P. Fritzsche: The Turbulent World of Franz Göll

Cover
Titel
The Turbulent World of Franz Göll. An Ordinary Berliner Writes the Twentieth Century


Autor(en)
Fritzsche, Peter
Erschienen
Cambridge, MA 2011: Harvard University Press
Anzahl Seiten
XI, 260 S.
Preis
€ 20,34
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Ziemann, Department of History, University of Sheffield

In der deutschen Geschichtswissenschaft wird immer noch viel zu wenig gewürdigt, welche wichtigen Beiträge Peter Fritzsche zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert vorgelegt hat. Im Zeitalter der in Sonderforschungsbereichen betriebenen Großforschung muss es obskur erscheinen, dass ein einzelner Historiker gleich eine ganze Reihe von Monographien zu zentralen Themen schreibt. Genau das hat Fritzsche, Professor an der University of Illinois in Champaign-Urbana, aber mit beeindruckender Innovationskraft getan. Mit zwei wichtigen Büchern hat er die Debatte über die Rolle der Volksgemeinschaft in der Mobilisierung der Deutschen für den Nationalsozialismus angestoßen.1 Mit „Reading Berlin 1900“ hat er 1996 eine methodisch reflektierte Studie zur Mediengeschichte vorgelegt, als sich nur eine Handvoll von Experten für dieses Thema interessierte.2

Nun liegt ein neues Buch von Peter Fritzsche vor, über das Leben von Franz Göll, eigentlich Franz von Göll (1899-1984), Sohn eines gleichnamigen Vaters (1864-1915), der als illegitimer Nachfahre einer verarmten Adeligen jedoch den Gebrauch des „von“ aufgab. Fritzsche hat sich entschlossen, in diesem Buch dasselbe für den Sohn zu tun, um bei einem angelsächsischen Lesepublikum nicht den Eindruck hervorzurufen, hier werde der Niedergang der deutschen Aristokratie an einem exemplarischen Beispiel beschrieben. Darum geht es auch nicht, denn Franz Göll lebte ein bescheidenes und äußerlich wenig spektakuläres Leben in der unteren Mittelschicht. Nach dem Schulbesuch begann er eine Ausbildung an der Präparande, einer evangelischen Akademie für Volksschullehrer, die er 1913 mit einem Examen abschloss. Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er als Büroangestellter unter anderem bei der Reichskohlenstelle, einer der zahlreichen Gesellschaften, die der Bewirtschaftung von Rohstoffen und damit der korporativen Organisation der Kriegswirtschaft dienten. Nach deren Auflösung 1923 folgten eine Reihe von Gelegenheitsjobs, bis er 1927 mit einer Anstellung als Angestellter beim wissenschaftlichen Verlag Julius Springer ökonomische Sekurität und während des Zweiten Weltkrieges gar die Beförderung zum Abteilungsleiter gewann. In der „rubble society“ der Nachkriegsjahre räumte Göll Trümmer weg, arbeitete dann als Nachtwächter bei einer Holzhandlung am Sachsendamm, bevor er von 1959 bis zur Pensionierung 1964 wieder in seine alte Position bei Springer zurückkehrte.

Diesem äußerlich unspektakulären Berufsleben entsprach ein ebenso unspektakuläres Privatleben. Von den Kindheitstagen bis zu seinem Tod 1984 lebte Göll in derselben bescheidenen Mietwohnung in der Rossbachstrasse 1 in Berlin, auf der „Schöneberger Insel“ gelegen, jenem von Bahnlinien und einem Gasometer begrenzten Arbeiterwohnviertel, das wegen des Widerstandes seiner zumeist sozialistischen Bewohner gegen den Nationalsozialismus auch „Rote Insel“ genannt wird. Bis 1952 lebte Göll dort mit seiner Mutter zusammen. Er heiratete nie, hatte aber mehrere Freundinnen und schwärmte, aus der sicheren Distanz, in jungen Jahren für andere Frauen. Ein unscheinbares Leben also in einem auch räumlich eng begrenzten Wirkungskreis, von Wochenendtouren in das Umland Berlins abgesehen, zu denen dann nach 1933 die von „Kraft durch Freude“ organisierten Urlaubstouren hinzukamen.

