J. Kocka: Arbeiten an der Geschichte

Cover
Titel
Arbeiten an der Geschichte. Gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Kocka, Jürgen
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 200
Erschienen
Göttingen 2011: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedrich Lenger, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Mit diesem Buch zieht Jürgen Kocka, neben Hans-Ulrich Wehler sicher der wichtigste Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft1, anlässlich seines 70. Geburtstages eine Zwischenbilanz seines einflussreichen Schaffens. Dieser 200. Band der von Kocka selbst mitbegründeten Reihe „Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft“ steht, wie auch das knappe Vorwort vermerkt, neben Wolfram Fischers Studien zu „Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung“ ((Bd. 1, 1972)2 und den Aufsätzen von M. Rainer Lepsius zur „Demokratie in Deutschland“ (Bd. 100, 1993).3 Das ist auch inhaltlich mehr als passend, bilden doch Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie in Deutschland zentrale Fluchtpunkte der meisten hier versammelten 21 Aufsätze Kockas, die im Laufe der letzten viereinhalb Jahrzehnte erstmals erschienen sind. Für den Wiederabdruck hat der Autor jedem dieser Texte eine zusätzliche Anmerkung vorangestellt, die den Fortgang der Diskussion skizziert und einige neuere Titel zum Thema auflistet. Insgesamt wird ein ungemein eindrucksvoller Bogen gespannt – von einem Vergleich der methodischen Herangehensweise von Marx und Weber bis zu einem Ausblick auf die Geschichte des Kapitalismus und seiner Krisen.

Gegliedert ist der Band in drei Abteilungen. Die erste ist Fragen von Theorie und Geschichte gewidmet. Hier steht der Marx-Weber-Vergleich am Anfang, aus dem Kocka „die Grundlage eines Verständnisses der Sozial- und Geschichtswissenschaften“ zu gewinnen sucht, „das gleich weit entfernt ist von naivem Realismus wie von postmoderner Beliebigkeit“ (S. 7). Auch wer nach dem Linguistic Turn Zweifel an der Tragfähigkeit dieser Grundlage haben mag, wird der 1966 erstmals publizierten und aus einer Seminararbeit bei Dieter Henrich hervorgegangenen Untersuchung, die die spezifisch bundesrepublikanische Form der Sozialgeschichte maßgeblich geprägt hat, seine Bewunderung nicht verweigern können. Die übrigen Beiträge dieser Abteilung schließen zwar nicht chronologisch an, aber doch so, dass die Positionsverschiebungen des Autors im Kontext der Fachentwicklung gut nachvollzogen werden können.

Von den sieben Aufsätzen der ersten Abteilung haben drei ihren Ursprung in den 1960er- und 1970er-Jahren. Sie können als Grundlegungen der Historischen Sozialwissenschaft angesehen werden.4 Drei weitere entstanden in den 2000er-Jahren. Nur das auch auf den „Historikerstreit“ reagierende Plädoyer für eine „aufklärungsorientierte Geschichtswissenschaft“ (S. 60) stammt aus den späten 1980er-Jahren. Für heute nicht mehr so wichtig hält Kocka also offensichtlich die Auseinandersetzungen mit den alltags-, geschlechter- und kulturgeschichtlichen Kritikern während der 1980er- und 1990er-Jahre. Von ihnen ist kurz die Rede in einer Skizze der „Historische[n] Sozialwissenschaft zu Anfang des 21. Jahrhunderts“ (S. 78ff.): Kocka räumt solchen Kritikern durchaus ein, wichtige Leerstellen identifiziert zu haben, meint diese aber in einem modifizierten Programm einer Historischen Sozialwissenschaft ausfüllen zu können. Als gewichtiger erachtet Kocka offensichtlich die Herausforderung durch die neue Globalgeschichtsschreibung, der ein eigener Aufsatz gewidmet ist und die auch den Fluchtpunkt eines erneuten Plädoyers für den Vergleich bildet, der Verflechtungsaspekte durchaus zu integrieren vermöge. Nun unterscheiden sich die Beiträge der letzten zehn Jahre auch im sprachlichen Duktus von den programmatisch angelegten Interventionen der Formationsphase einer Historischen Sozialwissenschaft. Und doch sollte der stärker bilanzierend-resümierende, zugleich stärker abwägende Zuschnitt der jüngeren Wortmeldungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kocka „die sozialgeschichtliche, die strukturgeschichtliche und die analytische Wende der sechziger und siebziger Jahre“ (S. 83) für Errungenschaften hält, an deren Kern festgehalten werden sollte.

