S. Friedländer: Pius XII. und das Dritte Reich

Titel
Pius XII. und das Dritte Reich. Eine Dokumentation. Mit einem aktuellen Nachwort


Autor(en)
Friedländer, Saul
Erschienen
München 2011: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Kühlwein, Bildungswerk der Erzdiözese Freiburg im Breisgau

Im Frühjahr dieses Jahres brachte der Beck-Verlag in München die betagte Dokumentation des Historikers Saul Friedländer: „Pius XII. und das Dritte Reich“ neu heraus. Die Originaledition erschien 1964 (deutsch: 1965). Der Autor schrieb allerdings für die Neuausgabe ein längeres Nachwort unter der Überschrift: „Pius XII. und der Holocaust“. Im Vorwort bemerkt Friedländer, dass man darin „eine Neubewertung des alten Materials im Lichte neuer Daten (Forschungsarbeiten und Dokumente)“ finde. Das macht neugierig. Was hat der renommierte Holocaust-Forscher, der mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, aktuell zur nicht enden wollenden Debatte über Pius XII. zu sagen1, der an der Schwelle zur Seligsprechung steht?

Vorweg eine Bemerkung zur Neuauflage des Buches. In den neun Kapiteln, die chronologisch die Zeit vom Beginn des Pontifikats Pius XII. (März 1939) bis zur Deportation der ungarischen Juden 1944 behandelt, sind die Dokumente und die Kommentierungen Friedländers auf dem Stand von 1964 unverändert übernommen worden. Der Autor verteidigt dieses Vorgehen, da „im wesentlichen Dokumente präsentiert [würden], die auch heute noch wichtig sind“ (Vorwort). Das ist korrekt. Man muss Friedländer hohen Respekt zollen für die immense Archivsichtung, die er Anfang der 1960er-Jahre durchgeführt hat, und für seine klugen Kommentare zu einzelnen Dokumenten.

Doch heute ist die Quellenlage zu Pius XII. (bürgerlich: Eugenio Pacelli) wesentlich breiter und reflektierter als vor knapp fünfzig Jahren. Das gilt nicht nur für die elfbändige vatikanische Dokumentensammlung zur Kriegszeit (Actes et Documents du Saint Siège relatifs à la Seconde Guerre Mondiale / ADSS), sondern auch für andere Quellen, wie die Akten der Nuntiatur Pacelli (1917-1929) und das mittlerweile frei gegebene Archiv des Pontifikats Pius XI. (1922-1939), einschließlich entsprechender Dokumente aus dem Archiv der Glaubenskongregation. Nicht zu vergessen sind Zeugenaussagen und Rekonstruktionen aus staatsanwaltlichen und gerichtlichen NS-Verfahren. Doch insgesamt leidet die Quellenlage zu Pius XII. immer noch daran, dass die Akten seines Pontifikats ab 1939 im päpstlichen Geheimarchiv verschlossen sind. Nach Informationen aus dem Vatikan ist eine Öffnung der Archive erst ab 2015/16 zu erwarten.

Friedländer misstraut der vatikanischen Kriegsdokumenten-Sammlung (ADSS), die vier jesuitische Kirchenhistoriker im Auftrag des Papstes herausgegeben haben. Sie sei „so selektiv angelegt, dass sie unter keinen Umständen als eine hinreichende Grundlage für die historische Forschung gelten“ (S. 207f.) könne. Für die Begründungen im aktuellen Nachwort spart der Autor daher ausdrücklich die ADSS-Edition aus und bezieht sich nur auf öffentlich zugängliche Dokumente. Im Kern ist die Skepsis von Friedländer gegenüber ADSS gerechtfertigt. Die Auswahl der Schriftstücke ist naturgemäß eng gehalten und inhaltlich folgen sie der Linie der Pius-Verteidigung durch die Vatikanhistoriker. Das trifft jedoch nicht auf alle Dokumente zu. Bei genauer Sichtung stößt man auch auf brisantes Material. Sie lassen Pius XII. und sein Staatssekretariat in keinem guten Licht erscheinen. Friedländer hätte hier fündig werden können.

