M. Winiarczyk: Die hellenistischen Utopien

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Titel
Die hellenistischen Utopien.


Autor(en)
Winiarczyk, Marek
Reihe
Beiträge zur Altertumskunde 293
Erschienen
Berlin 2011: de Gruyter
Anzahl Seiten
XX, 359 S.
Preis
€ 109,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Dreßler, Excellence Cluster Topoi, Humboldt-Universität zu Berlin

In seinem jüngsten Werk widmet sich der polnische Altertumsforscher Marek Winiarczyk den „hellenistischen Utopien“. Der Begriff „Utopie“ wurde bekanntlich von Thomas Morus geprägt, doch konnte der englische Humanist an eine antike Tradition anknüpfen, die sich bis Homer zurückverfolgen lässt.1 Dabei waren die utopischen Romane hellenistischer Zeit für die Autoren der Renaissance nicht weniger wichtig als etwa die großen Staatsentwürfe Platons (vgl. S. 228). Keiner dieser Texte ist allerdings vollständig überliefert: „Wir verfügen ausschließlich über Zusammenfassungen, Paraphrasen einiger Textpartien bzw. kurze Erwähnungen auf Griechisch oder Lateinisch“ (S. IX). Der Utopie-Begriff wird bekanntlich sehr unterschiedlich ausgelegt. Verstehen die einen darunter durchaus ernst gemeinte Entwürfe einer besseren Gesellschaft, gilt den anderen das Utopische per definitionem als phantastisch und irreal (vgl. S. 4–12). Winiarczyk unterscheidet daher zwischen politischen Utopien sensu stricto (zum Beispiel Platons Politeia) und utopischen Motiven sensu lato (S. 11f. u. 219f.).2 Letztere finden ihren Ausdruck in idealisierten, oft fiktiven Beschreibungen fremder und exotischer Völker, so etwa in den von Winiarczyk untersuchten utopischen Reiseerzählungen, deren Aufkommen nicht zuletzt auf die Ausweitung des geographischen Horizonts (besonders nach Osten) im Hellenismus verweist.3

Nach einer ausführlichen Einleitung zur Entwicklung der antiken Utopie sowie zur Begriffs- und Forschungsgeschichte (S. 1–27) widmet sich das zweite Kapitel (S. 29–44) dem Historiker Theopomp aus dem 4. Jahrhundert v.Chr.: In einem Exkurs seines Werkes berichtete er von der jenseits der bekannten Welt gelegenen Stadt Eusebés. Deren Bewohner „verbringen ihr Leben in Frieden und Überfluß, sie empfangen die Früchte der Erde ohne Pflüge und Ochsen […]. Zeit ihres Lebens […] sind sie voller Gesundheit und frei von Krankheiten“.4 Das Leben in der benachbarten ‚Stadt des Krieges‘ (Máchismos) ist dagegen weniger glücklich. Theopomps Ziel war es wohl nicht, so Winiarczyk, eine politische Utopie im engeren Sinne zu verfassen, sondern eine ungewöhnliche und interessante Geschichte zu erzählen (S. 42–44).

Das folgende Kapitel (S. 45–71) behandelt den „Reiseroman“ (S. 50) des Hekataios von Abdera aus dem späten 4. Jahrhundert v.Chr. (vgl. S. 49) über die „jenseits des Keltenlandes“ gelegene Insel der Hyperboreer. „Die Insel ist fruchtbar und trägt Gewächse jeder Art, zeichnet sich durch ein wohltemperiertes Klima aus und bringt darum auch zwei Ernten pro Jahr hervor“5 – ein gängiges utopisches Motiv. Überhaupt führte das sagenhafte Volk der Hyperboreer in der antiken Literatur seit jeher ein äußerst glückliches Leben und galt außerdem als dem Gott Apollon besonders eng verbunden. Winiarczyk meint, dass auch Hekataios wohl kein politischer Utopist gewesen sei, sondern „den Leser mit einer packenden und abwechslungsreichen Fabel“ habe unterhalten wollen (S. 68).

Kapitel IV (S. 73–115) behandelt die Erziehung Alexanders des Onesikritos von Astypalaia, nach Winiarczyk eher ein idealisierender historischer Roman als ein Geschichtswerk im engeren Sinne (S. 91 u. 93). In einem Exkurs berichtet Onesikritos auch vom Land des indischen Königs Musikanos. Onesikritos hatte zwar als Teilnehmer des Alexander-Feldzugs Indien tatsächlich besucht (vgl. S. 79–84), doch entwickelte sich das Land in hellenistischen Darstellungen (und so auch in seiner) mehr und mehr zum „Land voller Wunder und ungewöhnlicher Phänomene“ (S. 114). Winiarczyk deutet das Werk mithin als Reisebericht mit gängigen utopischen Motiven (so etwa die üppige Natur und das bescheidene und gesunde Leben der Einwohner), jedoch nicht als Utopie im engeren Sinne (S. 112f.).

