A. J. Boyle (Hrsg.): Seneca, Oedipus

Cover
Titel
Seneca, Oedipus. Edited with Introduction, Translation, and Commentary


Herausgeber
Boyle, Anthony J.
Erschienen
Anzahl Seiten
X, CXXV, 437 S.
Preis
£ 85,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Theologische Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin

Kennern der römischen Tragödie ist Boyle seit langem bestens bekannt, als scharfsinniger Exeget so gut wie als penibler Philologe, dem wir neben einigen feinen Sammelwerken und Monographien mehrere einschlägige Editionen verdanken, allen voran die 2008 erschienene verdienstvolle Ausgabe der einzigen erhaltenen fabula praetexta Roms, der Octavia aus dem Corpus der Seneca-Tragödien.1 So ist es nur konsequent, dass der kalifornische Latinist sich nun der (nicht zuletzt dank ihrer Rezeptionsgeschichte) wohl folgenreichsten Tragödie Senecas zuwendet, dem Oedipus. Zumindest für hiesige Leser wirft dies unweigerlich die Frage auf, wie sich seine Arbeit zu Töchterles Oedipus verhält, dem anerkannt besten Einzelkommentar zu einer Seneca-Tragödie im deutschsprachigen Raum überhaupt.2 Doch dazu später.

Boyles Ziel ist es (ähnlich wie bei seiner Octavia), „to elucidate the text dramatically as well as philologically, and to locate the play firmly in its contemporary historical and theatrical context and in the ensuing literary and dramatic tradition“ (S. IXf.) – was ihm in der Tat vorzüglich gelingt. Entscheidenden Anteil an diesem Gelingen hat die substantielle Einleitung, die auf 125 Seiten eine Fülle essentieller Informationen ausbreitet, so zum Autor (etwa zu seinen pythagoreischen Schwärmereien in jungen Jahren, einstigen Selbstmordplänen oder jenem lebensgefährlichen Schiffsbruch in der Ägäis), zur umstrittenen Chronologie der Bühnenstücke – sowohl in ihrer relativen Abfolge als auch innerhalb Senecas Biographie3 – oder zur heiklen Frage stoischer Positionen in den Dramen.

Im Kielwasser jüngerer Studien erstellt Boyle ein plastisches Psychogramm des theatralisch geprägten frühen Prinzipats (S. XIX–XXV). Das rhetorische Training, das gebildete Römer genossen, half ihnen, aus dem Stegreif eine persona („Maske“) zu erschaffen und in sie zu schlüpfen. Vor allem bei Hof lernte es die Aristokratie, Rollen zu spielen und Begeisterung oder Trauer zu heucheln. Vielen wird ihr Spiel zur zweiten Natur und das Theater zur gängigen Metapher für ihre Welt. Zum Inbild der Epoche wird letztlich der junge Kaiser Nero, der gleichsam als ‚erster Schauspieler‘ des Staates selbst auf die Bühne tritt und (in mehr als einer Hinsicht) zur tragischen Figur mutiert – passenderweise auch zu Oedipus.4

Ein kurzer Überblick zum römischen Theater gibt Auskunft zu den Schauspielern, zum zeitgenössischen Publikum oder auch zur Baugeschichte der Schauspielhäuser (das historisch fundamentale Theater des Pompeius lässt Boyle S. XXIXf. lebendig werden). Referiert wird die große Debatte um die Bühnentauglichkeit der senecanischen Tragödie (die im Übrigen bereits erfahrene Theatermänner wie Lessing und Schlegel dem Römer kurzerhand absprachen), in der vor allem Zwierlein klar Position für die „Rezitationsdramen Senecas“ bezog.5 Doch neigt sich allmählich das Pendel, und erwartungsgemäß schlägt Boyle sich auf die Seite jener modernen Stimmen, die Senecas meisterliche Handhabung des dramatischen Apparats und der Bühnentechnik herausarbeiten und fest von Aufführungen der Stücke ausgehen.6

