W. Tschacher: Königtum als lokale Praxis

Titel
Königtum als lokale Praxis. Aachen als Feld der kulturellen Realisierung von Herrschaft. Eine Verfassungsgeschichte (ca. 800-1918)


Autor(en)
Tschacher, Werner
Reihe
Historische Mitteilungen, Beihefte 80
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
508 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Zotz, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau

In einem großen zeitlichen Bogen widmet sich diese Aachener Habilitationsschrift der Frage nach dem spezifischen Bild von Königsherrschaft im lokalen Raum, an einem Ort, der eine Sonderstellung in der politischen Kultur des Heiligen Römischen Reiches, aber auch über dessen Ende 1806 hinaus beansprucht hat: als Traditions- und Memorialort Karls des Großen, als Stätte der Krönung der Könige bis 1562, als Aachen in dieser Funktion von Frankfurt abgelöst wurde. Mit viel Mut und gewiss beflügelt von der im Vorwort erkennbaren Zuneigung zu seiner Vaterstadt hat Werner Tschacher es unternommen, elf Jahrhunderte Königtum vor Ort zu thematisieren, von der fundierenden Gestaltung Aachens durch den zweiten Karolinger auf dem Thron an der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert bis zum „letzten Besuch eines deutschen Kaisers in der alten Krönungsstadt im äußersten Westen“ (S. 11), als Wilhelm II. am 3. Mai 1918 wenige Monate vor seiner Abdankung über den Platz zwischen Münster und Rathaus – mittelalterlich gesprochen zwischen der Pfalzkapelle und der Palastaula – schritt.

Das Buch gliedert sich in acht große Kapitel. In der Einleitung, die mit dem Besuch Wilhelms II. einsetzt, erläutert Tschacher sein von den ‚Cultural Studies’ geleitetes Anliegen, nach der Aneignung und Nutzung des Raums für die Selbstdarstellung des Königs durch Präsenz und Repräsentation und nach Entwicklungslinien der Königsherrschaft im langfristigen politischen, sozialen und kulturellen Wandel zu fragen: „Verfassungsgeschichte“ als kommunikative und interaktive Praxis. Vor diesem Hintergrund erläutert Tschacher Forschungsstand und Theorien zum Begriff Herrschaft, an dem er gegen kritische Einwände festhält. Ausführlich werden Max Webers drei Typen legitimer Herrschaft und Pierre Bourdieus Lehre von den drei Arten von Kapital als methodisches Rüstzeug vorgestellt. Bemerkungen zur Quellen- und Forschungslage zum Untersuchungsraum Aachen runden die Einleitung ab. Dabei wird das Mittelalter allerdings nur kursorisch und mit Verweis auf Überblicksliteratur gestreift (S. 53 Anm. 319); hier hätten auch die im Literaturverzeichnis genannten jüngeren Arbeiten von Ludwig Falkenstein genannt werden sollen.

Das zweite Kapitel rückt mit dem Zeitabschnitt von circa 800 bis 814 Karl den Großen, Aachen und „das Ursprüngliche charismatischer Herrschaft“, wie etwas ungewöhnlich formuliert wird, in den Vordergrund. Bereits hier wird der Akzent auf das Thema Charisma gelegt, das sich als roter Faden durchzieht. Es geht Tschacher um die Legitimation des frühkarolingischen Königtums; dabei wird mit Recht die Bedeutung des militärischen Erfolgs des Herrschers für seine Autorität herausgestellt. Bleibt dies noch eher im allgemeinen Rahmen, so ist der Abschnitt über die „Repräsentation des charismatischen Frankenkaisers in Aachen“ auf das eigentliche Thema fokussiert; Bauten und Präsenz des Herrschers werden angesprochen. Doch hätte man sich hier ein etwas konkreteres Bild von Kommunikation und Interaktion vor Ort gewünscht.

Im dritten Kapitel behandelt Tschacher im Durchgang durch rund sechs Jahrhunderte „Tradiertes Charisma als Kapital der Krönungsstadt (814 bis um 1550)“. Die Darstellung kreist um die Stichworte „Karlskult“ und „Krönungstradition“. Im Überblick werden die Versuche Ottos III. und Friedrich Barbarossas, Kapital aus Karl dem Großen für die Königsherrschaft zu schlagen, angesprochen; daneben profiliert Tschacher die Akteure in Aachen neben dem Königtum, nämlich Marienstift und Stadtgemeinde. Vor allem letztere profitierte zunehmend vom tradierten Karlscharisma. Zentral für die Thematik ist die dichte Beschreibung der Königskrönung „als ritualisierter Gabentausch“, vor allem zwischen König und Bürgerschaft. Ob allerdings der Schlaf des Königs zwischen dem Tag des Einzugs und dem Krönungstag als Übergangsritus zu gelten hat (S. 140), erscheint fraglich. Am Ende des Mittelalter-Teils fungiert der Abschnitt 3.4 als eine Art Zwischenbilanz, in der auf allgemeiner Ebene der Wandel von der Personen- zur Amtsgebundenheit der Legitimationsgrundlagen des Königtums und für Aachen die Rolle der dortigen Bürger als eigenständige Akteure in der Realisierung der lokalen Königsherrschaft hervorgehoben werden.

