M. Herren: The Cosmography of Aethicus Ister

Cover
Titel
The Cosmography of Aethicus Ister. Edition, Translation, and Commentary


Autor(en)
Herren, Michael
Reihe
Publications of the Journal of Medieval Latin 8
Erschienen
Turnhout 2011: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
CXIX, 360 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Schwaderer, Universität Tübingen

Die Kosmografie des Aethicus Ister ist sicherlich eine der interessantesten und zugleich zweifelhaftesten Quellen des Frühmittelalters. Wohl im frühen achten Jahrhundert machte sich ein Schriftsteller ans Werk und entwarf als erste Fiktionsebene die Kosmografie eines angeblich heidnischen Philosophen namens Aethicus. Auf einer zweiten Fiktionsebene will er den Leser glauben machen, dass diese Schrift vom Kirchenvater Hieronymus teilweise übersetzt, exzerpiert und kommentiert worden sei. Der Fälscher breitet Spekulatives zur Schöpfung der Welt, zum Lauf der Sonne aus, weiß unter kruder Vermischung von Pseudoreisebericht und mythologischer Tradition von wilden Völkern, Naturphänomenen und technischen Gerätschaften zu berichten. Es nimmt durchaus Wunder, dass dieser singuläre Text aus einer so quellenarmen Zeit von Seiten der Forschung relativ wenig Beachtung erfuhr. Das allerdings könnte sich nun ändern.

18 Jahre nach dem Erscheinen der MGH-Edition von Otto Prinz1 legt Michael Herren jetzt eine neue Ausgabe vor, die nicht nur einen umfangreichen Kommentar, sondern auch die erste Übersetzung in eine moderne Fremdsprache enthält. Die Notwendigkeit einer Neuedition begründet Herren damit, dass sein Vorgänger Prinz bei der „Recensio“ stehen geblieben sei, während er, Herren, sich an die „Emmendatio“ gewagt habe (S. VII, S. CVIII). Herren greift also merklich stärker in den Text ein und interpungiert deutlich weniger zurückhaltend als Prinz.

In der mit insgesamt 113 Seiten relativ langen Einleitung geht Herren auf den Stand der Forschung, den Inhalt, die Quellen und die Sprache des Werkes sowie selbstverständlich auf Fragen der Überlieferung und Textkonstitution ein. Nachdem er alle zur Verfügung stehenden Informationen zusammengetragen hat, wagt sich der Herausgeber gar an eine – notgedrungen spekulative – Rekonstruktion der Vita des mittelalterlichen Fälschers. Dieser sei in jungen Jahren in die Francia gekommen, dort ausgebildet worden, habe im Laufe seines Lebens Irland und England besucht und schließlich seinen Lebensabend im Kloster Bobbio verbracht. Man hätte sich in ähnlicher Weise weitere Überlegungen zum Entstehungsmilieu, zur Intention und Rezeption des Textes gewünscht. So merkt Herren zwar an, dass das Werk des Virgilius Maro Grammaticus mit seinen erfundenen und verfälschten Quellenangaben, der prosimetrischen Sprache und den satirischen Passagen dem Kosmografen als Inspirationsquelle gedient haben könnte (S. LII-LIII), macht aus Sicht des Rezensenten aus diesen Beobachtung aber zu wenig. Er fragt beispielsweise nicht, inwieweit solche parodistischen, fast spielerischen Werke wie die des Grammaticus und auch des Aethicus den Geschmack der Zeit trafen. Vielmehr deutet Herren hier manches an (wie zum Beispiel, dass im Bibliothekskatalog von Bobbio die Kosmografie wohl in die Abteilung für Fiktives eingruppiert wurde; S. LXIV), ohne definitive Antworten zu geben.

Aus linguistischer Sicht gehört der erhaltene Text zu den schwierigsten mittellateinischen Sprachdenkmälern. Zudem ist er zwar zeitnah, aber nicht optimal überliefert. Man möchte folglich bei vielen Entscheidungen der Textkonstitution nicht in der Haut des Editors stecken. Vieles ergibt keinen richtigen Sinn und allzu oft bleibt die Intention des Autors unklar, Sätze insgesamt dunkel. Herren beweist editorischen Mut und schreckt selten vor Wortänderungen oder Einfügungen zurück, was einerseits zu einem in vielen Passagen lesbareren und sinnvolleren Text führt, als das in der Edition von Prinz der Fall war, andererseits im Einzelfall aber den Eindruck fragwürdiger Ergänzungen und Eingriffe weckt. So fügt er beispielsweise in den überlieferten Text (§38b, S. 48) „insulsus“ ein und vermutet im Kommentar, der Verfasser habe mit der Doppelbedeutung dieses Wortes vielleicht ein Wortspiel intendiert. Darüber darf im Kommentar spekuliert werden, zumal die Ergänzung des Herausgebers sicherlich nicht die unwahrscheinlichste ist – aber als Editor den Versuch zu unternehmen, die möglicherweise doppeldeutige Wortwahl eines Autors mit einem sehr verschrobenen Sprachhumor zu treffen, scheint allzu gewagt. Denn wie oft ist dessen Wortwahl Worterfindung. Das wird kein Herausgeber je imitieren können. Nicht nur hier wäre ein Lückenzeichen im Text gegenüber der Konjektur wohl die bessere Wahl gewesen.

Ein Beispiel für den Fall eines editorischen Eingriffs an einer Stelle, an der der auf uns gekommene Text keineswegs sinnfrei ist, sondern ohne weiteres gehalten werden könnte, ist die Änderung vom überlieferten „quondam“ an zwei Stellen in „quodam“ (§49, S. 16 und §87, S. 186). In beiden Fällen fügt sich „quondam“ gut in den Sinnzusammenhang, während andererseits Formen von „quidam“ nur drei Mal in der Neutrumform „quaedam“ – und demzufolge nie auf Personen bezogen – in der Kosmografie bezeugt sind. Die Notwendigkeit einer Konjektur ist mithin zurückzuweisen.

So können sicherlich viele Entscheidungen des Herausgebers nicht ohne mögliche Einwände bleiben, aber es fiel dem Rezensenten kein editorischer Eingriff auf, der nicht im Bereich des Denkbaren und Diskutablen läge (und übrigens auch keine Fehler im Text).

Die Übersetzung bemüht sich um ein relativ wörtliches Textverständnis, ohne durch dieses Bemühen allzu sperrig und schwer verständlich zu werden. Sowohl editorische Ergänzungen im lateinischen Text, als auch Einfügungen im Englischen sind durch Klammern markiert, wodurch die Zuordnung von Ausdrücken im Original zu denen der Übersetzung sehr erleichtert wird. Es liegt in der Natur dieser Schrift, dass eine Übersetzung sich allzu selten sicher sein kann, den vom Verfasser intendierten Sinn zu treffen, aber auch die lateinkundige Leserschaft wird sehr dankbar sein, wenigstens eine Möglichkeit des Textverständnisses an die Hand bekommen zu haben.

Der Kommentar bietet in wünschenswerter Ausführlichkeit Wort(herkunfts)erklärungen, sprachliche Besonderheiten, grammatische Erklärungen, Zitate und Parallelstellen. Inhaltliche Bemerkungen finden sich zwar etwas seltener, aber stets zielführend und fundiert und sehr oft unter Angabe weiterführender Literatur.

Nicht ganz gelungen sind Layout und Aufbau. Der kritische Apparat ist nicht an den unteren Rand der jeweiligen Seite, sondern unter den zugehörigen Text-Paragraphen platziert (d.h. oft erst auf der folgenden Seite). Auf den Kommentar wird nur in der Übersetzung, nicht im Originaltext verwiesen. Beide Entscheidungen zwingen die Lesenden zu eigentlich vermeidbarem Blättern und Springen mit den Augen. Im Anschluss an das leider nicht ganz fehlerfreie Literaturverzeichnis runden Indizes seltener Wörter und Eigennamen Herrens Neuausgabe ab.

Resümierend bleibt festzuhalten, dass dieser rätselhafte Text, der die Forschung mit Sicherheit auch weiter vor kaum zu lösende Probleme stellen wird, nun wenigstens durch eine zuverlässige Edition, die Texteingriffe nicht scheut, eine leicht lesbare Übersetzung und ausführliche Erläuterungen gut erschlossen ist.

Anmerkung:
1 Die Kosmographie des Aethicus, hrsg. von Otto Prinz, München 1993.

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