C. Brütt: Workfare als Mindestsicherung

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Titel
Workfare als Mindestsicherung. Von der Sozialhilfe zu Hartz IV. Deutsche Sozialpolitik 1962 bis 2005


Autor(en)
Brütt, Christian
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Willing, Marburg

Die von der rot-grünen Bundesregierung 2003 postulierte "Agenda 2010" und die verabschiedeten Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt stellten einen Paradigmenwechsel in der bundesdeutschen Sozialpolitik dar. Durch das so genannte "Hartz-IV-Gesetz" wurden Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe "zusammengelegt", was de facto die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe als "mittlere" Sozialleistung zwischen Arbeitslosengeld und Mindestsicherung bedeutete. Gleichzeitig erfolgte die Eingliederung der Sozialhilfe in die Systematik des Sozialgesetzbuchs, die eine Umstrukturierung und Erweiterung des Adressatenkreises mit sich brachte. Auch wurde die Arbeitspflicht verschärft und die Maxime vom Fordern und Fördern zur neuen Leitlinie für die Empfänger der staatlichen Basistransferleistung erhoben. Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG), das seit seinem Inkrafttreten 1962 rund 40 Jahre das staatlich garantierte Existenzminimum geregelt hatte, gehörte damit der Vergangenheit an. Seither sind die Diskussionen um die Regelsatzhöhe und einzelne Bestimmungen von "Hartz IV" nicht abgerissen, zumal das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 die Berechnung der Regelsätze als verfassungswidrig bezeichnet und eine transparente Neubestimmung angemahnt hat. Die "Hartz-IV-Materie" gehört demnach zu den brandaktuellen "heißen Eisen" der Sozialpolitik.

Mit der skizzierten Problematik befasst sich die sozialwissenschaftliche Dissertation von Christian Brütt. Ziel der Studie ist es zu untersuchen, "inwieweit die sozialpolitisch geformten Handlungsoptionen der Einzelnen hinsichtlich der Notwendigkeit, der Möglichkeit, des Umfangs und der Art und Weise des Verkaufs der Arbeitskraft zwecks Existenzsicherung im Zeitraum vom Inkrafttreten des BSHG bis zu seiner Ablösung im Jahr 2005 durch das als 'Hartz IV' bekannte Zweite Buch des Sozialgesetzbuches (SBG II) neu geordnet worden sind" (S. 10). Einleitend geht Brütt speziell auf den ambivalenten Begriff "Workfare" ein, der aus den Vereinigten Staaten stammt und in der deutschen Fachliteratur unter anderem mit "Leistungsstaat" oder "Arbeitswohl" übersetzt wurde. Vereinfacht gesagt beinhaltet das Konzept, dass ein Fürsorgeempfänger nur dann staatliche Unterstützung erhält, wenn er seine Arbeitskraft einsetzt. Für den Autor bilden jedoch nicht die sozialpolitischen Maßnahmen der USA den Ausgangspunkt, sondern er möchte in Anlehnung an einen Idealtypus im Sinne von Max Weber "eine spezielle workfare-Logik" identifizieren (S. 13).

Die Untersuchung gliedert sich in vier Hauptabschnitte. Im ersten Abschnitt werden anhand soziologischer Untersuchungen die sozialstaats- und institutionentheoretischen Grundlagen erläutert, die sich insbesondere um das Begriffspaar "Kommodifizierung" und "Dekommodifizierung" ranken, das von Karl Polanyi, Claus Offe und seit Beginn der 1990er-Jahre von Gøsta Esping-Andersen entwickelt wurde. Es geht folglich um die Unterwerfung menschlicher Arbeitskraft unter die Marktmechanismen bzw. die Verringerung oder Vermeidung dieser Prozesse. Der zweite Hauptabschnitt untersucht den Wandel der Leitbilder vom Staat. Erläutert werden die drei anerkannten sozialpolitischen Modelle kapitalistischer Ökonomie, nämlich der "aktive", der "schlanke" und der "aktivierende" Staat. Den aktivierenden Staat bezeichnet Brütt dabei als "dritten Weg", der im Sinne eines "Sowohl-als-auch" Elemente der beiden erstgenannten Konzeptionen in sich vereinigt (S. 129ff.).

Das dritte Hauptkapitel wendet sich den Veränderungen im deutschen Sozialstaat zu, der "aufgrund der spezifischen lohnarbeitszentrierten Konfiguration des Kommodifizierungs-Dekommodifizierungs-Mixes in den Bereichen (non-)entry, stay und exit zugunsten der Normalbiographie des familienernährenden männlichen Industriearbeiters […] als 'strong male-breadwinner'-Modell (Ostner 1995), konservatives Wohlfahrtsstaatsregime (Esping-Andersen 1990; 1999) oder einfach nur als 'Sozialversicherungsstaat' (Olk/Riedmüller 1994) charakterisiert" werden könne (S. 153f.). Brütt skizziert in den darauf folgenden Partien die komplexen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse: die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, die verstärkte Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, die flankierenden familienpolitischen Initiativen, die Problematik der Kinderbetreuung sowie die rasche Zunahme von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. In kritischer Auseinandersetzung mit den "Mini-Jobs" konstatiert er, sie seien "eine Brücke ins Nichts" (S. 206).