Unter dem Stichwort „The declamatory style“ behandelt Boyle die augenfällig rhetorische Prägung von Senecas Stil (um metrische Fragen geht es anderen Orts), der etliche Stilmittel verdichtet und – so Boyles provokante These – gerade deshalb als Werkzeug der Psychologisierung tauge, die das ‚Ich‘ hinter der Theatermaske bloßlege. Das folgende Kapitel zur Geschichte des Oedipusmythos legt den Schwerpunkt begreiflicherweise auf Sophokles, geht aber auch genauer auf die römische Wandmalerei ein.7

In einer exegetischen Tour de force, die kaum eine Frage von Belang offen lässt, kommt Boyle auf das Stück selbst zu sprechen (S. LV–LXXXVII). Senecas innovative, stellenweise ingeniöse Aneignung des sophokleischen Stoffes arbeitet er ebenso heraus wie die ‚Rhetorik der Macht‘, die den Text durchdringt. Der veränderte psychologische Blickwinkel des Römers rückt das Motiv des Inzests ins Zentrum, der sich in Oedipus’ Schuldgefühlen gegenüber der Mutter manifestiert (dass sich Freuds berühmter Oedipuskomplex mit Seneca weit besser als mit Sophokles illustrieren ließe, unterstreicht Boyle anderen Orts, S. CVII–CIX). Auf höherer Ebene wirft dies die Frage nach seiner Schuld auf, gerade angesichts eines allmächtig-ominösen Schicksals, das die Fäden zieht.8 Gerade für Zeitgenossen kaum zu übersehen waren die Bezüge zu Nero, dessen Mutterbindung bekanntlich mythisch-tragische Dimensionen erreichte. Einen inspirierten Schlussakkord setzen die Betrachtungen zur ‚metatheatralen‘ Qualität des Stücks, das wiederholt selbst (vor allem zu Beginn und Ende, in auffälliger Ringkomposition) auf sein ‚theatrales‘ Wesen als ‚spectaculum‘ („Inszenierung“) verweist.

Gleichsam als Epilog dokumentieren knapp 30 Seiten die außergewöhnlich reiche Wirkungsgeschichte des senecanischen Stückes, von Lukan, der aus den Versen seines Onkels dankbar schöpfte, und dem anonymen Autor der Octavia über Shakespeare, Corneille, Racine, Voltaire (um nur einige Namen zu nennen) bis in die Gegenwart, deren Oedipusdramen und -opern sich kaum noch überschauen lassen.

Boyles Lesetext (ein ‚selektiver‘ kritischer Apparat folgt als Anhang) weicht an rund 40 Stellen von Zwierleins „Oxford Classical Text“ ab (vgl. die Liste S. 91f.), wobei er nicht selten Konjekturen verwirft und zu Lesarten der Handschriften zurückkehrt. Eine willkommene Beigabe ist seine Übersetzung, die ungeachtet ihrer Texttreue durchaus dramatische Qualität besitzt und geradezu nach der Bühne ruft (ein feines Beispiel bieten die Verse 530–658, die große Botenrede mit der Schilderung der Geisterbeschwörung).

Bis hier verdient Boyle – pauschal gesprochen – den Vorzug gegenüber Töchterle. Das Blatt wendet sich beim Kommentar, und zwar vor allem aus einem Grund: Nicht nur fallen Töchterles Glossen mit über 500 großformatigen Seiten gut doppelt so lang aus wie die Boyles (etwa 265 S.) – Töchterle hat, was die metrische und grammatische Sacherklärung angeht, das Aufarbeiten der älteren Sekundärliteratur, vor allem aber das Sammeln relevanter Parallelen aus dem griechischen und römischen Schrifttum, mit exemplarischer Präzision gearbeitet (so Boyle selbst S. X). Im direkten Vergleich liest sich Boyle daher an vielen Stellen wie eine komprimierte englische Version Töchterles ‚in usum Delphini‘. Zudem lässt er nicht wenige Passagen, bei denen der Innsbrucker Latinist ins lehrreiche Detail geht, aus nicht immer ersichtlichen Gründen außen vor.