Das längste Kapitel des Buches (S. 117–180) widmet sich dem utopischen Roman des Euhemeros von Messene, der wohl im späten 4. oder frühen 3. Jahrhundert v.Chr. entstandenen ist (vgl. S. 129f.).6 Er berichtet unter anderem vom Volk der Panchaier, das im Indischen Ozean lebt, keinen Privatbesitz kennt und von einer Priesterkaste regiert wird, in deren Händen auch die Verteilung der landwirtschaftlichen Produktion liegt, auf der die bescheidene Wirtschaft der Insel basiert. Doch bildet die idealisierte Inselbeschreibung nach Winiarczyk nur die „Rahmenhandlung“ (S. 145) für das, was antike wie moderne Leser am meisten fasziniert hat: Auf einer Stele im Tempel von Panchaia habe sich ein Bericht erhalten, wonach Zeus, Chronos und Uranos ursprünglich menschliche Herrscher gewesen und erst später zu Göttern geworden und als solche verehrt worden seien. Schon in der Antike wurde Euhemeros’ Theorie als atheistisch ausgelegt (S. 126).7 In dieser Geschichte ging es Euhemeros wohl in erster Linie darum, den Ursprung der Religion besonders mit Blick auf die zeitgenössische „Diskussion über den Herrscherkult zu Beginn der hellenistischen Zeit“ zu erhellen (S. 173).

Besonders wirkungsmächtig – etwa für Campanellas Città del Sole – war die phantastische, nicht näher zu datierende Erzählung des Jambulos über eine ‚Insel der Seligen‘ im Indischen Ozean.8 „Infolge der Fruchtbarkeit der Insel und aufgrund des ausgewogenen Klimas wächst die Nahrung ganz von selbst und mehr als nötig,“ berichtet Jambulos.9 Frauen und Kinder sind allen gemeinsam. Die Bewohner leben lang und gesund, widmen sich der Wissenschaft, insbesondere der Astronomie, und „verehren als Götter das allumfassende All und die Sonne und insgesamt alle Himmelskörper.“10 Auch hier kommt Winiarczyk zu dem Schluss, dass das Werk des Jambulos weder eine „politische Utopie noch ein Bericht über eine wirkliche Reise, sondern einer der utopischen Reiseromane“ gewesen sei (S. 228; vgl. S. 192–196). Die teilweise vertretene These, das Werk habe den Aristonikos-Aufstand maßgeblich beeinflusst, wird von ihm daher zurückgewiesen (S. 198–203). Ebenso sieht Winiarczyk im vorletzten Kapitel (S. 205–218) auch in der Gründung der Stadt Uranopolis wohl im späten 4. Jahrhundert v.Chr. (vgl. S. 207f.) durch Kassandros’ jüngeren Bruder Alexarchos keine Verwirklichung einer politischen Utopie, zumal „die antiken Quellen keine Auskunft über die politische Verfassung der Stadt Uranopolis oder ihre Gesellschaftsstruktur“ geben (S. 210). Das letzte Kapitel (S. 219–229) fasst die Ergebnisse zusammen. Es folgen eine umfangreiche und sehr hilfreiche Übersicht, in der – thematisch gegliedert – utopische sowie exotische und phantastische Motive und Inseln für die gesamte antike Literatur belegt werden (S. 231–265), eine ausführliche Bibliographie (S. 267–327) sowie ein ebenso ausführliches Register (S. 329–359).

Winiarczyk deutet die Texte durchweg (und durchaus überzeugend) nicht als vornehmlich politisch oder philosophisch motivierte Entwürfe einer besseren Gesellschaft, sondern als fiktive und unterhaltsame Reiseerzählungen (vgl. S. 26f. u. 220). Auch zeigt er, dass sich utopische Motive nicht nur in traditionell als Utopien bezeichneten Texten, sondern in Werken ganz unterschiedlicher Gattungen quer durch die gesamte antike Literatur finden.11 Aus dieser Tradition schöpfen auch die Reiseromane. Zu fragen ist dann allerdings, warum Winiarczyk seine Darstellung auf die im engeren Sinne ‚utopischen‘ Texte beschränkt, wenn diese doch, wie er selber feststellt, nur Motive aufgreifen, die auch ansonsten in der hellenistischen Literatur zu fassen sind. Auch werden meines Erachtens utopische Motive einerseits und phantastische und exotische Motive andererseits nicht deutlich genug auseinandergehalten. Es besteht durchaus ein Unterschied zwischen der Beschreibung außergewöhnlicher Flora und Fauna und der Schilderung idealisierter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse. Was ist dann aber das genuin Utopische in den Reiseromanen und welche Bedeutung haben diese Motive? Schließlich verweisen utopische Schilderungen – auch wenn sie nicht direkt politisch motiviert sind – als idealisierte Gegenbilder immer auch zurück auf den kulturellen und gesellschaftlichen Kontext, in dem sie entstanden sind.12 Die Frage, was sie uns über die Mentalitätsgeschichte der hellenistischen Zeit verraten können, kommt in Winiarczyks Darstellung etwas zu kurz.13

