft die normale Form der Beschäftigung. In weiten Teilen der Welt würden bis heute andere Beschäftigungsverhältnisse bestehen, wie etwa Leibeigenschaft oder Zwangsarbeit. Auch sei ein solcher Zugang insofern geschlechterblind, als er die Arbeit von Frauen ausblende und davon ausgehe, dass Lohnarbeiter als Individuen und nicht als Teil von Familienverbänden aufgefasst werden müssten.

Als Fazit der Lektüre dieses gelungenen und hochaktuellen Bandes kann festgehalten werden, dass die Beschäftigung mit der Geschichte des Kapitalismus mitten ins Zentrum aktueller historiographischer Debatten führt, wie etwa derjenigen um die kulturelle Einbettung der Wirtschaft oder um die globalgeschichtliche Erweiterung des Erkenntnisinteresses. In seinem Schlusswort hält Jürgen Kocka fest, dass man nur hoffen könne, ein kapitalismustheoretischer Ansatz ermutige "die Wirtschaftshistoriker [...], die gesellschaftlichen, kulturellen und rechtlichen Dimensionen ihrer Themen nicht zu ignorieren, während er Sozial-, Kultur- und andere Historiker einlädt, die Wirtschaft ernster zu nehmen, als sie es seit der 'kulturellen Wende' der 1980er Jahre getan haben" (S. 181f.). Dem ist nichts hinzuzufügen.

Anmerkungen:
1 Das Fehlen von Kapitalismusanalysen in der deutschsprachigen Forschung wurde in den letzten Jahren verschiedentlich bemängelt: Thomas Welskopp, Das Unternehmen als Körperschaft. Entwicklungslinien der institutionellen Bindung von Kapital und Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Karl-Peter Ellerbrock / Clemens Wischermann (Hrsg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 192-215; Jürgen Kocka, Writing the History of Capitalism, in: German Historical Institute Bulletin 47 (2010), S. 7-24.
2 Alfred D. Chandler, Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge 1990.

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