Titel
Antisemitismus in Stuttgart 1871-1933:. Studien zum öffentlichen Diskurs und Alltag


Autor(en)
Ulmer, Martin
Erschienen
Stuttgart 2011: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
478 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Christel Köhle-Hezinger, Bereich Volkskunde/Kulturgeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Stuttgart ist nicht erst seit „Stuttgart 21" zur erstaunlichen Metapher geworden. In der Regional- und Ortsgeschichte stand und steht die einstige schwäbische Residenz- und heutige Landeshauptstadt bis in die Gegenwart gerne für „Gemütlich-Behäbig-Bürgerlich", für moderate, kulturell-solide Töne. Solche Bilder des Eigenen als einer fest grundierten Idylle wurden auch der braunen Vergangenheit zugeordnet. In Württemberg, so die dominante Erzählung, waren Revolution und Aufruhr stets ordentlicher, weniger wild, aggressiv und rau als anderswo. Die Studie des Tübinger Kulturwissenschaftlers Martin Ulmer zum Antisemitismus 1871-1933 vermag diese Bilder gründlich und fundiert zu widerlegen – ob auch zu erschüttern im Sinne der von ihm konstatierten "Mythenbildung" in der Landesgeschichte (S. 431) vermag erst die Rezeption der Studie zeigen.

Radau, Massenkrawalle und Gewalttätigkeiten im scheinbar bürgerlich-friedlichen Stuttgart sind die leicht erkennbaren Antisemitismus-Marken auf jenem Weg vom Kaiserreich in den NS-Staat, den Ulmer in seiner Dissertation nachzeichnet. Schwieriger aufzufinden, zu dechiffrieren und zu belegen als diese äußeren Reliefbildungen sind die inneren Strukturen des Völkischen und Nationalen, ihre Dynamik und Radikalisierung, kurz das, was Ulmer als „codierten Antisemitismus" definiert. Die Studie greift auf einen umfangreichen Fundus an archivalischen und gedruckten Quellen zurück. Sie umfassen Tageszeitungen, Pamphlete, Autobiografien, Flugblätter, Landtagsprotokolle, Kirchen-, Hetz- und Kampfschriften. Ebenso groß ist die Bandbreite der erschlossenen Archivalien in Polizei-, Gerichts- und Vereinsakten aus Archiven in Stuttgart, Ludwigsburg, Bremen, Hamburg, Berlin, New York und Jerusalem.

Den Auftakt der Studie bildet eine Schlägerei im Jahr 1873 in der Innenstadt, unweit vom Rathaus: In einem jüdischen Geschäft hatte ein kaufwilliger Soldat einen Verkäufer geohrfeigt, die Inhaberin rief die Polizei. Es kommt zum Handgemenge, der Soldat wird verletzt, die Lage eskaliert. Menschen vor dem Laden ergreifen Partei – gegen die Juden und gegen die Polizei, die der Frau geholfen hatte. Ein Gerücht, wonach der Soldat tödlich misshandelt worden sei, verbreitet, er sei von einem Juden getötet worden. Es kommt zu Krawall und Zerstörung, nach drei Nächten erst kehrt Ruhe ein. Der Gemeinderat setzt zur Verhinderung weiterer Ausschreitungen Feuerwehr, Stadtreiter und Schützengilde ein, die Justiz arbeitet in „fieberhaftem Tempo" (S. 67) an der Strafsühne, um dem Volk ein abschreckendes Zeichen zu setzen. Exempel dieser Art, dicht beschrieben und interpretiert, durchziehen das Buch: die Umbenennung der Judengasse 1883, der Warenhausdiskurs, Gewalt und Zerstörung jüdischen Eigentums, Angriffe auf die Synagoge und schließlich, als dramatische Zuspitzung 1930, der von Nationalsozialisten inszenierte Skandal um die Theateraufführung „Schatten über Harlem" – ein Stück, das aufgrund antijüdischer Hetze nach einer Woche vom Spielplan genommen wurde. Das Bürgertum kann „durch den populären Radau endlich die distinguierte Zurückhaltung aufgeben und gegen die jüdisch-kulturbolschewistischen Tendenzen rebellieren": der Radau infiziert, die Nazis sind „zu gesellschaftsfähigen Partnern des Bürgertums geworden." (S. 443)

Im Kaiserreich werden neben dem Massenkrawall die christliche Judenfeindschaft, der Antisemitismus in Parteien und Parlamenten untersucht, die öffentlichen Pressediskurse bei der Antisemitenpetition 1880 und der antisemitischen Welle in den frühen 1890er-Jahren, der alltägliche Antisemitismus sowie die Entwicklung der völkisch-nationalen Szene (antisemitische Parteien, Alldeutscher Verband, Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband und Mittelstandsbund) in ihren Codemustern. Ein eigenes Kapitel ist dem Ersten Weltkrieg gewidmet, der Analyse des Kriegswucherdiskurses im Landesparlament und der antijüdisch gefärbten Kriegspropaganda. Die „Judenzählung" 1916 hingegen spielte laut Ulmer in Württemberg im öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle.

