Cover
Titel
Deviant Women. Female Crime and Criminology in Revolutionary Russia, 1880-1930


Autor(en)
Kowalsky, Sharon A.
Anzahl Seiten
314 S.
Preis
€ 43,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandra Oberländer, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

Mit der Entdeckung des „verbrecherischen Menschen“ an der Wende zum 20. Jahrhundert konstruierten die Human- und Rechtswissenschaften auch die Sonderanthropologie des „verbrecherischen Weibes“.1 Prostitution etwa galt als klassisch weibliches Delikt, Abtreibung und Kindsmord gar als weibliche Verbrechen schlechthin; Versicherungsbetrug oder Banküberfälle hingegen schienen eher eine Domäne der Männer zu sein. Abgesehen vom Kindsmord begingen Frauen angeblich deutlich weniger Morde als Männer. Wenn sie es doch taten, dann mordeten sie „weiblich“ und griffen zum Gift. Das männliche Mordinstrument hingegen war der Revolver; erschießen somit eine reine Männersache. Ähnlich wie ihre westeuropäischen Kollegen versuchten russische Kriminologen, Juristen oder Anthropologen diese Ideen über geschlechtliche Differenzen von Kriminalität seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wissenschaftlich zu belegen. Die Vorstellungswelten dieser Wissenschaftler sind Gegenstand der US-amerikanischen Doktorarbeit Sharon Kowalskys, die nun in einer überarbeiteten Fassung als Buch vorliegt.

Durch das Brennglas der Kriminologie will Sharon Kowalsky die „revolutionäre Transformation“ der russischen Gesellschaft von 1880 bis 1930 veranschaulichen (S. 5). Ein wichtiger Schritt dieser Transformation war die Institutionalisierung der Kriminologie als eigenständiger Wissenschaft seit den 1920er-Jahren. Kriminologie diente den neuen Machthabern als Gradmesser für den Fortschritt hin zum Sozialismus und war zugleich Ausweis darüber, wie lange der Weg dorthin noch sein würde. Schließlich verschwand Kriminalität keineswegs mit dem Anbruch des vermeintlich neuen Zeitalters. Im Gegenteil: Eigentlich war doch jede kriminelle Handlung in den Augen der Bolschewiki ein Schritt zurück, Ausdruck von Rückständigkeit, ein Beweis für mangelhaftes Bewusstsein. Kowalsky sieht weibliche Kriminalität als einen Kristallisationspunkt, an dem Konflikte zwischen neuen sowjetischen Idealen und althergebrachten Traditionen und Vorstellungen über Frau/Familie besonders deutlich hervor traten. Wie wissenschaftliche Interpretationen weiblicher Kriminalität die junge sowjetische Gesellschaft gestaltend veränderten und prägten, ist die leitende Fragestellung von Sharon Kowalskys Untersuchung. Was es bedeutete, „sowjetisch“ zu sein, möchte sie am Beispiel der weiblichen Kriminalität klären. Dafür nimmt Kowalsky mehrheitlich kriminologische, juristische und medizinische Texte aus wissenschaftlichen Zeitschriften in Blick.

Gleichwohl stellt sich die Frage, wie gesellschaftliche Veränderungen in den Blick genommen werden können, wenn der interpretatorische Rahmen auf die doch sehr engen Grenzen des wissenschaftlichen Diskurses beschränkt ist. Wie etwa können „revolutionäre Transformationen“ in der Gesellschaft interpretiert werden, wenn weder die Täterinnen noch die Gesellschaft als Dorfgemeinde, Nachbarschaft oder Zeitungsleser/in eine Stimme haben? Die angekündigte „revolutionäre Transformation“ gerät somit bereits durch die Quellengrundlage des Buches schnell aus dem Blickfeld. Obwohl Kowalsky eine Geschichte der sozialen Veränderung und der Entwicklung von (neuen) Verhaltensnormen schreiben wollte (S. 17), bleibt es vor allem eine Geschichte der Kontinuitäten in der russischen Kriminologie. Weder, so Kowalsky, habe sich weibliche Kriminalität nach den Revolutionen von 1917 substantiell verändert, noch hätten sich in ihrer Interpretation revolutionäre Neuerungen ergeben. Dies lag nicht zuletzt an den personellen Kontinuitäten innerhalb der Wissenschaft. Die meisten der einflussreichen russischen Kriminologen hatten bereits um 1910 intensiv zu weiblicher Kriminalität geforscht und setzten diese Tätigkeit auch unter den Bolschewiki fort. Ihre Interpretationen und Erklärungen weiblicher Kriminalität passten sie nur bedingt den neuen, veränderten Rahmenbedingungen an. Wie im Zarismus verband die Kriminologie Sexualität, Körper und Kriminalität zu einer Typologie der weiblichen Kriminellen. Eine spezifisch sowjetische Note lässt sich bei dieser Betrachtung weiblicher Kriminalität allerdings kaum ausmachen. Die von Kowalsky angekündigte Untersuchung der „revolutionären Transformation“ im Zeitalter der „kulturellen Revolution“ betont lediglich gerne das „Revolutionäre“.

