Titel
Die Violencia in Kolumbien: Verbotene Erinnerung?. Der Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1948-2008


Autor(en)
Schuster, Sven
Reihe
Historamericana 22
Erschienen
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 34,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hinnerk Onken, Historisches Institut, Abteilung für iberische und lateinamerikanische Geschichte, Universität zu Köln

Die ausgiebige wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema „Erinnerung“ hat sich in den letzten Jahren vermehrt in Arbeiten auch zur lateinamerikanischen Geschichte niedergeschlagen. Diese beschäftigen sich vor allem mit dem Erbe von Militärdiktaturen und Bürgerkriegen.1 Um letzteres, die Erinnerung an die kolumbianische Violencia (übersetzt „Gewalt“, als Eigenname Bezeichnung für den Bürgerkrieg, der 1948 ausbrach) und die Anfänge des nunmehr seit über sechs Dekaden andauernden bewaffneten Konfliktes, geht es auch in der zu besprechenden Arbeit.

Die Violencia ist schwierig zu fassen: Das gilt für die Wissenschaft, die viele verschiedene, zum Teil einander widersprechende Erklärungsansätze bietet, ebenso wie für die sich ihrer erinnernde Gesellschaft: „Durch die allmähliche ‚Routinisierung‘ des Krieges, der in seinen barbarischen, entideologisierten Formen immer mehr den historischen Auseinandersetzungen gleicht, verschwimmen die zeitlichen Trennungslinien. Da ein Ende des Kampfes nicht absehbar ist, sehen sich viele Kolumbianer mit einer ständig wiederkehrenden Vergangenheit konfrontiert, in der die Violencia nahtlos aufgeht.“ (S. 35)

Als wäre die Untersuchung der Erinnerung an die Violencia damit nicht schon problematisch genug, gibt es eine weitere Schwierigkeit, auf die bereits der Titel des Buches hinweist: War die Erinnerung an die Violencia in Kolumbien verboten bzw. gelang es der politischen Machtelite, eine bestimmte Deutung der Vergangenheit durchzusetzen? Schuster stellt die schwierige Frage, wie die noch immer vom Bürgerkrieg geplagte kolumbianische Gesellschaft sich der Violencia erinnert.

Im ersten Teil, einer knappen theoretischen Einführung, unterscheidet Schuster zunächst zwischen dem Konzept der Geschichtspolitik einerseits und dem Modell der Erinnerungskulturen andererseits. Diese beiden Ebenen von Erinnerung, die verkürzt als die institutionelle bzw. die gesellschaftliche Seite charakterisiert werden können, stellt Schuster im zweiten und dritten Abschnitt einander gegenüber. Der Abschluss bietet sowohl eine Ergebniszusammenfassung als auch einen Ausblick auf die Möglichkeiten zukünftigen Erinnerns insbesondere hinsichtlich einer demokratischen Transformation.

Die Violencia war eine Zeit entfesselter Gewalt, die das kolumbianische System an den Rand des Zusammenbruchs oder, je nach Warte, darüber hinaus führte. Fassungslos angesichts der Gräuel empfinden viele Kolumbianer die Violencia als Heimsuchung, „als eine Art Naturgewalt“ (S. 11), die nicht rational zu erklären sei. Dazu passt, dass Beginn und Ende der Periode quasi „ausfransen“ und in der Forschung unterschiedlich gesetzt werden. Zwar gilt der bogotazo (schwere Unruhen in der Hauptstadt Bogotá nach der Ermordung des populären liberalen Politikers Jorge Eliécer Gaitán) am 9. April 1948 gemeinhin als Beginn der Violencia, doch gab es auf dem Land schon seit 1946 bewaffnete Auseinandersetzungen. Nach dem bogotazo breitete sich die Gewalt unkontrolliert aus. Weder die Diktatur des Generals Gustavo Rojas Pinilla (1953-1957) noch die aus Liberaler und Konservativer Partei bestehende Einheitsregierung des Frente Nacional (1958-1974) vermochten ihr Einhalt zu gebieten. Denn auch wenn die Violencia „offiziell“ wahlweise 1953, 1958 oder in den 1960er Jahren endete, sei „Kolumbiens aktueller Binnenkonflikt […] als Fortsetzung der historischen Violencia zu verstehen“ (S. 21). Zwar seien die Akteure mit Guerillas, rechten Paramilitärs und Drogenkartellen heute zum Teil andere, die Gewalt selbst aber stehe in einer Kontinuität. Diese zeigt sich auch in der Unfähigkeit des Staates, den Konflikt zu befrieden: Verhandlungslösungen, wie von Präsident Andrés Pastrana angestrebt, sind genauso gescheitert wie militärische Strategien, wie sie Pastranas Nachfolger Álvaro Uribe verfolgte.2

Im zweiten Teil der Untersuchung widmet sich Schuster der kolumbianischen Geschichtspolitik seit 1957. Dabei prüft er auch die vom kolumbianischen Historiker Gonzalo Sánchez aufgestellte und breit rezipierte These von der „kollektiven Amnesie“ (S. 17). Sánchez zufolge hätten die politischen Eliten die Violencia durch eine Politik des Vergessens aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt, um ihre Legitimation angesichts ihres bis heute andauernden Versagens nicht zu verlieren. Um das Ergebnis gleich vorweg zu nehmen: Beides ist ihnen nicht, zumindest nicht vollends gelungen. Das zeigt insbesondere Schusters Blick auf die Erinnerungskulturen im dritten Teil der Arbeit. Dass Kolumbianer die Violencia und die violencias heute, wie oben erwähnt, als Naturgewalt empfinden, deutet dagegen auf einen gewissen Erfolg der Strategie der Eliten hin, die sich weigerten, Verantwortliche zu benennen, geschweige denn Verantwortung zu übernehmen.