Mithilfe der historischen Diskursanalyse trennt Ulmer zwei Ebenen. Die erste Ebene des „öffentlichen Diskurses" sieht er geprägt von drei zentralen Wirkmustern: zum einen der ambivalenten Konstruktion einer angeblich berechtigten „Judenfrage", ohne bekennenden Radikalantisemitismus; zum zweiten vom „codierten Antisemitismus", welcher eine Popularisierung und Habitualisierung der Judenfeindschaft fördert; und schließlich die anschlussfähigen Diskursfelder Deutschnationalismus, Rassismus, Antikapitalismus, antimoderne Kulturkritik und Antisozialismus. Parallel dazu wirkte ein „virulenter Alltagsantisemitismus mit Diskriminierung bis hin zur Gewaltanwendung“. Das Gerücht genügte, um „Gewalt zu dynamisieren“. (S. 417) Der Massenkrawall von 1873, die Synagogenbeschädigungen von 1882 und 1908 sind dafür die kriminellen Belege, Beleidigungen und Diskriminierungen die alltäglichen Beispiele.

Nach dem Ersten Weltkrieg wird die antisemitische Agitation im öffentlichen Raum ein Massenphänomen. Die Formen und Inhalte der Judenfeindschaft werden nun radikalisiert. Sie tragen „zusehends paranoide Züge", die militanten Akteure haben ihre Förderer in der nationalen Presse und bei den Staatsorganen. Die zunehmende Normalität von Antisemitismus im öffentlichen Diskurs, bis 1927 relativ stabil, nimmt 1929 nach den Umbrüchen in der politischen Kultur erneut an Schärfe zu. Ulmers Darstellungen zur Weimarer Republik sind breit angelegt, sie beleuchten die antisemitische Welle in der Frühphase der Republik, die Rolle des Antisemitismus in Reichs- und Landtagswahlen bis 1930, die Codesprache, antisemitische Milieus in Stuttgart, antijüdische Skandalisierungen der Barmat- und Sklarek-Affäre, den Kampf gegen die Fürstenenteignung, den wachsenden Alltagsantisemitismus und schließlich den Aufstieg des Nationalsozialismus. Hier kann Ulmer überzeugend nachweisen, dass der Antisemitismus in den Wahlkämpfen der NSDAP in den Jahren 1930-1932 eine wichtige Mobilisierungsfunktion hatte.

Seit 1920 duldeten Staatsregierung, Justiz und Polizei die antisemitische Agitation. Eine öffentliche Solidarisierung mit diffamierten Juden ist kaum auszumachen. Nur die SPD war bis 1933 „das einzig intakte Bollwerk". (S. 420f.) Konfessionelle und politische Kultur waren als Faktoren des Antisemitismus entscheidend, wie der Städtevergleich mit Köln, Düsseldorf und Nürnberg zeigt: das protestantisch-nationale Milieu „bestimmte in hohem Maße den Umgang mit Antisemitismus". (S. 426) Dessen Universalisierung jedoch gelang, neben der offenen Agitation, auch durch Codemuster und Codesprache, mit Signalwörtern wie „internationales Finanzkapital“, „Neudeutschland“, „Zersetzung“, „deutsche Art“. Dieser codierte Antisemitismus bewegte sich, so Ulmer in einem anschaulichen Bild, „wie Fische im Wasser […][, sie] können die Umschaltfunktionen [...] zur offenen Sprache und retour flexibel nutzen." (S. 429)

Zusammenfassend lassen sich die methodischen Stärken und qualitativen Ergebnisse der Studie in vier Punkten bündeln.
1. Längsschnittanalysen sind in der Antisemitismusforschung eher selten. Die diachrone Studie aber erlaubt Vergleiche über zwei Epochen und Systeme hinweg, und sie vermag auch Kontinuitäten und Radikalisierungen in ihrer Dynamik zu erkennen.