In seinem langen Nachwort geht der Autor der Frage nach, welche Erklärungen es gibt für die ausgesprochen politische Passivität Pius XII. gegenüber NS-Deutschland und dem Holocaust. Im Wesentlichen sieht Friedländer dafür drei Gründe. Erstens: Pius verteidigte nur die Interessen der Kirche und blieb daher strikt neutral. Zweitens: Pius wollte die Ausbreitung des Kommunismus in Ost- und Mitteleuropa verhindern und drittens: Pius war antisemitisch eingestellt. Alle drei Gründe sind nicht neu – man denke nur an Rolf Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ (1963) –, aber sie sind nach wie vor hoch brisant. Das gilt ganz besonders für den Vorwurf des Antisemitismus.

In der Erstausgabe seines Buches von 1964 hat der Autor die beiden Gründe: vatikanische Interessenpolitik und Kommunismusabwehr schon ausgiebig analysiert und zu belegen versucht. Das ist ihm mit der damaligen Quellenlage gut gelungen. Auf die Antisemitismusfrage ging Friedländer dagegen nur marginal und sehr vorsichtig ein. Ihm lag allein ein umstrittenes Dokument aus zweiter Hand vor. Es stammte vom Vichy-Vertreter beim Hl. Stuhl Léon Bérard, der im Herbst 1941 einen längeren Bericht verfasst hatte zur Frage Marschall Pétains, wie der Vatikan zu den Rassengesetzen stehe.

Im aktuellen Nachwort von 2011 verändert Friedländer seine Schwerpunktsetzung. Jetzt legt er den Fokus auf den Antisemitismusvorwurf und thematisiert ihn seitenlang. Grundsätzlich beruft sich der Autor auf die lange kirchliche Tradition des „defensiven Antisemitismus“, der gegen den verderblichen jüdischen Einfluss auf die christliche Gesellschaft ankämpfte. Der konservative Eugenio Pacelli habe bruchlos in dieser Tradition gestanden. Als Belege führt Friedländer an: den von Nuntius Pacelli unterschriebenen Bericht über jüdische Revolutionäre in München (April 1919), in dem abwertende Äußerungen über „Juden“ stehen; die regelmäßigen Identifizierungen von Gesprächspartnern als „Juden“ in Nuntiaturberichten (so etwa über Außenminister Rathenau, der gute Gedanken hege, „obwohl er Jude ist“)2; die Bemerkung Kardinal Pacellis in einem Buchvorwort (1933) über einen jüdischen Ritualmord an einen Knaben im 13. Jahrhundert; die Klage Pius XII. während der Weihnachtsansprache 1942 vor Kardinälen, dass sich das verstockte Jerusalem zum Gottesmord an Jesus habe hinreißen lassen, und schließlich die Weisung des Papstes nach dem Krieg, elternlos gewordene jüdische Kinder dann nicht an jüdische Organisationen zu übergeben, wenn sie heimlich getauft worden seien.