Nachdem Kowalsky im ersten Kapitel die Entstehung der Kriminologie im europäischen Kontext erläutert und im zweiten Kapitel eine Institutionsgeschichte der russischen Kriminologie entwickelt hatte, widmet sie sich der weiblichen Kriminalität und ihrer Erforschung durch Kriminologen dezidiert erstmals im dritten Kapitel. Bereits im zaristischen Russland hatten die meisten Erklärungen weiblicher Kriminalität einen biologistischen Gehalt. Dadurch, dass die Taten der Frauen zumeist mit ihrer reproduktiven Funktion als Frau (Abtreibung und Kindsmord) zusammen hingen, bildete ihre Sexualität häufig den Kern der Erklärung. Selbst die soziologisch inspirierte Schule von Michail Gernet reduzierte weibliche Kriminalität auf die biologischen Funktionen der Frau.

Auch der so genannte Rückständigkeitsdiskurs der Kriminologen in den 1920er-Jahren setzte zaristische Traditionen fort. Im vierten Kapitel behandelt Kowalsky die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen urbaner und ländlicher Kriminalität („geography of crime“). Während die Kriminologen männliche Kriminalität häufig mit Eigentumsdelikten in Verbindung brächten, die typisch für den städtischen (lies: modernen) Raum seien, stehe das Dorf für gewalttätige (lies: rückständigere) Verbrechen. Dass aber nun ausgerechnet Frauen, die angeblich deutlich weniger Verbrechen verübten als Männer und zudem auch qua körperlicher Schwäche eher zu weniger gewalttätigen Methoden griffen, von den Kriminologen mit der ländlichen, gewalttätigeren Kriminalität assoziiert wurden, hält Kowalsky lediglich fest. Frauen verübten qua ihrer Rückständigkeit sogar dann dörfliche Verbrechen, wenn sie bereits seit Jahren in der Stadt gelebt hatten. Diese Aussagen der Wissenschaftler nimmt Kowalsky leider nicht zum Anlass, sich die Konstruktion von (weiblicher) Kriminalität genauer anzusehen, sondern belässt es bei der bloßen Beschreibung dieser Gedanken.

Das fünfte und letzte Kapitel schließlich widmet sich dem weiblichen Verbrechen schlechthin – dem Kindsmord. Dieses Delikt erforschten die Wissenschaftler bereits vor 1917 intensiv, kulminierten doch angeblich in ihm all die klassisch weiblichen Eigenschaften: „weibliche Sexualität, Physiologie, Primitivität, Provinzialität und Unwissen“ (S. 146). Gleichzeitig allerdings war Kindsmord alles andere als weiblich, denn schließlich mussten die Frauen vor der Tat ihre natürlichen mütterlichen Instinkte verloren haben; andernfalls könnten sie ihre Kinder ja nicht töten, so die Vorstellung der Wissenschaftler. Dieser Vorstellung blieben sie auch in den 1920er-Jahren treu, nur dass ihr Unverständnis über Kindsmord noch wuchs. So kritisierten die Kriminologen, dass zu viele Frauen nicht die mittlerweile legalisierte Abtreibung nutzen würden, sondern weiterhin ihre Kinder austrugen, die sie dann unmittelbar nach der Geburt töteten. Dass Abtreibung „moderner“ und „zivilisierter“ sein sollte als Kindsmord, war eine Unterstellung der zeitgenössischen Kriminologen, die die Historikerin Kowalsky mitmacht statt sie zu hinterfragen: Schrieben die Kriminologen nicht über Verhütungsmethoden, und wenn nein, warum nicht? Wäre nicht ein aufgeklärter Umgang mit Sexualität noch wesentlich moderner gewesen und weshalb klammert Kowalsky wiederum diesen Gegenstandsbereich nahezu komplett aus ihrer Untersuchung aus, wenn sie doch selbst immer wieder zum Schluss kommt, dass weibliche Kriminalität sehr oft mit dem Verweis auf die weibliche Sexualität erklärt wurde?

Leider hat sich Kowalsky zu sehr auf die Kriminologen und ihre Texte beschränkt. Ein Blick auf juristische Texte und nicht zuletzt auf die Täterinnen selbst wäre wünschenswert gewesen. Vielleicht hätte man auf diese Weise auch viel eher die „revolutionäre Transformation“ ausmachen können, nach der Kowalsky doch Ausschau halten wollte. Das Beharrungsvermögen der Kriminologen, die sich egal ob vor oder nach 1917 eher an essentialisierenden, auf Sexualität und Körper fokussierten Ideen über weibliche Kriminalität orientierten, wird allemal ausführlich dargestellt und erläutert. Analysiert jedoch wird es leider nicht.

Anmerkung:
1 Karsten Uhl, Das „verbrecherische Weib“. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800-1945, Münster 2003.

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