Die in der zweiten Abteilung versammelten Studien zu „Wirtschaft und Gesellschaft“ demonstrieren – mit einem gewissen Schwerpunkt auf den 1970er- und 1980er-Jahren –, wie dieses Programm empirisch umgesetzt worden ist. Sie spiegeln wichtige Arbeitsfelder des Verfassers wider, so dass hinter vielen der hier abgedruckten Aufsätze dicke Bücher stehen. Vier der sieben Beiträge nehmen soziale Klassen und Schichten wie Angestellte, Arbeiterschaft oder Bürgertum in den Blick; auch die Analyse des Aufstiegs des Managerkapitalismus weist enge Berührungspunkte zur Angestellten- und zur Bürgertumsgeschichte auf. Zugleich führt sie vor Augen, dass der Wegbereiter einer modernen Sozialgeschichte in Deutschland von Beginn an auch ein eminenter Wirtschafts- und Unternehmenshistoriker gewesen ist. Liest man heute diese fünf, zwischen 1970 und 1993 erstmals erschienenen Aufsätze nacheinander, so fällt auf, wie stark sie einer – zunehmend differenzierter diskutierten – Sonderwegsperspektive verpflichtet sind. Unabhängig von der Durchschlagskraft einzelner in diesem Zusammenhang eingehend diskutierter Argumente wie der deutschen Bürokratietradition oder der Staatsnähe der Großunternehmer wird die normative Überformung dieser Perspektive überdeutlich. Denn wie unterschiedlich intensiv auch verglichen wird, bleibt der Vergleichsblick doch stets nach Westen gerichtet, bleiben Großbritannien und die USA (weniger Frankreich) das Maß der Dinge. Lediglich eine knappe Skizze zur „Zivilgesellschaft in historischer Perspektive“ wirft dann auch einen flüchtigen Blick nach Osten. Vielleicht der anregendste Beitrag dieser Abteilung ist der abschließende Überblick zu „Arbeit und Arbeitsgesellschaft in der europäischen Geschichte“ (S. 203ff.), der unter anderem eine faszinierende ideengeschichtliche Analyse utopischer Literatur zum Thema enthält.

Zugleich bildet dieser Aufsatz eine gute Brücke zur dritten Abteilung, bezieht er seinen Gegenstand doch klar auf gegenwärtige Debatten um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Deutlicher noch als sonst tritt hier hervor, was Kocka unter „aufklärungsorientierter Geschichtswissenschaft“ versteht. Chronologisch angeordnet reichen die Einzelstudien von der 1848er-Revolution, der eine erinnerungsgeschichtliche Arbeit gewidmet ist, über das Kaiserreich bis in die unmittelbare Gegenwart. Der Autor tritt hier vor allem als Zeithistoriker hervor, der sich vom Umbruch der Jahre 1989/90 zu grundsätzlichen Überlegungen zum Begriffsinstrumentarium einer Sozialgeschichte der DDR ebenso anregen lässt wie zu einem Vergleich der beiden deutschen Diktaturen oder einem vergleichenden Blick auf die Revolutionen Ostmitteleuropas. In dieser dritten Abteilung erscheint der Verfasser nicht nur als politischer Historiker, sondern häufiger auch als Politikhistoriker. Aber die Ab- oder gar Ausgrenzung des Politischen war der Historischen Sozialwissenschaft ja ohnehin fremd.

Als Ausblick enthält der Band schließlich noch einen Abriss über den „Kapitalismus und seine Krisen in historischer Perspektive“ (S. 307ff.). Kocka drückt im Vorwort bescheiden seine Hoffnung aus, das Thema „weiter zu bearbeiten“ (S. 10). In der vorliegenden Form bietet der Beitrag beides: die Skizze eines breit angelegten Forschungsprogramms und eine hilfreiche historische Situierung der aktuellen Krise des Kapitalismus. Was das Programmatische anbelangt, das durch begriffsgeschichtliche Erörterungen und klare Begriffsdefinitionen fundiert ist, steht ganz die Frage nach dem zeitlichen und räumlichen Rahmen des Themas im Vordergrund. Hier scheinen noch keine endgültigen Vorentscheidungen getroffen zu sein, doch ist klar, dass ein nationalgeschichtlicher Zugriff nicht in Frage kommt. Angesichts von Kockas Wertschätzung globalgeschichtlicher Ansätze wäre zu hoffen, dass er einen solchen Ansatz gerade für eine dringend benötigte Geschichte des Kapitalismus wählt. Das würde sicherlich auch ein Überdenken von Schlüsselkategorien der Historischen Sozialwissenschaft wie „sozialer Ungleichheit“ oder gar „Gesellschaft“ erfordern, die man eben nicht einfach unverändert aus nationalgeschichtlichen Kontexten in globale übertragen kann. Von daher bietet der Band, der eine eindrucksvolle Summe theoretisch-methodischer, sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher sowie politisch-aufklärerischer Arbeiten eines der wichtigsten Historiker der Bundesrepublik zieht, am Ende auch ein Versprechen. Auf dessen Einlösung freut sich gewiss nicht nur der Rezensent.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu auch Friedrich Lenger, „Historische Sozialwissenschaft“: Aufbruch oder Sackgasse?, in: Christoph Cornelißen (Hrsg.), Geschichtswissenschaft im Geist der Demokratie. Wolfgang J. Mommsen und seine Generation, Berlin 2010, S. 115-132.
2 Wolfram Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Aufsätze, Studien, Vorträge, Göttingen 1972.
3 Mario Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993.
4 Ihr Abdruck ist auch deshalb zu begrüßen, weil sie bei Bettina Hitzer / Thomas Welskopp (Hrsg.), Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen, Bielefeld 2010, nicht berücksichtigt worden sind; dort sind indessen die im Folgenden angesprochenen Kontroversen dokumentiert. Siehe auch Philipp Stelzel: Rezension zu: Hitzer, Bettina; Welskopp, Thomas (Hrsg.): Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen. Bielefeld 2010, in: H-Soz-u-Kult, 30.06.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-2-246> (12.9.2011).