Was Friedländer hier vorträgt, wiegt schwer. Dabei hat er noch wichtige Funde übersehen. Sie stammen aus der jesuitisch geführten vatikanischen Hauszeitschrift „Civiltà Cattolica“, die bis 1938 immer wieder antisemitische Artikel veröffentlicht hat. „Civiltà Cattolica“ wurde von Kardinalstaatssekretär Pacelli ab 1930 redaktionell eng geführt. Was dort gedruckt wurde, bedurfte seiner Zustimmung – nach genauer Lektüre versteht sich. Geradezu gespenstisch mutet etwa ein Beitrag in der Herbstausgabe 1938 an, der die Rassengesetze in Italien kommentierte. In ihm werden die Juden als „fremde Nation“ unter den Nationen bezeichnet.3 Weiter heißt es: Die Juden wären ein „geschworener Feind“ hinsichtlich des Wohlergehens des christlichen Volkes und gegen das jüdische Volk seien strenge Maßnahmen erforderlich, um es „unschädlich zu machen“. Die Moral des jüdischen Talmud widerspreche „den elementarsten Prinzipien der natürlichen Ethik“ [man beachte: natürliche Ethik; KK]. Und in einem Grundsatzartikel („Die jüdische Frage und die Civiltà Cattolica“) warnte Pater Rosa SJ vor den subversiven Umtrieben der Juden, welche die Grundlagen von Gesellschaft und Kirche untergraben würden.4 In den letzten Jahrzehnten habe sich schon auf vielen Gebieten schmerzvoll gezeigt, wie unheilvoll der verschwörerische Pakt zwischen Juden und Freimaurern im Untergrund wühle und die kulturellen Werte des christlichen Abendlandes zerstöre. Was ist bloß in Kardinalstaatssekretär Pacelli gefahren, dass er solche Äußerungen als halboffizielle Stellungnahme des Vatikans absegnete? Für die üblen Ausfälle gegen Juden und das Judentum in den zahlreichen Artikeln der Civiltà Cattolica entschuldigte sich übrigens der leitende Redakteur De Rosa SJ öffentlich im Rahmen der Feierlichkeiten zum hundertfünfzigjährigen Bestehen der Zeitschrift im Jahre 2000.

Friedländers These, dass Pius XII. teil hatte „an einer religiösen und säkularen Kultur des Antisemitismus“ (S. 216), kann nicht widersprochen werden – allen offiziellen Beteuerungen zum Trotz, die feinsinnig zwischen religiösem Antijudaismus und Rassen-Antisemitismus unterscheiden. Dass in der katholischen Kirche auf allen Ebenen bis in die 1960er-Jahre ein religiöser Antijudaismus virulent war, ist mittlerweile in Rom schamhaft eingestanden worden. Doch die Existenz eines christlichen Antisemitismus wird dagegen vehement bestritten. Kein Geringerer als Kardinal Ratzinger im Amt des Präfekten der Glaubenskongregation gestand immerhin einmal zu, dass der christliche Antijudaismus historisch wie Humus wirkte auf das Erblühen des modernen Antisemitismus bis hin zum Massenmord der Nazis.5

Friedländer stellt sein Nachwort unter den Leitgedanken: „Pius XII. und der Holocaust. Eine Neubewertung“. Er hält es für ausreichend begründet, dass der Antisemitismus Pius XII. zusammen mit den beiden anderen Strategiehaltungen plausibel dessen Schweigen gegenüber dem Holocaust und die gesamte politische Passivität erkläre. Das ist ein bedeutsamer Vorwurf. Nota bene: Wenn nur irgendetwas dran ist an dieser Behauptung, bedeutet das einen schweren Schlag für die Pläne zur Seligsprechung Pius XII. und für den Vatikan schlechthin. Man muss Friedländer zubilligen, dass der Schluss nahe liegt. Denn nach der Quellenlage hat Pius unstreitig Interessen geleitete Neutralitätspolitik gemacht, im Kommunismus das langfristigere Problem gesehen als im Nationalsozialismus und einen religiösen Antijudaismus vertreten, der sich kaum vom durchschnittlichen Antisemitismus seiner Zeit unterschied. Die Frage aller Fragen ist aber, ob das die entscheidenden Motive waren für sein Schweigen? Friedländer kann für die Verbindung keine Belege anführen, er kann nur vermuten.