Eine weitere Zäsur in der Langzeitperspektive auf Aachen als Feld der kulturellen Realisierung von Herrschaft sieht Tschacher um 1800, dem Schlusspunkt des vierten Kapitels, benannt „Verblassendes Charisma und Portabilität: das entrückte Königtum des Alten Reiches (um 1550 bis um 1800)“. In den Zeiten, in denen Aachens Funktion als Krönungsort der Vergangenheit angehörte, fand, wie Tschacher eindringlich beschreibt, die „Kommunikation der Königsherrschaft“ in Karlsfesten und Huldigungs-, Anniversar- und Trauerfeiern statt; Münster und Rathaus, die beiden Pole kirchlicher und weltlicher Hoheit im alten Pfalzbereich von Aachen, blieben ohne Präsenz des Königs und auch die anfängliche Fernpräsenz Karls des Großen und Aachens bei den Krönungen in Frankfurt wurde sukzessive reduziert. Aufschlussreich sind die Ausführungen Tschachers zur Ikonographie an den beiden Aachener Monumentalbauten und im öffentlichen Raum mit seinen Brunnen.

Das fünfte Kapitel greift im zeitlichen Zuschnitt die fundierende Phase Karls des Großen auf, wenn nun die „Traditionsschöpfung als kurzlebige Erfolgsstrategie: Der Cäsarismus Napoleon Bonapartes und der Aachener Karlskult (um 800 bis 1814)“ behandelt werden. Als „zweiter Charlemagne“ pflegte Napoleon mit Blick auf sein eigenes Kaisertum die Aachener Karlskultur, nicht zuletzt im Spolientransfer nach Paris und in der Visualisierung seiner Herrschaft, ein politischer Karlskult verschmolz mit dem Napoleonkult. Der Kaiser weilte mehrfach in Aachen und die Aachener feierten ihrerseits Geburt und Taufe des Kronprinzen.

Die nächste bis 1890 reichende Phase, Gegenstand des sechsten Kapitels, ist gekennzeichnet durch „Inkompatible Traditionen: Preußisches Königtum im katholischen Aachen (1815 bis um 1890)“. Tschacher schildert die schwierige Integration der preußischen Rheinlande, wobei der Traditionsort Aachen seitens der Regierung immerhin für die zentrale Huldigungsfeier im Mai 1815 ausgewählt wurde, deren Darstellung mit Recht breiten Raum einnimmt. In der Folgezeit brachte die Restaurierung von Münster und Rathaus eine gewisse Annäherung zwischen dem katholischen Aachener Bürgertum und der preußischen Monarchie; allerdings gab es Dissens in der Frage der Ikonographie und die Neubelebung des Karlskults in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Ausdruck des Aachener Selbstverständnisses. Über die ausführliche Würdigung königlich-preußischer Präsenz anlässlich der mit Aachener Jubelstimmen veranstalteten Huldigungsfeier für Wilhelm I. 1865 führt Tschacher die Darstellung in die Zeit nach der Reichsgründung, als mit dem Kulturkampf bestehende Hoffnungen der rheinischen Katholiken enttäuscht wurden, sich die Situation aber auch bald wieder entspannte. Die Geschichte der erneuten Restaurierung von Münster und Rathaus spiegelt die Felder von Konsens (Würdigung Karls des Großen) und Dissens, unter anderem mit Blick auf das preußische Herrscherhaus.

Der schwierige Dialog bei der Repräsentation und Kommunikation des preußischen Königs im katholischen Aachen wurde in der Ära Wilhelms II. durch eine Phase medialer Charismatisierung legaler Königsherrschaft abgelöst – wie das siebte Kapitel betitelt ist. Bei seinem Besuch 1902 trat der Kaiser als neuer Karl der Große auf. Andererseits zeigt sich auf Seiten der lokalen Akteure, dass der Restaurierungsgedanke nun „offen in den Dienst des Kaisertums gestellt“ wurde (S. 330). Tschacher zieht die Linie bis zum zweiten Kaiserbesuch 1911 und zeigt die gewandelte Haltung der Aachener Eliten auf, als 1912 am Tag vor dem traditionellen Karlsfest am 28. Januar Kaisers Geburtstag gefeiert wurde. Mit der Schilderung des eingangs bereits aufgerufenen dritten Kaiserbesuchs im Mai 1918 endet das Kapitel.

Im Fazit bündelt Tschacher seine Beobachtungen und Ergebnisse, indem er den „König im lokalen Raum“ charakterisiert und die Königsherrschaft im Epochenwandel skizziert; dabei wirft er einen interessanten Seitenblick auf das mit Aachen vergleichbare Reims (S. 392f.). Zuletzt formuliert er „Desiderate einer historischen Herrschaftstheorie“ und plädiert noch einmal für die Beibehaltung des Herrschaftsbegriffs.

Insgesamt beeindruckt das Werk Tschachers: In der über einen Zeitraum von elf Jahrhunderten geführten, theoriegestützten Darstellung gelingt es ihm, in der Fokussierung auf die Königsherrschaft in actu vor Ort und im Kontext der anderen zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gewichtigen Akteure Kontinuitäten wie Wandlungen der lokalen Praxis zu beleuchten. Ein derart ambitioniertes Projekt kann nicht durchweg gelingen. So gibt es mitunter Passagen mit etwas holzschnittartigen Umrissen der ‚grands thèmes’ und auch die Zitate aus der auf rund hundert Seiten verzeichneten Literatur lassen bisweilen an Seitengenauigkeit zu wünschen übrig. Doch überwiegen die Vorzüge der Gesamtarchitektur, die Aktualisierung des Kapitals Karl der Große durch die Zeiten, die dichten Beschreibungen der Aufenthalte von Herrschern und ihrer Repräsentation und Kommunikation mit den Eliten der Krönungsstadt Aachen mit ihren immer wieder im Fokus der Interessen stehenden Monumente.