K.-P. Horn u.a. (Hrsg.): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus

Titel
Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit


Herausgeber
Horn, Klaus-Peter; Link, Jörg-W.
Erschienen
Bad Heilbrunn 2011: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 21,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Hanna Schmidt Holländer, Fachbereich Geschichte, Universität Hamburg

Mit diesem Sammelband wird ein neuer Forschungsüberblick zum Erziehungswesen im Nationalsozialismus vorgelegt. Er hat, wie auch von den Herausgebern in der Einleitung ausgewiesen, darstellenden Charakter. Die Beiträge beschäftigen sich mit den einzelnen Einrichtungen des NS-Erziehungssystems und folgen dem Lebenslauf eines „erbgesunden arischen Deutschen“ (S. 9). Gleich in der Einleitung wird neben dieser Gliederung auch die inhaltliche Strukturierung der Aufsätze erläutert: Es sollen die aufgestellten Erziehungsnormen mit den Praktiken der jeweiligen Institutionen abgeglichen und in ihren Wirkungen auf die Zöglinge eingeschätzt werden. Mit diesem Vorgehen zeige sich, so argumentiert die Mehrzahl der Beiträge, dass für die Erziehungsverhältnisse die Konkurrenz der Ressorts oft kennzeichnender gewesen sei als die Ideologie Hitlers. Darüber hinaus stehen die einzelnen Darstellungen in keinem expliziten methodischen oder theoretischen Zusammenhang.

Exemplarisch werden hier einige Beiträge besprochen und in ihrer Beziehung zueinander dargestellt: Eröffnet wird der Band mit einem Überblick über die bildungshistorische Forschung zum Nationalsozialismus von Jeanette Bair. Anhand einer Auswertung zweier Rezensionsdatenbanken referiert sie die Forschungstendenzen zur NS-Pädagogik seit den 1990er-Jahren und weist auf einige Desiderate hin, die sie besonders in der Medienanalyse, der Untersuchung von pädagogischen Strömungen, die im „Dritten Reich“ ihre Bedeutung verloren, und epochenübergreifenden Studien zu Kontinuitäten und Brüchen mit der Weimarer Republik und den beiden deutschen Nachfolgestaaten sieht.

Klaus-Peter Horn schließt mit einer Untersuchung zum staatlich institutionalisierten Zugriff auf die Erziehung in der frühen Kindheit an. Einflussnahmen sieht er hier vor allem durch die stark verbreiteten Ratgeber zur Säuglingspflege gegeben, die der NS-Ideologie folgten. Allerdings habe sich deren Inhalt seit dem Kaiserreich bis in die 1960er-Jahre nicht wesentlich geändert, weshalb hier eher von Kontinuitäten als von Neuheiten der NS-Pädagogik zu sprechen sei.

Die Volksschule als quantitativ wohl umfassendste Institution untersucht Jörg-W. Link. Er beschreibt die Übernahme reformpädagogischer Ansätze in die NS-Schulpädagogik unter neuen inhaltlichen Vorzeichen. Link warnt davor, die NS-Pädagogik pauschal als niveaulos zu bezeichnen und stellt gleichzeitig ihre Wirkung auf die Schüler in Frage: Die Effekte der Volksschulbildung seien „trotz der Vereinheitlichungstendenzen vermutlich nicht größer oder geringer als die Effekte von Schulen in nicht totalitären Gesellschaften.“ Es seien „die Eigenlogiken schulischen Lernens, die Eigengesetzlichkeiten traditioneller schulischer Qualifizierungs- und Entwicklungsprozesse, die diese Ideologisierungsversuche durchbrechen.“ (S. 104) Diese aus pädagogischer wie geschichtswissenschaftlicher Sicht starke These wird erst im Fazit aufgeworfen. Link verweist darauf, dass es nahezu unmöglich sein dürfte, sie zu beantworten, und bleibt damit einen Beweis schuldig.