Eine andere Spur könnte hier weiterführen. Der Autor deutet sie am Schluss seiner Ausführungen als Frage an, die er allerdings sofort abschlägig beurteilt: „Was wir nicht wissen und auf keine Weise in Erfahrung bringen können, ist, ob für Pius XII. das Schicksal der Juden Europas eine schwerwiegende Krisensituation und ein quälendes Dilemma darstellte oder ob es für ihn nur ein Randproblem war, welches das christliche Gewissen nicht herausforderte.“ (S. 226) Wichtige Selbstzeugnisse Pius XII. und Zeugenaussagen aus seiner engsten Umgebung geben zumindest partiell Auskunft zu dieser Frage. Pius fühlte ein quälendes Dilemma. Aber er war zu ängstlich und zu mutlos für eine klare Entscheidung – obwohl er genau spürte, wie ethisch fragwürdig seine Schweigehaltung war. Er klammerte sich lieber an die Fäden der Diplomatie. Doch in ihrem Netz hat er sich letztlich heillos verheddert. Von Pius selbst wissen wir, dass er sich schon im Frühjahr 1940 gedrängt fühlte, „Worte des Feuers“6 gegen die Nazigräuel zu schleudern. Doch aus Furcht vor der Vergeltung Hitlers, in dem er ein Abbild des Antichristen sah, wich er zurück. Dies Zaudern prägte sein Handeln bis zum Untergang des Nationalsozialismus.

Als Resümee seiner neuen Überlegungen stellt Friedländer die Gretchenfrage: Nach welchem Maßstab handelt der Papst politisch und mithin die katholische Kirche? Wenn es abwägende „Zweckrationalität“ sei, dann könne man angesichts der Risiken im Krieg die Entscheidungen Pius XII. „vielleicht für vernünftig halten“ (S. 226). Doch wenn die Kirche nach eigener Aussage eine moralische Position vertrete und besonders in Zeiten der Krise moralisches Zeugnis zu geben habe, dann müsse Pius XII. „selbstverständlich anders beurteilt werden“ (ebd.). Dem gibt es nichts hinzuzufügen.

Anmerkungen:
1 Zentrale Werke zur Debatte in den letzten zehn Jahren sind: Thomas Brechenmacher, Pius XII. und die Juden, in: Peter Pfister (Hrsg.), Eugenio Pacelli – Pius XII. (1876-1958) im Blick der Forschung, Regensburg 2009, S. 65-86; Philippe Chenaux, Pie XII. Diplomate et pasteur, Paris 2003; Patrick J. Gallo (Hrsg.), Pius XII, The Holocaust and the Revisionists. Essays, Jefferson 2006; Paul O´Shea, A Cross too heavy. Pope Pius and the Jews of Europe, New York 2011; Michael Phayer, Pius XII. The Holocaust and the Cold War, Bloomington 2008; Ronald J. Rychlak, Hitler, the War and the Pope, Second Edition (revised and expanded) Huntington 2010 (1. Aufl. 2000); ders., Righteous Gentilies. How Pius XII and the Catholic Church Saved Half a Million Jews from the Nazis, Dallas 2005; Giovanni M. Vian (Hrsg.), In difesa di Pio XII. Le ragioni della storia, Venezia 2009.
2 Zitat Friedländers aus: Gerhard Besier, Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland. Faszination des Totalitären, München 2004, S. 95. Besier zitiert aus dem Brief Pacellis an Gaspari (Kardinalstaatssekretär) vom 27.2.1922 (Archivio Segreto Vaticano, Germania, Pos. 507 P.O. Fasc. 16, Bl. 10v).
3 La Civiltá Cattolica, 89 (1938), Vol. III, S. 561 (ebd. für die drei weiteren Kurzzitate).
4 Enrico Rosa S.J., La questione giudaica e "La Civiltà Cattolica", 89 (1938), IV, S. 3-16.
5 In: Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche im neuen Jahrtausend. Ein Gespräch mit Peter Seewald, 6. Aufl. München 2004, S. 267f.
6 Zum scheidenden Botschafter D. Alfieri in einer Privataudienz am 13.5.1940 (ADSS Bd. 1, Dok. 313, S. 453-55, hier S. 455.

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