Cover
Titel
Unsettling History. Archiving and Narrating in Historiography


Herausgeber
Jobs, Sebastian; Lüdtke, Alf
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
253 S., 27 Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Wimmer, Wissenschaftsforschung, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich

Geschichtsschreibung entsteht im Wechselspiel zwischen der historischen Frage, dem Archiv und der Darstellung. Das Interesse am Historischen geht jedoch über akademische Rahmenbedingungen hinaus. Im US-amerikanischen Nationalarchiv (National Archives and Records Administration, NARA) wurde kürzlich Noor Inayat Khan (1914–1944) gesehen, eine britische Widerstandskämpferin und Agentin der Special Operations Executive. „1940s SOE agent Noor Khan, spotted at Kew!“, meldete die NARA. Im Rahmen der „Woche der Vielfalt“ verbrachte Khan einen Tag im Archiv und berichtete von ihren Erfahrungen. Die Tatsache, dass sie 1944 im KZ Dachau ermordet worden war, erschien hier weniger wichtig als Geschichtsvermittlung in Form von Reenactment. So erzählte eine Schauspielerin anstelle der Toten Episoden aus deren Leben. Derartige Formen der Inszenierung von Vergangenheit boomen – davon sind die Herausgeber von „Unsettling History“ überzeugt. Sebastian Jobs und Alf Lüdtke argumentieren in ihrer informativen und programmatischen Einleitung, dass Historikerinnen und Historiker sich nicht nur mit akademischer Forschung auseinandersetzen sollten, sondern auch mit diesem breiteren Verlangen nach Geschichte.

Der vorliegende Band ist die sorgfältige und aufwendige Dokumentation einer Tagung an der Universität Erfurt im Juni 2007. Die Fragen, die dort gestellt wurden, gehen nicht nur weit über den aktuellen Horizont hinaus; sie haben eine Geschichte, die bis auf die Anfänge unseres Fachs zurückreicht. Das wird im originellen Beitrag von Philipp Müller deutlich, der sich den Archivforschungen Leopold von Rankes widmet.1 Ranke hatte sich in seinen frühen Arbeiten kaum auf Archivmaterial gestützt, unternahm zwischen 1827 und 1831 jedoch ausgedehnte Archivreisen. Müller beschreibt die staatliche Archivpolitik, die Ranke überwinden musste, um in die arkane Sphäre des Archivs vorzudringen. Seine Analyse der Sprache in Rankes Briefen berichtet von sexualisierten Metaphern für die begehrten Archivalien und von der Selbstwahrnehmung des Historikers, ein Entdecker der Terra incognita der Vergangenheit zu sein.

Neben der Einleitung umfasst der Band insgesamt 11 Aufsätze, die in drei Sektionen gegliedert sind. Zwei Beiträge des ersten Teils („History: [Non-]Western Pitfalls and Expectations“) lösen die konzeptionellen Forderungen auf unterschiedlichen Ebenen ein. Jacques Revel plädiert am Beispiel der Nationengeschichte für mehr Komplexität durch eine Verknüpfung verschiedener Maßstäbe und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Diskontinuitäten in historischen Prozessen – nicht zuletzt, um der Kontingenz von Ereignissen besser gerecht zu werden. David William Cohen reflektiert über das Projekt „The Production of History“, das Gerald Sider und er 1985 an der Johns Hopkins University initiiert hatten. Die beiden nahmen damit früh die Herausforderung der Geschichtsschreibung durch nicht-akademische Produzenten an. Cohens Überlegungen richten sich unter anderem auf das Moment der Brechung ‚westlicher’ durch ‚afrikanische’ Perspektiven auf Vergangenheit und Zukunft.

Im zweiten Teil des Bandes („Archiving: Administering Lives and Memories?“) wagt Eve Rosenhaft ein Darstellungsexperiment. Sie analysiert die „Sprachen von Erinnerung“ (S. 153) und versucht durch eine vielstimmige, grafisch aufwendig gestaltete Collage die Subjekte des „Romani Holocaust“ sichtbar zu machen. Sie berührt damit zweifellos die Grenzen der Darstellungskonventionen. So interessant und wichtig solche Versuche sind, so wenig möchte man künftig auf konventionellere Formen verzichten. Die anderen Beiträge dieses Abschnitts widmen sich ebenfalls eher Themen der Erinnerung als der Archivierung im engen Sinn. Leora Auslander stellt die schwierige Frage, ob die Leben vieler europäischer Juden vor allem wegen ihrer gewaltsamen Ermordung durch die Nazis historische Bedeutsamkeit erlangt hätten, und diskutiert den Stellenwert der Shoah in der jüdischen Geschichte. Sie geht der Überlieferung und Darstellung der Biographien von drei Überlebenden in Museen nach. Eine dieser drei Personen, Bettina Roth, wurde 1933 zur Flucht aus Berlin gezwungen und wohnt heute in Paris. Sie hat sich dafür entschieden, dass ihr Nachlass – anders als sie selbst – unbedingt nach Berlin zurückkehren soll, da sie ihre Lebensgeschichte als Teil einer deutsch-jüdischen Geschichte versteht. Michael Schoenhals beschreibt die Geschichtsvergessenheit im heutigen China, die mit einer populären Faszination für die Vergangenheit einhergehe. Das vom ausgebildeten Koch Zhang Wei, einem ehemaligen Zeitungsangestellten, entwickelte virtuelle Heimatmuseum „OldBeijing.net“ ist eine unkonventionelle Reaktion auf diese paradoxe Situation. Auf dem Internetportal dokumentieren Bürger aus allen Gesellschaftsbereichen die Sozial- und Alltagsgeschichte ihrer Stadt und wenden sich damit nicht zuletzt gegen das unkommentierte Verschwinden ganzer Stadtteile im kommunistisch-kapitalistischen Modernisierungstaumel.

Die dritte Sektion („Narrating the Past: Quest for Authenticity vs. Search for Professionalism“) versammelt weitere vier Beiträge zu Formen der Darstellung von Vergangenheit. Sheila Fitzpatrick, bekannt für ihre ‚objektive’ Geschichtsschreibung, überrascht mit einem Plädoyer für mehr Subjektivität – aus zwei guten Gründen, „Transparenz und Wahrheit, und einem weniger guten, Mode“ (S. 186). Sie verbindet dieses Plädoyer beispielhaft mit einem kurzen biographischen Essay über Michael Danos, 1922 in Riga geboren, nach dem Krieg Displaced Person, Anfang der 1950er-Jahre in die USA emigriert. Eine interessante Lebensgeschichte – die Geschichte ihres verstorbenen Ehemanns. Zumindest in diesem Fall kann die Historikerin gerade mit subjektiven Mitteln eine objektive historische Wahrheit beschreiben, die zugleich „emotional“ und „tief“ sei (S. 193). Wie in früheren Arbeiten wird Fitzpatrick, so betont sie, auch in ihrem nächsten Buch über Stalin stets historischer Wahrheit und der Nachvollziehbarkeit ihrer Argumente verpflichtet bleiben. Ein weiterer Beitrag kommt von der jungen Osteuropahistorikerin Andrea Zemskov-Züge, die anhand der sowjetischen Erinnerung an die Leningrader Blockade (1941–1944) das paradoxe Zusammenspiel offizieller und privater Erinnerungspraktiken analysiert.2 Sie zeigt, wie offizielle Formen der Erinnerung den Rahmen für das Sichtbarwerden individueller Geschichten bieten und wie diese umgekehrt durch die offiziöse Geschichtsschreibung vereinnahmt wurden.

Gesine Krüger beschreibt das Schicksal der sterblichen Überreste von Sarah Baartman als eine Konfliktgeschichte über Identität und Abstammung.3 Um 1810 aus Südafrika nach London gebracht, wurde Baartman durch ihre Bühnenauftritte als „Hottentot-Venus“ bekannt. Als sie 1815 starb, wurde sie von Georges Cuvier seziert, ihr Leichnam teils konserviert und im Pariser Naturhistorischen Museum ausgestellt. Erst 2002 wurden ihre Überreste in Südafrika bestattet. Krüger analysiert die „diskursiven und symbolischen“ Auseinandersetzungen (S. 246). Dass Baartmans Gehirn in den wissenschaftlichen und politischen Debatten nie eine Rolle spielte, deutet Krüger zu Recht als eine Resexualisierung und Exotisierung, durch die Baartman einmal mehr „Handlungsmacht, Persönlichkeit und Subjektivität“ abgesprochen worden seien (S. 246f.). Der 2010 verstorbene Rhys Isaac reflektiert in einem seiner letzten Texte über narrative Strategien, mit den Mitteln historischer Ethnographie widersprechende Perspektiven Unterdrückter gegen die Masterlores der Sklavenhalter stark zu machen und so die Masternarratives westlicher Geschichtsschreibung in Frage zu stellen. Seine Beschäftigung mit Geschichten, die nicht schriftlich überliefert wurden, sondern in Form von Liedern oder Tänzen, brachte ihn dazu, neue Formen der Geschichtsschreibung zu entwickeln.

Die in „Unsettling History“ versammelten Überlegungen und Beispiele problematisieren einige selbstverständlich gewordene disziplinäre Standards. Dies weiterzuverfolgen würde eine Neuorientierung bedeuten, die nicht unbedingt allgemeine Zustimmung findet. Auf die von Dipesh Chakrabarty in seinem Beitrag gestellte Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen historischer Methode, Objektivität, Wahrheit und Ethik bei den Gründungsfiguren westlicher Geschichtsschreibung einerseits und dem Begründer der indischen Geschichtswissenschaft, Jadunath Sarkar (1870–1958), andererseits, würde manch arrivierter Kollege antworten, dass die Geschichte von Minderheiten nur mit dem erprobten Werkzeug der Historikerzunft geschrieben werden könne. Carolyn Steedman hat in einer ausführlichen Besprechung des Bandes dieses Moment, das eine der Klammern für fast alle Beiträge bildet, als „ethical turn“ in der Geschichtsschreibung bezeichnet.4 Auch wenn man nicht noch einen turn ausrufen möchte, gilt es, derartige Fragen wieder und wieder zu stellen – die Antworten darauf können freilich nicht immer neu sein.

Anmerkungen:
1 Der Aufsatz von Kasper Rijsbjerg Eskildsen, Leopold Ranke’s Archival Turn: Location and Evidence in Modern Historiography, in: Modern Intellectual History 5 (2008), S. 425-453, der sich ebenfalls mit der Entstehung eines Modells historischer Archivforschung bei Ranke beschäftigt, ist vermutlich nach Fertigstellung von Müllers Beitrag erschienen.
2 Siehe demnächst auch Andrea Zemskov-Züge, Geschichtsbilder zwischen politischen Strukturen und Zeitzeugenschaft. Die Historisierung der Belagerung Leningrads in der Sowjetunion 1943–1953, Göttingen 2012.
3 Inzwischen liegt eine ausführliche Geschichte von Sara(h) Baartman vor, die bei Drucklegung des hier besprochenen Bandes noch nicht erschienen war: Clifton Crais / Pamela Scully, Sara Baartman and the Hottentot Venus. A Ghost Story and a Biography, Princeton 2009.
4 Carolyn Steedman, All Written Up, in: History and Theory 50 (2011), S. 433-442, hier S. 434.