Flucht und Vertreibung – Geschichte und Erinnerung

Niven, Bill (Hrsg.): Die Wilhelm Gustloff. Geschichte und Erinnerung eines Untergangs. Halle 2011 : Mitteldeutscher Verlag, ISBN 978-3-89812-781-3 387 S. € 24,90

Fendl, Elisabeth (Hrsg.): Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung. Referate der Tagung des Johannes-Künzig-Instituts für Ostdeutsche Volkskunde 8. bis. 10. Juli 2009. Münster 2010 : Waxmann Verlag, ISBN 978-3-8309-2486-9 281 S., zahlr. Abb. € 29,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maren Röger, Deutsches Historisches Institut Warschau

Nachdem in den 1990er-Jahren die ostmitteleuropäischen Archive geöffnet wurden, kam die ereignisgeschichtliche Forschung zur Zwangsmigration der Deutschen um 1945 entscheidend voran.1 Die Neuerscheinungen der letzten Monate konzentrieren sich nun auf die Erinnerungsgeschichte des historischen Ereignisses, das im deutschen Sprachraum unter der Chiffre ‚Flucht und Vertreibung‘ verhandelt wird.2 Insbesondere der erinnerungspolitische Boom, der im Anschluss an zwei mehrteilige TV-Dokumentationen in ARD und ZDF, aber auch infolge von Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ (2002) einsetzte, sowie nicht zuletzt die Streitgeschichte über das vom Bund der Vertriebenen geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin offenbarten große Forschungslücken hinsichtlich der zentralen Erzählmuster der Zwangsmigration der Deutschen.

Die beiden vorliegenden Sammelbände tragen dazu bei, diese Leerstellen zu vermessen und zu füllen. Der bereits 2010 erschienene Band der Ethnologin und Kunsthistorikerin Elisabeth Fendl vom Johannes-Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde in Freiburg konzentriert sich auf die Ästhetik des Gedenkens an Zwangsmigration und Heimatverlust. Der 2011 veröffentlichte Band von Bill Niven, Professor für deutsche Zeitgeschichte an der Universität Nottingham und Verfasser zahlreicher Studien über die deutsche Erinnerungskultur, fokussiert einen der zentralen bundesrepublikanischen Erinnerungsorte der Zwangsmigration: das im Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot versenkte „Kraft durch Freude“-Schiff „Wilhelm Gustloff“, auf dem vor der Küste Pommerns Tausende Flüchtlinge zu Tode kamen und das durch Grass’ Novelle wieder ins Zentrum des öffentlichen Interesses rückte.

Der von Elisabeth Fendl herausgegebene Band beruht auf einer im Juli 2009 abgehaltenen Tagung mit dem Titel: „Heimat-Stil. Zur Ästhetik des Verlusts“, welcher für die Publikation geändert wurde in: „Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung“, was den Aspekt des Bildgedächtnisses noch stärker betont. Einige der interessantesten Beiträge des Bandes widmen sich diesem bislang noch selten erforschten Feld, also den bildlichen Narrativen der deutschen Vertreibungserinnerung. Fendl selbst setzt sich in ihrem Aufsatz mit den Motiven auf bundesrepublikanischen Gedenkblättern und Volkskalendern sowie Briefmarken und Postkarten der ersten Nachkriegsjahrzehnte auseinander. Sie zeigt unter anderem, dass die auf dem Buchcover abgebildete, 1955 herausgegebene und 1965 wiederaufgelegte Sondermarke der Deutschen Bundespost (ein stilisierter Treck aus Männer, Frauen und Kindern) „die Vorstellung einer Generationen und Geschlechter überspannenden ‚Leid- und Schicksalsgemeinschaft‘ verfestigen“ sollte (S. 49f.). Die Marke wurde damit Teil eines „Postkriegs“ zwischen der Bundesrepublik einerseits sowie einigen Ostblockstaaten andererseits. Stephan Scholz kann überzeugend darlegen, dass das Motiv der sorgenden und trauernden Mutter eines der zentralen Bildnarrative des bundesrepublikanischen Vertreibungsdiskurses ist. Er argumentiert am Beispiel der westdeutschen Denkmalsetzungen, dass über Verwendungen der Schutzmantelmadonna die Heimat als sakraler Ort und die Vertreibung aus dieser Heimat umso widernatürlicher erscheint (S. 184). Auch Tobias Weger analysiert in seinem Beitrag Denkmäler, aber auf regionalhistorischer Ebene. Für den Raum Oldenburg untersucht er nicht nur künstlerische Motive, sondern versteht auch „Straßennamen als Sonderform von Vertriebendenkmälern“ (S. 204).