Doch Boyle wäre nicht der vorzügliche Exeget und Tragödienexperte, wenn er nicht immer wieder markante eigene Akzente setzen und über Töchterle hinaus mit bestechenden Detailbeobachtungen punkten würde. Einige Beispiele aus der großen Geisterbeschwörung (Vers 530–658) mögen dies illustrieren: Im Vorspann präsentiert Boyle einen umfassenden Katalog von Geistern nicht nur bei Seneca, sondern auch in der attischen Tragödie. Willkommen ist der Hinweis auf den nachhaltigen Eindruck, den Cicero zufolge solche Geisterszenen im Theater auf die Frauen und Kinder im Publikum hatten (Tusc. 1,37; vgl. S. 238). Die einleitende topographische ‚Ekphrasis‘ (die bei verwandten Szenen in der attischen Tragödie fehlt) spiegelt mit ihrer düsteren Atmosphäre ihm zufolge gleichsam die psychische Verfassung der Akteure (S. 239). Die namenlose ingens arbor (Vers 542) identifiziert Boyle unter Vorbehalt als Eiche und schlägt für die ambivalente Wendung una defendit nemus die wohl stimmigere Auflösung vor: „it guards the grove alone“ (Vers 544; S. 241). Der Vergleich der Toten mit Blättern (Vers 600) dürfte in der Tat auf das berühmte homerische Gleichnis zurückgehen (Ilias 6,146–149; S. 252). Der etymologische Scherz Vers 572 rumpitur caecum chaos wird ebenso erhellt wie das Echo squalente cultu maestus (Vers 553; vgl. die Beschreibung der Sonne Vers 2 nube maestum squalida). Pointiert schildert Boyle die klassische Rolle der Furie als Rächerin und die Innovationen, denen Seneca diese Figur unterzieht (S. 249f.). Laius’ Rede widmet er eine gute Analyse, die auch Raum für die Anleihen Shakespeares bietet (S. 255f.).9

Kurzum: Hiesige Leser dürfen auch weiterhin guten Gewissens zum Innsbrucker Oedipus greifen. Doch sie tun gut daran, Boyles vorzüglichen Nachträge und Addenda und vor allem seine gelegentlich dezidiert formulierte ‚second opinion‘ mit zu Rate zu ziehen. Eine klare Empfehlung!

Anmerkungen:
1 Anthony J. Boyle (Hrsg.), Octavia. Attributed to Seneca, Oxford 2008. Aus seinen Monographien vgl. zuletzt: An introduction to Roman tragedy, London 2006.
2 Karlheinz Töchterle, Lucius Annaeus Seneca, Oedipus, Heidelberg 1994.
3 Den ersten sicheren ‚terminus ante quem‘, 79 n.Chr., liefert ein pompejanisches Graffito mit einem Vers aus Senecas Agamemno (vgl. S. XVIII).
4 Vgl. Suet. Nero 21,3: inter cetera cantavit […] Oresten matricidam, Oedipodem excaecatum, Herculem insanum (und Nero 46,3).
5 Otto Zwierlein, Die Rezitationsdramen Senecas. Mit einem kritisch-exegetischen Anhang, Meisenheim am Glan 1966.
6 Für diese Position spricht letztlich auch ein kleines Indiz wie das in Anm. 3 erwähnte Graffito – das wir am ehesten einer Aufführung des Agamemno in Pompeji verdanken.
7 Bedauerlich genug wissen wir nichts über Caesars Tragödie Oedipus, deren postume Publikation Augustus unterband (vgl. Suet. Caes. 56,7).
8 Vor allem an dieser Schlüsselstelle stellt sich die Frage nach stoischen Positionen in dem Stück.
9 Bei Töchterle wie bei Boyle fehlen Hinweise auf die ‚versus aurei‘, Vers 547: limosa pigrum circumit fontem palus; Vers 555: mortifera canam taxus adstringit comam u.a.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension