W. Damberg (Hrsg.): Soziale Strukturen und Semantiken des Religiösen

Cover
Titel
Soziale Strukturen und Semantiken des Religiösen im Wandel. Transformationen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989


Herausgeber
Damberg, Wilhelm
Erschienen
Anzahl Seiten
222 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Gerster, Department of History and Civilization, European University Institute, Florence

Wiederholt ist in den letzten Jahren über den gestiegenen Anteil projektförmiger Forschung in den deutschen Geisteswissenschaften diskutiert worden. Angesichts berechtigter Kritik an der thematischen Kurzatmigkeit und den strukturellen Nachteilen solchen Forschens kommen die Vorzüge von Projektarbeiten freilich mitunter zu kurz. Es lohnt sich deshalb, auf gelungene Projekte wie dasjenige der Bochumer DFG-Forschergruppe „Transformation der Religion in der Moderne“ hinzuweisen, deren „Zwischenbilanz“ (S. 10) jetzt in Buchform erschienen ist. Seit seiner Gründung 2003 hat sich der Bochumer Verbund zusehends zu einem Treffpunkt entwickelt, in dem sich nicht nur Historiker, Soziologen, Religionswissenschaftler und Theologen aus dem Ruhrgebiet zusammenfinden, um interdisziplinär über den Wandel von Religion in der Bundesrepublik Deutschland nachzusinnen. Die Forschungsgruppe hat sich darüber hinaus auf nationaler und internationaler Ebene einen Ruf als renommierter Begegnungsort erarbeitet.

Im vorliegenden Sammelband unternimmt es der Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg – neben Frank Bösch, Lucian Hölscher, Traugott Jähnich, Volkhard Krech und dem verstorbenen Klaus Tenfelde einer der Initiatoren der Forschergruppe –, das Arbeitsprogramm und die Konzeption des Bochumer Projekts in einer ausführlichen Einleitung vorzustellen. Das übergreifende Ziel sei es, die „vorhandenen Ansätze bei der Beschreibung der Religionsgeschichte der Bundesrepublik zusammenzuführen“ (S. 21). Der Untersuchungszeitraum des Forschungsprojekts wie des Sammelbands konzentriert sich folglich auf die westdeutsche Entwicklung während der Jahre 1949 bis 1989, ohne dadurch einen dogmatischen Rahmen für die einzelnen Forschungsvorhaben festzuschreiben. Auf einen Vergleich mit der Deutschen Demokratischen Republik, der im Prinzip wünschenswert wäre, wurde verzichtet, da deren Geschichte an anderer Stelle erarbeitet wurde.1 Dagegen unterstreichen die Bochumer Forscher die Bedeutung des interkonfessionellen Vergleichs. Dieser wird, ebenso wie neuere diskurs- und mediengeschichtliche Ansätze, als wichtiger Teil einer multiperspektivischen Herangehensweise begriffen. Um trotz der Methodenvielfalt die Ergebnisse einzelner Forschungen miteinander verbinden zu können, wird eine sechsteilige Matrix zugrundegelegt, in der verschiedene historische Prozesse entlang von Mikro-, Meso- und Makroebenen sowie Semantik- und Sozialstrukturen gegliedert werden. Über sie wird schließlich der aus der Politikwissenschaft stammende Begriff der Transformation(en) gewölbt, der die „normativen Vorfestlegungen“ vermeiden soll, welche in anderen Prozessbegriffen wie Modernisierung oder Liberalisierung sichtbar werden (S. 24).

Aus diesem konzeptionellen Zuschnitt leiten die Bochumer Wissenschaftler letztlich drei Fragekomplexe ab, an denen sich auch der Sammelband orientiert, ohne dass dies im Inhaltsverzeichnis direkt ersichtlich wird. Erstens wird der Zusammenhang von „Religion und Sozialisation“ analysiert, indem nach der Identität verschiedener religiöser Akteure gefragt wird. Diesem in der deutschen Geschichtswissenschaft recht jungen Forschungsansatz widmen sich die ersten beiden Aufsätze. Dimitrij Owetschkin untersucht den Wandel von Pfarrerbild und -rolle nach dem Zweiten Weltkrieg, während Markus Hero unter Zuhilfenahme des Marktkonzepts nach dem Aufkommen neuer religiöser Dienstleister fragt. Beide Autoren belegen die enge Verflochtenheit religiöser Transformationen mit politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen; darüber hinaus verweisen sie auf die zentrale Funktion, die neue Kommunikations- und Dienstleistungsformen bei der Neudefinition religiöser Rollenverständnisse eingenommen haben.

Eine zweite Artikelgruppe widmet sich der Frage, welche Veränderungen die verschiedenen Sozialformen religiösen Handelns wie amtskirchliche Institutionen und freie Initiativen und Gruppen während des Untersuchungszeitraums durchliefen. Die beiden Aufsätze von Andreas Henkelmann / Katharina Kunter und Uwe Kaminsky / Andreas Henkelmann nehmen konfessionelle Sozialdienstleister wie Caritas und Diakonie in den Blick, deren eigenständige Stellung als kirchliche Sozialform Wilhelm Damberg in der Einleitung zu Recht hervorhebt. En détail arbeiten die Autoren heraus, wie sehr in vielen Fällen der gesellschaftliche Zwang zu beruflicher Professionalisierung ein Spannungsfeld zwischen fachlicher Qualifikation und Glaubensgrundsätzen aufbaute. Dies war zugleich verschränkt mit einem Wandel religiöser Vorstellungen, wie vor allem anhand des christlichen Ehebegriffs nachgewiesen wird. Eine vergleichbare Gemengelage legen Rosel Oehmen-Vieregge und Sebastian Tripp in ihren Untersuchungen zum Wandel freier religiöser Initiativen während der 1960er- und 1970er-Jahre offen. Sowohl in der Frauensynodenbewegung als auch in den „Dritte-Welt“-Gruppen sorgte die Partizipation an Netzwerken, die über die eigenen religiösen Sozialformen hinausreichten, jedoch nicht nur für Konflikte, sondern begründete zugleich eine neue Ebene interkonfessioneller Zusammenarbeit. Insgesamt verdeutlichen die genannten Beiträge, dass die Transformation religiöser Infrastruktur als eine „Pluralisierung und Fragilisierung des religiösen Feldes“ (S. 33) verstanden werden kann.