2. Der theoretisch-methodische Ansatz ist interdisziplinär und verbindet in einem regionalen Forschungsfeld Makro- und Mikrotheorien zu einem integralen Ganzen. Ulmer verknüpft Ansätze der Kritischen Theorie, der Stereotypenforschung, der Alltagskulturforschung und das Konzept der politischen Kultur mit Shulamit Volkovs Thesen zum Antisemitismus als kulturellem Code. In Ulmers Untersuchung werden diese Ansätze mit den heuristischen Konzepten der Codemuster (am Beispiel des Warenhausdiskurses), der Codesprache in der Weimarer Republik und dem Koexistenzmodell von Antisemitismus erweitert, modifiziert und exemplarisch verdichtet. Mit der historischen Medien- und Diskursanalyse verfolgt Ulmer sprachliche Bilder auf der Vermittlungsebene in ihrem Entstehen und Wirken. Historische Semantik ist über den Zugang zur Codesprache ein Schlüssel zum Verstehen von dynamischen Prozessen und komplexen Wechselwirkungen: zwischen Zeitungsberichten, Plakaten, Flugblättern, politischen Kulturen und Milieus.

3. Durch das interdisziplinäre Vorgehen wird bei der Ursachenanalyse des Antisemitismus in Stuttgart eine verengte Monokausalität überwunden. So kann Ulmers Studie für die Landeshauptstadt die sozioökonomische Krisentheorie widerlegen. Die Ursachen sind mehrdimensional gedeutet. "Multiple Ursachen" sieht Ulmer in antijüdischen Traditionen, im sich formierenden Deutschnationalismus nach der Reichsgründung 1871, in dessen Vorstellung Juden keine Deutschen seien; in antimodernen und antikapitalistischen Ressentiments und Projektionen gegen aufsteigende und erfolgreiche Juden. Diese Bedingungen greifen ineinander. Vor allem die christliche Judenfeindschaft als konfessioneller Faktor von Antisemitismus und die deutschnationale Deutungskultur grundieren das dominante nationalprotestantische Milieu in Stuttgart. Hinzu kommen jeweils aktuelle politische und soziale Faktoren in der politischen Kultur. Aufgrund der Formierung und Mobilisierung der starken völkisch-nationalen Szene entsteht spätestens in der Weimarer Republik eine Daueragitation mit offenem und codiertem Antisemitismus, die zur Sagbarkeit von Antisemitismus, seiner Popularisierung, Universalisierung und Ausbreitung im öffentlichen Diskurs und Alltag führt. Schließlich ist es für die Ausbreitung des Antisemitismus auch entscheidend, ob Behörden, Justiz und demokratische Parteien den Antisemitismus ächten und bekämpfen oder diesen hinnehmen und tolerieren, was in Stuttgart seit Anfang der 1920er-Jahre der Fall war. Ulmer erklärt dieses Phänomen unter anderem mit der Koexistenz und Abhängigkeit in der überschaubaren politischen Kultur.

4. Die Reichweite und Ergebnisse der Studie sind in sprachlicher Klarheit präzisiert und gebündelt: innerhalb der einzelnen Kapitel, zu Beginn und am Ende, aber auch in einem „Resümee" (S. 415-440), das in seiner Verdichtung diesen Titel wahrhaft verdient, indem es vernetzt und vergleicht, Fragen stellt und Desiderate benennt; das zu 80 Prozent protestantische Stuttgart mit den katholischen Großstädten Köln und Düsseldorf sowie dem protestantischen Nürnberg vergleicht. Ulmer setzt die empirischen Befunde zu dem eigenen kulturtheoretischen Ansatz in Bezug, er diskutiert die Grenzen und Möglichkeiten der Kritischen Theorie und des Antisemitismus als einem kulturellen Code.

Das Inhaltsverzeichnis ist sorgfältig gestaltet, detailliert und lang. Es ist ein hilfreiches Instrument, weil es das heutigen Arbeiten meist fehlende Sachregister weithin ersetzen kann. Hingegen ist ein Namensregister am Ende (S. 471-477) vorhanden. Dies ist unverzichtbar in einem Werk, dem neben der Vorbildfunktion im Methodischen auch ein Handbuchcharakter zukommt. Denn der eindrucksvollen Forschungsarbeit von Ulmer sind solche praktischen Nutzanwendungen, aber auch viele Vergleichs- und Folgestudien sehr zu wünschen.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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