Das besondere an Göll sind die Tagebücher, die er von 1916 bis 1983 regelmäßig führte. Hinzu kommen Memoiren, die er von 1941 bis 1948 in das Tagebuch einschrieb, sowie detaillierte Haushaltsbücher, in denen er in den Jahren der Inflation und Stabilisierung von 1921 bis 1927 seine Ausgaben eintrug und damit von Kinobesuchen bis zum Hobby, der Aquaristik, seine Teilnahme an der Konsumgesellschaft dokumentierte. Diesen einzigartigen Korpus an Selbstzeugnissen interpretiert Fritzsche aus verschiedenen Perspektiven. In einem ersten Anlauf rekonstruiert er die verschiedenen Versionen seines Selbst, die Göll in diesen Textsorten konstruierte, und wie er mit Hilfe einer breiten Lektüre in populärer Psychologie sein Selbstbild einer dem sozialen Leben distanziert gegenüber stehenden „Kümmerform“ – der klein gewachsene Göll wog nie mehr als 50 Kilogramm – formte. Im zweiten Schritt werden die persönlichen Nahverhältnisse beschrieben, die Göll zu seiner Mutter und zu seinen Freundinnen hatte, seine Unfähigkeit zur Liebe ebenso registriert wie seine Verunsicherung angesichts der aktiven und emanzipierten Haltung, in der sich Frauen nach dem Ersten Weltkrieg präsentierten. Sodann beschreibt Fritzsche, wie Göll erhebliche Zeit mit der Lektüre naturhistorischer und populärwissenschaftlicher Bücher verbrachte, dabei aber auch intellektuelle Autoren wie Karl Löwith und Nietzsche las, und überhaupt seine Lektüre genau protokollierte und seine Sicht der Welt ganz bewusst in der Auseinandersetzung mit Büchern entwickelte. Dies geschah später auch, in politischen Dingen, durch die Lektüre von Remarque, der mit seinem „Im Westen nichts Neues“ „stands up for humanity and does not comport himself as a mass butcher like Zöberlein“ (S. 163). Aus der Lektüre entwickelte Göll eine funktionalistische Sicht auf tierische und menschliche Vergesellschaftung, die für eine „agency“ der Menschen, ob im Kollektiv oder als Individuum, nicht viel Platz ließ. So entstand ein populärwissenschaftliches Weltbild, das ohne die Vorstellung eines Gottes auskam, auch wenn sich Göll im Alter stark für den historischen Jesus interessierte.

Auch politisch gefiel Göll sich zumeist in der Rolle des distanzierten Beobachters. Gewiss, 1921 schrieb er ein sozialistisch angehauchtes Manifest zur „Erlösung“ der Deutschen, das keine Zeitung drucken wollte. Aber das blieb Episode. Zu Beginn der 1930er-Jahre tauchen antisemitische Ideen in den Tagebüchern auf, und noch lange nach dem Krieg benutzte Franz Göll wie selbstverständlich Versatzstücke der nationalsozialistischen Rassenideologie. Seit 1932 projizierte er Hoffnungen auf eine Abkehr vom „falschen“ Individualismus der Weimarer Jahre auf die Nationalsozialisten, wandte sich aber bereits 1935/36 wieder vom Regime ab und nutzte die Kriegsjahre dazu, regimekritische Witze zu notieren. Göll notierte seine kritischen Eindrücke zu der Ausstellung „Entartete Kunst“ ebenso wie jene zum die Euthanasie befürwortenden Film „Ich klage an!“ (1941). Während sein Leben mit der Beförderung und den KdF-Reisen erstmals eine kohärente Form annahm, notierte er klare Einsichten zur Funktionsweise der nationalsozialistischen Propaganda. Die Deutschen blieben aber ein Volk der Opfer für ihn, von 1938 bis in die Nachkriegszeit. Erst mit dem Beginn des Kalten Krieges, den Göll bereits 1948 als solchen bezeichnete, setzte eine kontinuierliche Reflexion auf politische Zusammenhänge wieder ein. Aber auch hier waren die Deutschen nicht mehr als ein Bauer auf dem Schachbrett der Weltpolitik.

Peter Fritzsche hat ein faszinierendes und nachdenkliches, sehr persönliches Buch über Göll geschrieben. Als Leser hätte ich mir mehr Informationen über den Kiez und seine Rolle im Leben von Göll gewünscht, auch aus persönlichen Gründen, denn nur wenige Wochen nach seinem Tod, im September 1984, bin ich in die Kolonnenstrasse 20 gezogen, nur einen Steinwurf von Gölls Wohnung entfernt. Dieses Buch besticht nicht nur durch die sprachliche und intellektuelle Präzision, mit der Fritzsche die Aufschreibesysteme von Göll rekonstruiert und damit die Formierung einer für sich selbst erzählten Lebensgeschichte einer Person erschließen kann. Es überzeugt auch durch seine Weigerung, das Leben von Göll in eine der zahlreichen Generationstypologien hineinzupressen, die sich momentan so großer Beliebtheit unter Zeithistorikern erfreuen. Was damit erst deutlich und verstehbar wird, sind etwa die politischen Pendelbewegungen, die Göll von der Unterstützung der SPD kurz nach dem Ersten Weltkrieg über die Faszination des NS bis zur Befürwortung von Willy Brandts SPD und seiner Politik der Détente in der Nachkriegszeit führten. Mehr noch: in der Praxis des Tagebuchschreibens wird die Formierung des Selbst als eine Aufgabe sichtbar, der sich auch jemand stellen musste und konnte, der eben nicht auf spektakuläre Weise in die großen politischen Umbrüche und Katastrophen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts eingebunden war.

Anmerkungen:
1 Peter Fritzsche, Germans into Nazis, Cambridge/Mass 1998; ders., Life and Death in the Third Reich, Cambridge/Mass 2008.
2 Peter Fritzsche, Reading Berlin 1900, Cambridge/Mass 1996.