Anhand der „offiziellen“ Quellen (Presse, Kongressakten, Reden und Schriften von Politikern) rekonstruiert Schuster das Erinnerungsideal einer deutungsmächtigen politischen Elite, die im Frente Nacional „Frieden, Versöhnung und Vergessen“ (S. 88) propagierte. Schuld an der Violencia seien der Diktator Rojas Pinilla, der internationale Kommunismus, der seine Macht 1959 auch in der kubanischen Revolution demonstriert habe, und / oder die „barbarischen Volksmassen“: Pseudoanthropologischen Theorien nach leitete „sich die Gewalt im ‚Volke‘ direkt von den indianischen Vorfahren“ her (S. 107). Diese Rede von einer „gewaltsamen Rasse“ (ebd.) hat starke Ähnlichkeit mit den Thesen mancher violentólogos (Forscher, die zur Violencia arbeiten), die eine besondere Affinität der Kolumbianer zur Gewalt, eine spezifisch kolumbianische, endemische Gewaltkultur unterstellen.3

Zu den Strategien zur „Institutionalisierung des Vergessens“ gehörte, Demobilisierungswillige zu amnestieren und die Epoche der Violencia in Schulbüchern auszusparen oder auf prägnante Ereignisse zu reduzieren (S. 150-169 und 189-203). Doch der „Pakt des Vergessens“ (S. 93) war von Anfang an nicht frei von Widersprüchen und er bröckelte zunehmend, noch während die Violencia andauerte. 1962 erschien der erste Band von „La Violencia en Colombia“ (Band 2 folgte 1964). Die Autoren machten nicht nur die Eliten, namentlich die konservative Partei und die Amtskirche, für die Violencia verantwortlich. Sie verschafften dem Thema zugleich eine breite kritische Öffentlichkeit (S. 122-130).

Gleiches gilt für viele Stimmen der alternativen Erinnerungskultur, die Schuster im dritten Teil seiner Arbeit ausführlich untersucht. Hier betrachtet er literarische Arbeiten, Theaterstücke, Filme und Werke der bildenden Kunst sowie den Gründungsmythos der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC). Sie brachen den oben beschriebenen „Pakt des Vergessens“, setzten sich über Tabus hinweg und ebneten so den Weg für einen Umgang mit dem gewaltsamen Erbe Kolumbiens. Wie dieser Umgang genau aussehen wird und ob die Erinnerung demokratisch bestimmt werden kann, bleibt aber weiter offen.

Sven Schuster hat eine bemerkenswerte und kluge Arbeit geschrieben. Denn er meistert die angesprochenen Tücken der kolumbianischen Geschichtsschreibung und -deutung und bezieht wissenschaftlich, wenn auch leise, so doch deutlich Stellung in wichtigen gesellschaftlichen, politischen und moralischen Fragen.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Elizabeth Jelin, The Past in the Present. Memories of State Violence in Contemporary Latin America, in: Aleida Assmann / Sebastian Conrad (Hrsg.), Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories, Basingstoke 2010, S. 61-78; Stephan Ruderer, Das Erbe Pinochets. Vergangenheitspolitik und Demokratisierung in Chile 1990-2006, Göttingen 2010. Zu Chile vgl. insbesondere auch die Trilogie von Steve J. Stern, The Memory Box of Pinochet’s Chile, Durham 2004-2010.
2 Nach wie vor sind staatliche Akteure tief in die Gewalt verstrickt. Das gilt nicht nur für die „unter dem Schlagwort parapolítica bekannt gewordenen Verbindungen zwischen Kongressabgeordneten und Paramilitärs“ (S. 13), sondern auch für Kolumbiens amtierenden Präsidenten Juan Manuel Santos, der, wie der ehemalige Kommandant der Autodefensas Unidas de Colombia (AUC, Vereinigung rechter paramilitärischer Bürgerwehren) aussagte, in den Aufbau dieser Verbände involviert war, oder für Álvaro Uribe, den ein Video gemeinsam mit Paramilitärs zeigt. Vgl. Kristofer Lengert, Von Bananen und gestrauchelten Senatoren, in: Lateinamerika Nachrichten, Nr. 397/398, 2007, im Internet unter <http://www.lateinamerikanachrichten.de/index.php?/artikel/1179.html> (30.08.2011).
3 Vgl. neben der von Schuster angeführten Arbeit Hernando Gómez Buendías (S. 16) auch Ramona Majka-Tewes, Die Moderne und die „Violencia“. Zur Gesellschafts-, Konflikt- und Ideologiegeschichte Kolumbiens, Frankfurt am Main 2001.

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