Die Frage nach Kontinuität und Wandel stellen auch Heidemarie Kemnitz und Frank Tosch hinsichtlich der höheren Schulen, die sie im Zentrum der Umgestaltungen nationalsozialistischer Schulpolitik sehen. Sie übernehmen eine These Bernd Zymeks, der in der Entwicklung der höheren Schule im Nationalsozialismus ein Muster von Fortschreibung schulstruktureller Entwicklungstrends, pragmatischer Bestandsaufnahme und begrifflicher Neufassung sah.1 Besonders informativ ist die Darstellung der Auswirkungen struktureller Veränderungen auf die Fächerwahl und Hochschulzulassungen für Jungen und Mädchen. Die weibliche Erziehung wird in ihren Widersprüchen und Anpassungen an das politische Klima und die Kriegsrealität dargestellt. Außerdem werden die didaktischen Anstrengungen des geschlechtsspezifischen Unterrichts genauer beleuchtet. Kemnitz und Tosch betonen (besonders für den Fachunterricht) die pädagogischen Kontinuitäten seit der Weimarer Republik bis in die deutschen Nachfolgestaaten, die gegenüber politischen Eingriffen und Systemwechseln relativ resistent gewesen seien.

Ein sonst wenig beachtetes Thema greift Manfred Wahle mit seinem Aufsatz zur Berufsbildung auf. Darin diskutiert er, inwieweit nationalsozialistische Gesinnungsschulung und moderne Ausbildungspraxis miteinander kollidierten. Die berufliche Bildung habe schon in den 1920er Jahren einer organisatorischen Regulierung und Vereinheitlichung bedurft, die von den Nationalsozialisten schließlich durchgesetzt und um die politische Erziehung zum Mitglied in der „Werk- und Volksgemeinschaft“ ergänzt wurde. Im Sinne der NS-Ideologie wurde die Aufsicht über die Berufsausbildung nun streng hierarchisch mit dem Reichswirtschaftsministerium und dem Reichserziehungsministerium an der Spitze organisiert. Dies führte ab den späten 1930er-Jahren zu einer „Auslieferung an staatliche und politische Forderungen des NS-Regimes“ (S. 243) und damit zu einer immer stärkeren Ausrichtung auf wehrwirtschaftliche und kriegspolitische Ziele. Wahle sieht die Veränderung der Ausbildungspraxis als eine Form der Modernisierung, die mit der von ihm als „antimodern“ bezeichneten Gesinnungsschulung im Widerspruch gestanden habe. Es drängt sich hier die Frage auf, ob der Widerspruch nicht erst durch die Qualifizierung der NS-Ideologie als „antimodern“ entsteht und von den Zeitgenossen nicht als solcher wahrgenommen wurde.

Zwei Probleme, die zum Teil der Konzeption als Sammelband geschuldet sind, ergeben sich durch die thematische Orientierung am NS-normierten Lebenslauf. Erstens können übergreifende Linien und Entwicklungen in institutioneller wie individueller Hinsicht nicht verfolgt werden, zweitens kann Erziehungswirklichkeit jenseits der vorgegebenen Struktur des NS-Ideals kaum abgebildet werden. Ein gemeinsames Resümee wird nicht gezogen. Es tauchen aber wiederholt verbindende Fragestellungen auf, zum Beispiel inwieweit es sinnvoll sei, die NS-Pädagogik als „Un-Pädagogik“ zu bezeichnen, als „modern“ oder „anti-modern“, des weiteren ihre Beziehungen zur Reformpädagogik auf methodisch-didaktischer und inhaltlicher Ebene sowie die Frage, wie die Auswirkungen der als „total“ konzipierten Pädagogik auf Schüler/innen und Gesellschaft einzuschätzen seien. Auch die in der Einleitung angekündigte Auseinandersetzung mit Kontinuitäten und Brüchen und die Darstellung der NS-Pädagogik im Kompetenzgerangel der verschiedenen Institutionen und Individuen wird durchgehend eingelöst. Positiv hervorzuheben ist ebenfalls, dass die Herausgeber und Autoren und Autorinnen sich auch an weniger bearbeitete Themen gewagt haben und somit einen sehr guten Überblick über die Vielfalt der Akteure und Interessen im NS-Staat liefern. Der Sammelband ist gut lektoriert, in einem Anhang finden sich zudem eine umfassende Bibliographie und ein Autorenverzeichnis. Als übersichtlicher, klar strukturierter und detailreicher Überblick über die institutionelle Erziehung im Nationalsozialismus ist der vorliegende Band zu empfehlen.

Anmerkung:
1 Bernd Zymek, Schulen, in: Dieter Langewiesche / Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 5: 1918-1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur. München 1989, S. 155-208.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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