Nicht ausschließlich den Bildern, sondern der Materialität der Erinnerung an die Zwangsmigration widmen sich die ebenfalls sehr aufschlussreichen Beiträge von Cornelia Eisler, die unter anderem den überwiegend privat betriebenen Heimatstuben eine „Ästhetik des Gemütlichen“ attestiert (S. 130), was den Verlust des vertrauten sozialen Umfelds auffangen sollte, und von Tim Völkering, der historische Ausstellungen untersucht. In einem weiteren interessanten Beitrag zeigt Henrike Hampe, wie die donauschwäbischen Flüchtlinge durch den Umgang mit ihren Trachten ‚Heimat‘ lebten. Waren die veränderten Bekleidungserwartungen in der Bundesrepublik zunächst wesentlicher Teil der Fremdheitserfahrung und wurden die Trachten in der ersten Zeit nach der Aussiedlung nur entsprechend der Traditionen getragen, so bekamen sie später eine wichtige Funktion in der kulturellen Selbstverständigung der Vertriebenen. Die Trachten lösten sich zunehmend von den sozialen Rollen: Zum Beispiel wurde die Kluft einer unverheirateten Frau auch von älteren, verheirateten Frauen als Ausdruck des Heimatstolzes getragen. Annelie Kürstens Beitrag zum Klang der Erinnerung – eine Analyse von Schallplatten und Filmmusik – überzeugt ebenfalls.

Angesichts des großen Stellenwerts der Analyse nicht-bildlicher Vertreibungserinnerungen (zumindest wenn man den Bildbegriff im engeren Sinne versteht) wäre der Tagungstitel als Buchtitel doch passender gewesen. Als Manko des ansonsten sehr gelungenen Bandes ist außerdem anzumerken, dass eine strukturierende Einleitung fehlt, in der das Feld der Vertreibungserinnerung und die zugehörige Forschungslandschaft kartiert würde.

Während sich Fendls Sammelband ausschließlich auf die „Nachgeschichte“ der Zwangsmigration bezieht, stehen in Nivens „Gustloff“-Band ereignis- und erinnerungsgeschichtliche Beiträge nebeneinander. Die ersten drei Aufsätze von Sascha Howind über die „Gustloff“ in der NS-Propaganda, von Bill Niven selbst über die Indienstnahme des Schiffs durch die NS-Politik, unter anderem als Wahlschiff für Auslandsdeutsche, und von Jann M. Witt über die Rolle der „Gustloff“ im Zweiten Weltkrieg fokussieren die ereignisgeschichtliche Ebene. Im für die Kontextualisierung wichtigen Aufsatz von Christian Lotz über den Untergang des Schiffs „Cap Arcona“ am 3. Mai 1945, auf dem KZ-Häftlinge zu Tode kamen, werden Ereignis- und Erinnerungsgeschichte kombiniert, wobei die unterschiedlichen Gedenkpraktiken in der Bundesrepublik und der DDR ein weiteres Mal eindrücklich belegt werden.

Die übrigen Beiträge des Bandes widmen sich unterschiedlichen Aspekten der Erinnerungs- und Forschungspraxis. Erneut Jann M. Witt, der als Historiker des Deutschen Marinebunds e.V. am Marine-Ehrenmal in Laboe beschäftigt ist, hat über diese Erinnerungsstätte als Gedenkort für Flucht und Vertreibung einen Aufsatz beigesteuert. Bill Niven analysiert die Entstehungs- und Streitgeschichte der „Forschungsstelle Ostsee“, die von der heutigen Historiographie bislang wenig beachtet wurde. Unter Betreuung der (nicht mehr existierenden) Ostakademie in Lüneburg sollten dort die maritimen Evakuierungsaktionen über die Ostsee untersucht werden, wobei sich die Protagonisten – Überlebende des „Gustloff“-Untergangs – früh zerstritten. Das Projekt wurde dann komplett von der Ostakademie übernommen, versandete aber, und die Betroffenen arbeiteten an eigenen Buchpublikationen. Besondere Berühmtheit als ‚Zeitzeuge‘ erlangte der frühere Zahlmeisterassistent Heinz Schön, der seither viele Spiel- und Dokumentarfilmer beraten sowie Bücher publiziert hat. So aufschlussreich und sorgfältig recherchiert Nivens Beitrag ist, so sehr stört die Tatsache, dass Schöns Publikationsaktivitäten zu Flucht und Vertreibung jenseits der „Gustloff“ – wie im ganzen deutschen Vertreibungsdiskurs – nicht problematisiert werden (auch nicht in der Auswahlbibliographie von Michael Ennis, S. 362-383), obwohl der von Schön in einigen Fällen als Publikationsort gewählte Arndt-Verlag in Kiel wegen seiner politischen Ausrichtung regelmäßig in den Berichten des Verfassungsschutzes auftaucht.3