Den Wert der Arbeit sollen diese Anmerkungen jedoch nicht schmälern. Winiarczyks Darstellung überzeugt vor allem durch ihre beeindruckende Kenntnis sowohl der Quellen als auch der modernen Forschung. Besonders die Auseinandersetzung mit letzterer bildet einen Schwerpunkt des Buches, wobei Winiarczyks ausgewogenes und vorsichtiges Urteil sich von so mancher überschwänglichen Deutung der bisherigen Forschung positiv abhebt. Als umfassender und fundierter Überblick zu den utopischen Erzählungen der hellenistischen Zeit sei das Buch jedem Interessierten empfohlen.

Anmerkungen:
1 Zu dieser Tradition zählen etwa die Vorstellungen eines ‚Goldenen Zeitalters‘, der Hyperboreer-Mythos und die Idealisierung der ‚Naturvölker‘; vgl. dazu die ausführliche Übersicht in Appendix I („Utopische Motive in der antiken Literatur“; S. 231–259).
2 Zu den Merkmalen antiker Utopien vgl. S. 21f: „Die Idealstaaten werden oft auf entfernten Inseln ins fiktive Leben gerufen, wodurch sie sich völliger Autarkie erfreuen konnten und frei von allen Außeneinflüssen waren, die die Stabilität der idealen Ordnung gefährden würden.“ Die Wirtschaftsweise ist meist einfach und basiert auf Landwirtschaft und Handwerk. In einigen Fällen kommen Frauen- und Gütergemeinschaft hinzu.
3 Insofern ist der Titel etwas irreführend, da sich das Buch mit den „hellenistischen Utopien“ im (nach Winiarczyks Verständnis) eigentlichen Sinn, also etwa den Idealstaatsentwürfen kynischer und stoischer Philosophen (dazu nur S. 18), nicht beschäftigt (worauf Winiarczyk, S. X, auch selbst hinweist).
4 Ael. VH 3,18. Übersetzung von Bernhard Kytzler (Hrsg.), Im Reich des Eros. Sämtliche Liebes- und Abenteuerromane der Antike, Bd. 2, Düsseldorf 2001, S. 674.
5 Diod. 2,47,1 (Übersetzung von Kytzler, Reich, S. 676).
6 Winiarczyk hat Euhemeros bereits 2002 eine eigene Monographie gewidmet: Euhemeros von Messene. Leben, Werk und Nachwirkung, München / Leipzig 2002. Vgl. dazu auch Charlotte Schubert: Rezension zu: Winiarczyk, Marek: Euhemeros von Messene. Leben, Werk und Nachwirkung. München/ Leipzig 2002, in: H-Soz-u-Kult, 26.08.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/AG-2002-028> (30.09.2011).
7 Eine Auflistung der entsprechenden Belege findet sich in Marek Winiarczyk, „Wer galt im Altertum als Atheist?“, Philologus 128 (1984), S. 171.
8 Die Datierungsansätze reichen vom Ende des 4. Jahrhundert bis zum 1. Jahrhundert v.Chr. (vgl. S. 196f). Winiarczyk weist zu Recht darauf hin, dass es sich bei Jambulos um eine Figur der Erzählung handelt, nämlich den fiktiven Reisenden, der später von seinen Abenteuern berichtet, und nicht (notwendig) um den Autor (S. 182f).
9 Diod. 2,57,1 (Übersetzung von Kytzler, Reich, S. 681).
10 Diod. 2,59,2 (Übersetzung von Kytzler, Reich, S. 683).
11 Vgl. S. 11: „Meines Erachtens darf von der Literaturgattung Utopie keine Rede sein, denn Utopie ist eine inhaltsbezogene Kategorie, und die Utopieschöpfer bedienen sich unterschiedlicher literarischer Formen“ (ähnlich S. 219).
12 Vgl. S. 23: „Wenn jemand das Bild einer neuen Gesellschaft entwirft, dann stellt er die real herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse explizite oder implizite an den Pranger.“ Nur wird dieser Gedanke im weiteren Verlauf der Untersuchung wenig verfolgt.
13 Mit der einfachen Feststellung, dass die Utopien „als seelische Antwort auf die Einschränkungen und Nöte der menschlichen Existenz und auf die Frustrationen des Individuums und der Gesellschaft“ zu verstehen seien (S. 13; identisch S. 219), kann das Potenzial der Fragestellung noch keineswegs als erschöpft gelten. Eine Antwort wird zugegebenermaßen dadurch erschwert, dass über den konkreten Entstehungskontext der meisten Texte wenig bekannt ist, doch hätte hier eine Auswertung utopischer Motive in anderen Literaturgattungen sicher weitergeholfen.

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