Im vierten Hauptabschnitt, der mit "Workfare vom BSHG bis 'Hartz IV'" betitelt ist, wird der eigentliche Untersuchungsgegenstand in den Blick genommen. Dabei werden Regelungen und Änderungen in Einzelbereichen des Bundessozialhilfegesetzes seit Inkrafttreten 1962 rekapituliert, unter anderem der Rechtsanspruch auf Fürsorge, der Arbeitszwang, die "Hilfe zur Arbeit", die Entwicklung der Sozialhilfeempfängerzahlen, die Ausdifferenzierung des Adressatenkreises (Asylbewerber, Pflegebedürftige, Rentner) sowie die Einführung von Lohnsubventionen in Form von Kombilöhnen und Lohnkostenzuschüssen. Anschließend analysiert Brütt das unterste soziale Netz nach der "Hartz-IV-Reform", darunter die Eingliederungsvereinbarung mit dem Klienten, die staatlichen Sanktionsmaßnahmen, die Abkehr vom Individualisierungsprinzip durch Pauschalierungen und die "Ein-Euro-Jobs".

Als Fazit hält die Studie fest, dass die Hinwendung zur workfare-Politik, wie sie sich in der Sozialhilfereform der rot-grünen Bundesregierung 2003 manifestiert habe, "schleichend vonstatten" ging. Mit dem neuen Leitbild vom "aktivierenden Staat" sei ein "sozialpolitisches Staatsversagen" festzustellen, "das an der Schnittstelle zwischen dem System sozialer Sicherung und dem Arbeitsmarkt als Problem von Abhängigkeit formuliert wird" (S. 319f.).

Betrachtet man die Untersuchung von Brütt in ihrer Gesamtheit, so kann man nur wenig neue Resultate konstatieren. Dies liegt unter anderem daran, dass ausschließlich gedruckte Materialien wie das Bundesgesetzblatt und die Drucksachen des Deutschen Bundestages herangezogen werden, die hinlänglich bekannt sind. Zudem ist der Evolutionsprozess des Bundessozialhilfegesetzes bis in die 1990er-Jahre anhand von Archivalien durch die einschlägigen Beiträge zur "Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945" nachgezeichnet worden, die der Autor nur partiell herangezogen hat.1 Auch die wichtige Studie von Friederike Föcking zur Entstehung des BSHG vermisst man im Literaturverzeichnis.2 Weitere Hilfsmittel zur Erschließung des Werkes, etwa ein Verzeichnis der wesentlichen Gesetzesänderungen oder eine Übersicht über die vom Autor angefertigten zwölf Tabellen, sind nicht vorhanden.

Da nur Teilbereiche der Transformation des gesellschaftlichen "Souterrains" behandelt werden, ist ein tieferes Verständnis der sozialpolitischen Zusammenhänge kaum möglich, auch bleiben die Akteure und Motive des Paradigmenwechsels blass.3 Die Untersuchungsergebnisse zur sozialstaatlichen Grundsatzreform seit 2003 kommen meist über Altbekanntes nicht hinaus, zumal an kritischen Kommentaren zur "Grundsicherung für Arbeitssuchende" (SGB II) kein Mangel herrscht. Dass der festgestellte "schleichende Wandel" des Systems im workfare-Sinne zeitlich nicht erfasst werden kann, ergibt sich sui generis, obwohl Brütt in dieser Frage einerseits das "Ende des ersten Drittels der 1990er Jahre" (S. 14), andererseits das zweite Drittel dieser Dekade (S. 9) zu favorisieren scheint. Wodurch der Wandel ausgelöst wurde, bleibt offen, etwaige Kohärenzen zur deutschen Einheit werden nicht verfolgt.

Positiv ist zu vermerken, dass Brütt die komplizierte Materie der untersten Sicherungssysteme der Bundesrepublik gut durchdrungen hat. Insbesondere die enge Verzahnung von arbeitsmarktpolitischen und sozialhilferechtlichen Maßnahmen wird verdeutlicht, sodass es phasenweise gelingt, Elemente der so genannten workfare-Logik herauszuarbeiten. Wer tiefer in die Problematik staatlicher Mindestversorgung eindringen möchte, wird in der Darstellung einige Ansatzpunkte finden. Allerdings beeinträchtigen nicht wenige Redundanzen und eingefügte Textbausteine die Qualität des Werkes. Beispielsweise findet der "kritisch angehauchte" Ausblick des Autors, die "prognostische Fehlleistung des SGB II könnte darin bestehen, dass es eine dauerhafte, der Menschenwürde entsprechende soziale Absicherung außerhalb des Arbeitsmarkts nicht als Kernproblem betrachtet", leicht modifiziert gleich doppelte Verwendung (S. 302, 327).

Anmerkungen:
1 Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. 11 Bde., Baden-Baden 2001-2008. Unberücksichtigte Sozialhilfebeiträge zum behandelten Zeitraum enthalten die Bde. 5, 6, 7 und 11.
2 Friederike Föcking, Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961, München 2007.
3 Vgl. Anke Hassel / Christof Schiller, Der Fall Hartz IV: Wie es zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht, Frankfurt am Main 2010.

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