: Extremely Violent Societies. Mass Violence in the Twentieth-Century World. Cambridge 2010 : Cambridge University Press, ISBN 978-052170681-0 448 S. € 19,95

: Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie. Hamburg 2011 : Hamburger Edition, HIS Verlag, ISBN 978-3-86854-230-1 736 S. € 39,00

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Christian Gudehus, Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen

Randall Collins und Christian Gerlach1, ein Soziologe und ein Historiker, interessieren sich dafür, wie (physische) Gewalt entsteht, unter welchen Bedingungen sie hervorgebracht wird. Collins erklärt Gewalt aus der Mikroperspektive als Ergebnis von Situationen, in denen Emotionen, vor allem Angst, Spannung produzieren, die, wenn eine Reihe weiterer Bedingungen erfüllt sind, zu Gewalt führen können, aber beileibe nicht müssen. Gerlach wählt, gewissermaßen klassisch historiographisch, die Makrosicht und identifiziert gesellschaftliche Konstellationen, in denen kollektive Gewalt wahrscheinlich wird. Beide arbeiten mit Fallstudien und stützen sich dabei zum Teil auf eigene Forschung, zum Teil beruhen sie auf mehr (Gerlach) oder weniger (Collins) intensiver Lektüre entsprechender Literatur. Der eine beschreibt detailliert etwa Schlägereien, Krawalle aber auch Luftkämpfe, also die Gewalt selbst. Der andere widmet sich historischen Ereignissen, die er thematisch fokussiert. So wird die Massengewalt in Indonesien der Jahre 1965-1966 von Christian Gerlach unter der Überschrift „A coalition for violence“ abgehandelt und jene in Bangladesch (1971-1977) als Beispiel für „The crisis of society“ diskutiert.

Womit bereits zentrale Thesen der Arbeit Gerlachs genannt sind. Kollektive Gewalt entsteht erstens wenn es ausreichend machtvolle Akteure gibt, die Interessen haben, die sie meinen mit Gewalt durchsetzen zu können. Diese Interessen können unterschiedlichster Natur sein: Von der Beseitigung des politischen Gegners über die Demonstration von Macht oder der kollektiven bzw. individuellen Bereicherung am Besitz der Verfolgten, bis hin zur puren Lust an der (insbesondere sexuellen) Gewalt. Die Kombination der Motive ganz unterschiedlicher, durchaus nicht nur staatlicher, Akteure ist nach Gerlach zentral für die Intensität der Gewalt, die entsprechend drastisch abnimmt, sobald diese oft nicht einmal formal fixierten Koalitionen der Gewaltakteure bröckeln, da einige ihre Ziele erreicht haben oder ihnen nun andere Strategien opportuner erscheinen.

Zweitens seien gesellschaftliche Gebilde in der Krise anfällig für Gewalt. Als Krise versteht Gerlach langfristige Transformationsprozesse, bei denen Interessen unterschiedlicher Ethnien, Klassen und durchaus auch Religionen – er macht diesen Aspekt besonders stark – nicht über institutionell regulierte Mechanismen ausgehandelt werden können. Hier verweist er auch auf Traditionen von Gewalt, etwa jene gegen Frauen innerhalb regionaler Kulturen, die es verbieten, Massenvergewaltigungen ausschließlich als Ergebnis staatlicher Politik zu deuten. In solchen krisenhaften Gesellschaften komme es zu einem Zusammenbruch von Normen, Ethik und sozialer Kontrolle. Diese Metapher des „Zusammenbruchs“ (breakdowns) überzeugt nur bedingt, ließe sich doch treffender von einer radikalen Verschiebungen normativer Vorstellungen beziehungsweise der Ziele sozialer Kontrolle sprechen. Hier entgeht Gerlach der von ihm sonst ausdrücklich betonte prozesshafte Charakter der Gewalt, was nicht ohne Konsequenzen für seine Interpretationen bleibt. So zählt er seitenweise auf, wie vor allem Türken im Rahmen der Gewalt gegen Armenier (1915-1923) diese betrogen, bestahlen, beraubten, vergewaltigten und mordeten. Als wesentliches Motiv nennt er die Bereicherung selbst; eine Tautologie. Zentral ist doch, dass gestohlen werden darf, sich die Figuration (Norbert Elias) dahingehend verschoben hat, dass es als möglich, legitim und richtig empfunden wird, eben all dies mit diesen Menschen zu tun.2

Genau das sollte doch ein Charakteristikum „Extrem gewalttätiger Gesellschaften“ sein; so lautet eben nicht nur der Titel des Buches, sondern das von ihm in die Diskussion um Massengewalt eingebrachte Konzept. Gerlach will damit insbesondere der seiner Ansicht nach zu sehr auf wenige Faktoren – er nennt unter anderem Intentionalität, Fokussierung auf staatliche Akteure als Täter und Ethnien als Opfer – schielenden Genozidforschung eben ein weit dynamischeres und umfassenderes Konzept entgegensetzen. Einerseits ist das durchaus berechtigt, gibt es doch in diesem Feld tatsächlich immer wieder Diskussionen um entsprechende Definitionen; so auf dem letzten Kongress der International Association for Genocide Scholars (IAGS) im Juli 2011 in Buenos Aires. Denn falls diese lediglich dazu dienen, einige Fälle hinein- oder hinauszudefinieren, ist das analytisch wenig ertragreich. Allerdings gibt es andererseits durchaus den glücklichen Fall, in dem es zu interpretativen Verschiebungen kommt, die ein verändertes Verständnis der zur Rede stehenden Prozesse kollektiver Gewalt ermöglichen; genau das strebt Gerlach schließlich an. Er selbst arbeitet sich interessanterweise kritisch an Daniel Feierstein ab, der mit seiner Definition von Genoziden als intentionale gewaltsame Umformatierungsprozesse von Gesellschaften Vernichtung und Terror als ein weit rationaleres Projekt erscheinen lässt, als dies in etwa auf Rassenwahn fokussierenden Deutungen der Fall ist.3 Gerlach kritisiert Feierstein mehrfach für das intentionale Moment in dessen These: Umbau als Ziel der Gewalt; und setzt dem ein beweglicheres Konzept gegenüber: Umbau und Gewalt sind in mehrfacher Hinsicht verknüpft. Hunger beispielsweise ist nicht zwangsläufig Waffe, sondern durchaus auch Produkt misslingenden ökonomischen Wandels einhergehend mit Verteilungspolitiken, in denen Konfliktlagen und Machtkämpfe zum Ausdruck kommen, produziert jedoch nicht selten mehr Opfer als unmittelbare physische Gewalt. In solchen Fällen seien Konzepte wie Intentionalität nur bedingt verständnisfördernd.

Gerlach argumentiert aber noch weitaus radikaler. Die so genannte Modernisierung von Gesellschaften erfordere massive kulturelle und ökonomische Umbaumaßnahmen, die zu großen Teilen durch die Unterbewertung agrarischer Arbeit und die Zerstörung traditionaler Lebensweisen erreicht werde. Beides ziehe massive Migrationsprozesse, Hunger, De-solidarisierung, Werteverschiebungen und Ähnliches nach sich. Gewalt sei also eine nicht zwangsläufig intendierte Folge des Umbaus. Zugleich werden traditionale Strukturen, das weist Gerlach materialreich nach, bewusst gewaltsam zerschlagen. Dass es tatsächlich zur Gewalt innerhalb dieser großgesellschaftlichen Gemengelage kommt, liegt jedoch vor allem daran, dass diese konkrete Chancen bietet – und sei es nur, sich die Konkurrenz vom Leib zu halten. Diesen avancierten und diskussionswürdigen Thesen steht, vermutlich disziplin- und perspektivenbedingt, ein fast schon anachronistischer Verzicht auf die Analyse und Bedeutung von Gewalt für die ausübenden Akteure gegenüber, die für ein umfassendes Verständnis solcher Prozesse unersetzlich ist.

Randall Collins wiederum verzichtet fast gänzlich auf historisch-politische Kontextualisierungen und wendet sich eben genau der Ausübung von Gewalt zu. Er geht davon aus, dass Menschen grundsätzlich emotional und auch technisch – sie können beispielsweise schlicht nicht kompetent schlagen – Probleme haben, Gewalt auszuüben und kann das insbesondere für unprofessionelle Gewalt wie auch für das Handeln von institutionellen Akteuren wie Polizei und Militär überzeugend nachweisen. Dass Gewalt in solchen Konstellationen überhaupt entsteht, sieht er in Spannungen begründet, die sich situativ entwickelt haben und für die es auf anderem Wege keine für die Beteiligten in der Situation tolerierbare Entladung gab. Zumeist nämlich kommt es nicht zum Gewaltausbruch, es bleibt bei Drohungen, die sich nicht nur an den Gegner richten, sondern auch an das Publikum adressiert werden. Dessen Reaktion wiederum ist bedeutsam für den weiteren Verlauf: kann der Akteur die Situation ohne einen für ihn unakzeptablen Verlust an sozialer Anerkennung verlassen? Wie hoch sind die Verlust- und Gewinnchancen innerhalb der Situation im Hinblick auf körperliche und soziale Unversehrtheit?

Im Hinblick auf Gewalt, die aus Gruppen hervorgeht, beispielsweise Demonstranten gegen uniformierte Autoritäten, wird die alle Akteure verbindende Dynamik noch deutlicher. Aktiv üben auf Seiten der Zivilisten nur Einzelne Gewalt aus. Sie täten diese jedoch nicht, wären sie allein, gäbe es nicht eine Menge, die als Schutz und Zustimmungsraum fungiert, die performativ einen vom Alltag veränderten normativen Rahmen schafft. Ob Gewalt ausbricht hat weiter damit zu tun, ob eine der Seiten Schwächen zeigt, zurückweicht und somit denjenigen, die Gewalt ausüben wollen, den Raum eröffnet, kommt es doch selten zwischen gleichstarken Kontrahenten zur Gewalt. Vielmehr sind es in der Regel Starke, die Schwächere attackieren.

Im Zentrum seiner Argumentation steht das Konzept der „Vorwärtspanik“. Ausgangspunkt ist eine Situation, in der eine mit Angst verbundene Spannung herrscht. Die Akteure, beispielsweise Soldaten oder Polizisten, fühlen sich bedroht, die Spannung wächst bis plötzlich eine Handlung möglich wird, die dann, so Collins, keine vollständig kontrollierte und damit „angemessene“ Aktion hervorbringt, sondern panikartiges und daher eben übermäßig gewalttätiges Handeln. Gewalt ist also eine Reaktion auf Angst. Collins geht sogar so weit, massenhaftes Morden, Plündern und Vergewaltigen als Folge dieser Vorwärtspanik zu verstehen. Am Beispiel der von Japanern in Nanking verübten Gräuel im Jahreswechsel 1937-1938 beschreibt er eine Dynamik der Gewalt, die ihren Anfang darin genommen habe, dass die japanischen Truppen zwar die Stadt besetzt hielten, sich aber einer massiven Überzahl chinesischer Soldaten, von denen einige Kriegsgefangene waren, andere sich in Stadt versteckten, gegenüber gesehen hätten. Als Reaktion auf dieses „logistische Problem“ sei der Befehl ergangen, die Gefangenen massenhaft zu erschießen. Die dann folgenden massenhaften und extrem brutalen Plünderungen, Morde und Vergewaltigungen der Zivilbevölkerung seien als durch den Mordbefehl ausgelösten Kontrollverlust der Führung zu deuten. Solche Übertragungen seiner Kernthese auf historische Ereignisse – er untersucht hier bemerkenswerterweise keine konkreten Situationen mehr – sind kritisch zu diskutieren, aber doch anregend, da sie bisher vernachlässigte Elemente in die Diskussion bringen.

Überhaupt ist sein Buch genau deshalb zu empfehlen, weil es ein reiches Repertoire an Verstehens- und Deutungsweisen menschlichen Handelns präsentiert, das insbesondere in der historiographischen Gewaltforschung bisher wenig zur Kenntnis genommen worden ist. Auch Christian Gerlach, obgleich das Buch eine Fundgrube ist, schreibt wenig über die Schwierigkeiten, kompetent Gewalt auszuüben oder wie sich Gewalt dynamisiert oder welche psychologischen Funktionen sie jenseits jener hat, Mittel zur Erreichung von Zwecken zu sein. Dies liegt am unterschiedlichen Fokus und ist daher weniger Kritik an seiner Arbeit, als Anregung an zukünftige Forschung, noch stärker verschiedene und auf unterschiedlichen Ebenen operierende Ansätze zu integrieren. Nur so erscheint ein umfassendes Verständnis von Gewalt möglich. Was beide Autoren eint, ist die detaillierte empirische Arbeit, die Gerlach als auch Collins Ideologie als wichtigsten Gewalt hervorbringender Faktor verneinen lässt.

Anmerkungen:
1 Deutsche Ausgabe des hier besprochenen Buchs: Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert. Aus dem Amerikan. von Kurt Baudisch, München 2011.
2 Herausgearbeitet hat genau dies Michaela Christ, Die Dynamik des Tötens, Die Ermordung der Juden von Berditschew. Ukraine 1941-1944, Frankfurt am Main 2011.
3 Daniel Feierstein, Genocidio como práctica social. Entre el nazismo y la experiencia argentina, Buenos Aires 2007.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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