Einen Schwerpunkt des Bandes bilden Aufsätze zur Erinnerung des „Gustloff“-Untergangs in Literatur und Film. Michael Ennis untersucht kenntnisreich die Filme von Frank Wisbar, der bereits 1937 einen Film unter dem Titel „Petermann ist dagegen“ über ein KdF-Schiff („Der Deutsche“) gedreht hat, womit Ennis das Motiv für das spätere Interesse Wisbars an der „Gustloff“ erklärt. Er habe sich mit dem Film zwar nicht der NS-Ideologie angebiedert, aber durch vermeintlich unpolitische Unterhaltung doch zur Propaganda beigetragen. 1938 emigrierte Wisbar mit seiner jüdischen Ex-Frau; als er nach 1945 zurückkehrte, wollte er mit Antikriegsfilmen ein Zeichen setzen. Den bekannten Film „Nacht fiel über Gotenhafen“ (1959) sieht Ennis dementsprechend auch nicht als schuldrelativierend – zumindest nicht in Bezug auf die Männerfiguren. Über die Frage des Umgangs mit der deutschen Schuld im zeitgenössischen Film gehen die Meinungen von Axel Bangert und Eric Langenbacher auseinander: Während Bangert in den Spielfilmen nach 1989, darunter „Die Gustloff“ von Joseph Vilsmaier (2008), „die Evokation von Geschichte als kollektivem Trauma“ sieht (S. 316), hält Langenbacher dagegen: „Ich bin der Ansicht, dass diese zeitgenössischen Filmproduktionen die dargestellten Ereignisse gewissenhaft in ihren historischen Kontext einordnen und die Führungsriegen der Nazizeit und das traditionelle Deutschland scharf kritisieren, ebenso wie viele Durchschnittsdeutsche; sie sind nicht einmal ansatzweise revanchistisch oder revisionistisch.“ (S. 328)

Besonders bei den erinnerungskulturellen Beiträgen wirkt diese ‚Außenperspektive‘ von nicht in Deutschland lebenden – und damit nicht in die erinnerungspolitischen Tagesdebatten eingebundenen – Autoren erfrischend. Gerade angesichts der Tatsache, dass das Buch auf Deutsch erschien, ist allerdings zu bemängeln, dass die deutschsprachige Literatur zur Vertreibungserinnerung nicht in allen Fällen systematisch einbezogen wurde.

Beide Sammelbände stellen wichtige Beiträge zur Erinnerungsgeschichte der deutschen Zwangsmigration am Ende des Zweiten Weltkriegs dar. Es ist zu hoffen, dass weitere Bausteine folgen, um die Nachgeschichte der Vertreibung eines Tages unter Einbeziehung verflechtungsgeschichtlicher Ansätze und unter Berücksichtigung diverser Akteure schreiben zu können – von den Politikern betroffener Länder und den öffentlich agierenden Verbänden über Privatpersonen mit erinnerungskulturellen Alltagspraxen bis zu Regisseuren und Literaten. Dies gilt umso mehr, als gerade beim Thema ‚Flucht und Vertreibung‘ das Reden über die Ereignisgeschichte schwerlich vom Reden über die Erinnerungsgeschichte getrennt werden kann.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa den Bericht von Andreas R. Hofmann, Zwangsmigration im östlichen Mitteleuropa. Neue Forschungen zum „Jahrhundert der Vertreibungen“, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 55 (2006), S. 232-252, und zuletzt den Überblick von Mathias Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011 (vgl. Stephan Scholz: Rezension zu: Beer, Mathias: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen. München 2011, in: H-Soz-u-Kult, 08.08.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-3-096> [27.10.2011]).
2 Vgl. Eva Hahn / Hans Henning Hahn, Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn 2010 (vgl. Mathias Beer: Rezension zu: Hahn, Hans Henning; Hahn, Eva: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn 2010, in: H-Soz-u-Kult, 03.06.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-2-182> [27.10.2011]); Maren Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989, Marburg 2011. Bereits einige Jahre früher erschien das Buch von Manfred Kittel, Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982), München 2007 (vgl. Ursula Rombeck-Jaschinski: Rezension zu: Kittel, Manfred: Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961-1982). München 2007, in: H-Soz-u-Kult, 19.07.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-048> [27.10.2011]). Kittels These und deren methodische Herleitung konnte allerdings nicht überzeugen.
3 Zu Schöns Rolle vgl. Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung, Kapitel VI.