Den dritten Schwerpunkt der Bochumer Forschergruppe bildet schließlich das Verhältnis von Medien und Öffentlichkeit zu Religion und Kirche. Aus unterschiedlichen Perspektiven befassen sich zunächst Sven-Daniel Gettys und Thomas Mittmann mit dem Selbstverständnis der Kirchen. Gettys geht vor allem der Frage nach, wie in kirchlichen Texten die Beziehung von Kirche zu Öffentlichkeit dargestellt wird, und kann dabei deutliche Grenzverschiebungen nachweisen, deren Richtungen sich indes je nach Konfession stark voneinander unterschieden. Mittmann untersucht dagegen, wie sich veränderte Kirchenvorstellungen auf die Arbeit kirchlicher Akademien und von Kirchen- und Katholikentagen auswirkten; er attestiert dabei eine zunehmende „Eventisierung“. Nicolai Hannigs Untersuchung zur Rolle von Meinungsumfragen und Benjamin Städters Studie über die visuelle Berichterstattung zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) beschäftigen sich schließlich mit den Veränderungen des religiösen Feldes durch die Medialisierung der bundesdeutschen Gesellschaft. Die beiden Artikel unterstreichen insbesondere die immer einflussreicher werdende Rolle der Medien bei der Reproduktion religiöser Vorstellungen. Auch sie machen eine Verlagerung religiöser Diskursorte sichtbar.

Die Autorinnen und Autoren des Sammelbands geben neue und vertiefte Einblicke in den Wandel von Religion in der Bundesrepublik nach 1945. Weithin belegte und bekannte Einsichten wie der merkliche Rückgang der religiösen Praxis und die Verflechtung dieser Tendenz mit einem tiefgreifenden Wandel der gesellschaftlichen Strukturen werden dabei ausdifferenziert. Die unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen erlauben es letztlich, vielfältige und detaillierte Rückschlüsse zur Umcodierung religiöser Semantik und Verlagerung kirchlicher Infrastruktur zu ziehen. Kritisch zu diskutieren bleibt sicher die weitgehende Begrenzung des „Religiösen“ auf die christliche Religion. Zwar liefert insbesondere der Aufsatz von Markus Hero vorsichtige Einblicke in die Entstehung eines „alternativreligiösen Marktes“ während der 1970er- und 1980er-Jahre, doch lässt der Sammelband Überlegungen zur Entwicklung nicht-christlicher Religionen weitgehend außen vor. Dies ist umso bedauerlicher, als Forschungsansätze dazu in der Bochumer Gruppe durchaus vorliegen.

Überlegungen von Lucian Hölscher zum Säkularisierungsbegriff stehen am Ende des Sammelbands. Auf Grundlage der von Wilhelm Damberg eingangs formulierten Sicht, dass das Transformationskonzept „nicht als ein Ersatzbegriff für ein theoretisches Paradigma“ dienen könne (S. 24), plädiert Hölscher dafür, Säkularisierung als „epochalen Leitbegriff“ (S. 209) weiter zu gebrauchen. Dieser Terminus habe wie kein anderer eine „umfassende religiöse Integrations- und Interpretationskraft entfaltet“ (S. 204). Säkularisierung und Transformation von Religion werden folglich als zwei aufeinander bezogene Prozesse verstanden – ein Ansatz, der in der neuen Religionsgeschichtsschreibung auch andernorts Widerhall findet.2 Solche tiefgreifenden Gedanken geben dem Sammelband ebenso wie die fundierten Erkenntnisse eher den Charakter einer Abschlussdokumentation als eines „Zwischenberichts“. Doch auch wenn die im Anhang veröffentlichte Publikationsliste in den kommenden Jahren noch um das eine oder andere interessante Werk ergänzt wird, so gilt bereits jetzt: Das Bochumer Forschungsprojekt hat trotz seines zeitlich begrenzten Bestehens wesentlich dazu beigetragen, eingefahrene Wege der Religionsgeschichtsschreibung zu überwinden.

Anmerkungen:
1 Vgl. unter anderem das DFG-Projekt „Generationenwandel als religiöser und weltanschaulicher Wandel. Das Beispiel Ostdeutschlands“, das von 2002 bis 2006 an der Universität Leipzig angesiedelt war (<http://www.uni-leipzig.de/~kuwi/forsch_C_wandel_projekt.html> [23.10.2011]).
2 Vgl. u.a. den neuen Band des Archivs für Sozialgeschichte 51 (2011) zum Thema „Säkularisierung und Neuformierung des Religiösen. Gesellschaft und Religion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, siehe das Inhaltsverzeichnis unter <http://dietz-verlag.de/downloads/leseproben/4205.pdf> (23.10.2011).