A. Kaminsky (Hrsg.): Erinnerungsorte in Belarus

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Titel
Erinnerungsorte an die Opfer des Kommunismus in Belarus.


Herausgeber
Kaminsky, Anna
Erschienen
Berlin 2011: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Swen Steinberg, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Belarus ist in erinnerungskultureller Hinsicht ein überaus lohnenswertes Untersuchungsfeld. Schon ein kurzer Blick in die wechselvolle Geschichte des Landes im 20. Jahrhundert lässt den Grund erahnen: Nach einer kurzen Phase nationalstaatlicher Eigenständigkeit war das weißrussische Territorium ab 1921 zwischen Polen und Sowjetrussland/Sowjetunion aufgeteilt, im August 1939 wurde es dann vollständig sowjetisch besetzt, 1941 bis 1944 folgten die deutsche Besatzung und schließlich erneut die Zugehörigkeit zur UdSSR. Aus diesen vielschichtigen Zeitverläufen und der Heterogenität des Raumes ergibt sich das breite Spektrum der Gedenkorte für die Opfer und Ereignisse aller Phasen kommunistischer Herrschaft, die im vorliegenden Band behandelt werden. Herausgegeben im Auftrag der Bundestiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gliedert er sich in einen vier Aufsätze umfassenden Einleitungsteil (S. 9-76) sowie eine weitgehend nach den heutigen Verwaltungsregionen gegliederte Vorstellung von 141 Gedenkorten (S. 79-262). Informationen zu Standort, Entstehungszeit und Initiator/en des jeweiligen Denkmals werden ergänzt durch eine detaillierte Beschreibung des historischen Sachverhaltes, auf den sich das Denkzeichen bezieht. Inschriften wurden transkribiert und ins Deutsche übersetzt, den meisten dieser Ortsbeschreibungen zudem aktuelle Fotos beigefügt.

Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit den erinnerungspolitischen Implikationen der in der UdSSR weitgehend verschwiegenen Geschichte Weißrusslands war der von Elena Temper umfassend beschriebene Gräberfund im Wald von Kurapaty bei Minsk im Sommer 1988. Dieser legte einerseits erstmals die für weite Teile der Bevölkerung schockierende Dimension der kommunistischen Verfolgung offen. Andererseits zeigten sich im Verlauf des Zusammenwirkens zwischen staatlichen Organen und zivilgesellschaftlichen Vertretern schon hier jene Muster, die für die folgenden Jahre typisch werden sollten. Zwar reagierte die seinerzeit erodierende Staatsmacht mit der Anerkennung der Opfer und dem Setzen eines Gedenksteines auf das Bedürfnis, diese Geschichte aufzuarbeiten. Doch schon am Streit um die Opferzahlen – man sprach offiziell von mindestens 30.000 Toten, Archäologen vermuteten aber mehr als 250.000 Tote in dem Waldstück – zeigte sich ein deutlicher Abwehrreflex. Besonders nach dem Amtsantritt von Staatspräsident Aljaksandr Lukaschenka 1994 trug dessen Politik einer außenpolitischen Annäherung an Russland und innerer Re-Sowjetisierung dazu bei, die kommunistische Verfolgung als Thema klein zu reden, möglichst ganz aus der Öffentlichkeit heraus zu halten, um die positive Bezugnahme auf die Erinnerungsfolie Sowjetunion nicht zu gefährden. Neben der entsprechenden institutionellen und geschichtspolitischen Rahmensetzung – an den Universitäten oder in Geschichtsbüchern – hatte dies ganz praktische Folgen. Wurden etwa dem NKWD zugeordnete Gräber neu entdeckt, schrieb man sie umgehend der deutschen Besatzung zu und untersagte weitere Untersuchungen (S. 232, 250, 252). Nach der Konsolidierung der Macht des Präsidenten folgte ab 1996 ein immer aggressiveres Vorgehen gegen die im Band behandelten Denkmäler. Namentlich in Kurapaty wurden sie immer wieder Ziel von Vandalismus. Doch nicht nur deshalb stellt gerade dieser Erinnerungsort ein besonders geeignetes Beispiel für die Heterogenität der belarussischen Denkmalsbezüge dar: Hier stehen Gedenkkreuze für polnische, tatarische, jüdische, adlige und geistliche Opfer, für Insassen einzelner Gefängnisse oder Einwohner bestimmter Regionen, und es gibt Kreuze, die an individuelle Schicksale erinnern.

Der Gräberfund von Kurapaty war mithin eine Initialzündung, die schließlich dazu führte, erinnerungspolitische Themen auch auf regionaler und lokaler Ebene zu verhandeln. Hier waren es vor allem Angehörige der Opfer und Lokalhistoriker – also Personen, die bereits Wissen über die zu erinnernden Geschehnisse besaßen oder sich dieses angeeignet hatten –, die die Recherchen vorantrieben und nicht selten selbst als Initiatoren hinter den Denkzeichen standen. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielte die im Oktober 1988 gegründete Organisation „Martyrolah Belarusi“(Belarussischer Martyrolog). Ebenso standen Kirchen verschiedener Konfessionen, oppositionelle Gruppen und Parteien sowie nicht zuletzt Organisationen aus dem Ausland, vor allem aus Polen, hinter den Denkmalsprojekten. So diffus das Bild durch die diversen Hintergründe und Bezüge auch wirken mag – alle Akteure eint/e das unter der kommunistischen Herrschaft erlittene Leid. Der mit dem vorliegenden Band ermöglichte Gang durch die Erinnerungslandschaft der 141 Denkzeichen verdeutlicht dem Leser, welche Probleme aus der jüngeren Geschichte des Landes erwachsen, vor allem wenn es um die Frage der belarussischen Identität geht.

Der Band stellt ohne Frage eine wichtige Kartierungsleistung einer spezifischen osteuropäischen Erinnerungslandschaft dar, die freilich durch die Beigabe einer Karte der regionalen Verteilung der behandelten Gedenkorte noch übersichtlicher gewesen wäre. Neben dieser fast zu vernachlässigenden Detailkritik scheint es aber angeraten, die systematische Anwendung des im Buchtitel prominent platzierten Begriffes der Erinnerungsorte zu hinterfragen. Denn vergegenwärtigt man sich das von Pierre Nora entworfene und von Étienne François und Hagen Schulze für Deutschland weitergeführte Konzept, so erscheint die hier gewählte Beschränkung allein auf Denkmäler und Denkzeichen eigentlich zu eng gefasst. Gerade eine weiter gefasste Perspektive hätte vielleicht den Blick für die Frage geöffnet, welche Rolle die ausgewählten Orte in der Erinnerungskultur des gegenwärtigen Belarus spielen und ggf. in Zukunft spielen können. Wie beispielsweise eignet sich – betrachtet vor dem Hintergrund der Assmannschen Gedächtniskonzeption – die dritte Generation diese Denkmäler an? Ist der politische Gehalt der Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Diktatur, der dieses Gedenken in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren ausgezeichnet und befördert hat, heute noch vorhanden bzw. überhaupt in die Gegenwart und Lebenswelt kontextualisierbar? Hier führt die enge Fokussierung auf die Initiatoren und Urheber samt der von ihnen geführten Auseinandersetzungen zu einer sehr bedauernswerten Lücke in der Beschreibung der einzelnen Denkmäler. In den wenigsten Fällen (ausführlich ist dies lediglich von Elena Temper (S. 49-65) und Ronny Heidenreich (S. 79-82) am Beispiel Kurapaty dargestellt) erfährt der Leser etwas über die heutige Nutzung bzw. den Erhalt und die Pflege der zum Teil Jahrzehnte alten Denkmäler. Überdies sei darauf hingewiesen, dass zwar Formen- und Symbolsprache der Denkmäler behandelt werden – so wird die zumeist verwendete Form des Kreuzes/Gedenkkreuzes eingehend erläutert (S. 45-47). Dagegen bleibt die Chronologie aber oft unbeachtet, obgleich einige Denkmalsanlagen bereits aus den 1920er-Jahren (S. 207) oder auch aus der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg (S. 126, 202/03) stammen. Zudem besteht zumindest ein politisch-inhaltlicher Unterschied zwischen den vor und nach 1991 (Auflösung der UdSSR) wie auch nach 1994 (Amtsantritt Aljaksandr Lukaschenka) errichteten Denkmälern. Eine zeitliche Systematisierung entlang dieser Zeitschnitte würde sich anbieten.

Trotz dieser Einwände kann die bereits erwähnte Leistung einer Bestandsaufnahme der belarussischen Gedenklandschaft nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Band ergänzt nicht nur die zu Belarus vorliegende Forschungsliteratur. Die Darlegung von Problemen des kollektiven Gedächtnisses bis auf die oftmals vergessene regionale und lokale Ebene eröffnet vielschichtige Einblicke in einen zumindest offiziell ‚toten Winkel‘ der Erinnerungskultur jener osteuropäischen Transformationsgesellschaft, über die gemeinhin nur tagespolitisch-journalistische Zuschreibungen kursieren. Der im Band verfolgte Ansatz scheint auch auf andere Länder im ostmitteleuropäischen Raum anwendbar und in komparativer Hinsicht vielversprechend. Das zeigt vor allem der Beitrag von Felix Ackermann über die transnationalen Potentiale, die sich aus der Verwobenheit der Geschichte Ostmitteleuropas ergeben (S. 71-72). Letztlich kann dem Wunsch der Herausgeberin Anna Kaminsky nur zugestimmt werden, dass das Buch, dessen Manuskript bereits in Belarussisch vorliegt, unter anderen als den gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen auch in Belarus erscheinen kann.

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