Titel
Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen. Mit einem Katalog der Kunstwerke aus deutschen Sammlungen im Musée Napoléon


Autor(en)
Savoy, Bénédicte
Erschienen
Anzahl Seiten
500 S., zahlr. Abb., 1 CD-ROM
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Hattendorff, Institut für Kunstpädagogik, Justus-Liebig-Universität Gießen

Dass Museen keine statischen Gebilde sind, wird nicht zuletzt dann deutlich, wenn diese in den Strudel militärischer Auseinandersetzungen geraten. Ein in dieser Hinsicht spektakulärer Fall aus der Zeit der Anfänge dieser öffentlichen Bildungsinstitution ist zweifelsohne das im Zuge der Französischen Revolution im Pariser Louvre eingerichtete Musée des Arts, das bald den Namen „Musée Napoléon“ erhielt. Nach dem Sturz Napoleons, der durch die militärischen Interventionen einer Koalition europäischer Mächte herbeigeführt wurde, gingen der Sammlung herausragende Objekte, unter anderem der Laokoon und der Apoll von Belvedere, verloren; diese und eine Vielzahl weiterer Werke unterschiedlicher Gattungen verdankten ihr Vorhandensein in Paris jedoch selbst französischen Beschlagnahmungen und Plünderungen im Zuge der Revolutionskriege und der napoleonischen Kriege.

In dem vorliegenden Band werden diese Zusammenhänge ausführlich erörtert, allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung: Unter dem Titel „Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen“ diskutiert die Autorin Bénédicte Savoy die französischen Konfiszierungen von Kulturgütern im deutschsprachigen Raum; die analogen Aktionen auf der italienischen Halbinsel werden nur hinsichtlich ihrer zeitgenössischen Rezeption in Deutschland reflektiert. Das umfangreiche Werk stellt die um einen Tafelteil ergänzte deutsche Übersetzung der französischen Erstausgabe von 2003 dar, die in der Reihe „Passages / Passagen“ des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris publiziert wurde.1 Die Erstveröffentlichung wird dadurch überboten, dass eine CD-ROM mit einer Rekonstruktion der 1807/08 im Louvre präsentierten Ausstellung der in Deutschland beschlagnahmten Werke beigelegt ist. Zwar handelt es sich auch hier lediglich um eine Übersetzung des zweiten Bandes der französischen Ausgabe, das PDF-Dokument bietet jedoch die Möglichkeit der Volltextsuche.

Die Beschränkung der Materialbasis auf den deutschsprachigen Raum folgt nachvollziehbaren Motiven. Savoy legt dar, dass Deutschland „der einzige europäische Kulturraum [ist], der alle Phasen der Beschlagnahmung seit dem Jahre II der revolutionären Zeitrechnung erfahren hat.“ (S. 17) Da hier der Kunstraub in quantitativer Hinsicht besonders bedeutsam gewesen sei, ließen sich die französischen und deutschen Diskurse um diese Ereignisse besonders klar nachvollziehen. Dies gelte nicht nur für die Zeit bis 1815, sondern auch darüber hinaus, da die Rückführung des Raubgutes nach der Niederlage Napoleons in der deutschen nationalen Rhetorik bis zum Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle gespielt habe.

Savoy widmet sich ihrem Gegenstand mittels dreier voneinander geschiedener inhaltlicher Blöcke, die mit „Akteure“, „Meinungen“ und „Objekte“ überschrieben sind. In dieser inhaltlichen Gliederung dürften sich strukturanalytische Präferenzen aussprechen, allerdings dominiert innerhalb dieser Blöcke eine quellenbasierte Darlegung der Ereignisse in chronologischer Ordnung. Durch diese Herangehensweise ergeben sich in den drei Teilen zwangsläufig Wiederholungen, doch sollte man diese Redundanzen nicht als darstellungstechnisches Negativum werten. Sie sind vielmehr das Resultat einer gründlichen, multiperspektivischen Analyse des gewählten Gegenstandes, in deren Rahmen vor allem eines deutlich wird: die Vielfalt und die Verschiedenartigkeit der Episoden, Motive und Bewertungen, die sich mit dem schlagwortartig als Kunstraub bezeichneten Gesamtereigniskomplex verbanden. In Savoys gewissenhafter Darstellung des Ereignisdickichts sind zudem an den entsprechenden Stellen Analysen, Bewertungen, Interpretationen und Einordnungen eingefügt, die meist plausibel scheinen; dies und die schiere Fülle der referierten Einzelheiten und nicht zuletzt die Leistung, die etwa in die Rekonstruktion der oben erwähnten Ausstellung im Louvre eingegangen ist, machen das vorliegende Werk zu einem unverzichtbaren Referenzpunkt und Werkzeug etwa für zukünftige Auseinandersetzungen mit revolutionärer und napoleonischer Kulturpolitik.2

Dass die komplexen Zusammenhänge, die das Buch zu rekonstruieren versucht, mitunter Sachkenntnisse zu einer solchen Vielzahl von Gebieten verlangen, dass ein Autor diese nicht alle mitzubringen vermag, wird von Savoy ohne Umschweife und wiederholt eingeräumt. So erklärt sie sich beispielsweise nicht zuständig für eine Beurteilung der Anstrengungen, die in Paris in Sachen Restaurierung der geraubten Kulturgüter unternommen wurden. Und in der Tat: Ihre einhellig positive Beurteilung der französischen Restaurierungen der Zeit entspricht sicher nicht dem heutigen Stand (vgl. S. 324f.). Eine in dieser Hinsicht kritische Perspektive hätte einbezogen werden können, doch spricht es letztlich nicht gegen das in Rede stehende Buch, wenn innerhalb der einmal gewählten Form der Darstellung Wünsche offen bleiben. Der enorme Faktenreichtum der Untersuchung sollte vielmehr zu vielfältigen und weiterführenden Überlegungen aus dem Blickwinkel diverser Disziplinen anregen.

Wie könnten solche weiterführenden und tiefer dringenden Überlegungen aussehen? Jenseits aller Partikularinteressen hätte man sich vor allem gewünscht, dass den drei Hauptteilen der Arbeit ein substantielleres Schlusskapitel gefolgt wäre (vgl. S. 407-409). Die Untergliederung in „Akteure“, „Meinungen“ und „Objekte“ weckt, wie gesagt, die Erwartung, dass jenseits einer positivistischen Darstellung von Abläufen und Zusammenhängen auch Strukturen analysiert werden. Eine solche Analyse findet aber nur vereinzelt und verstreut statt, nicht jedoch systematisch und von einer höheren Warte der Interpretation aus.

Jeder Leser wird darüber hinaus angesichts der Fülle der vorgetragenen Fakten eigene Präferenzen für eine vertiefte Auseinandersetzung formulieren. Vor allem und nicht nur aus kunsthistorischer Sicht sind sicher zwei Problemkomplexe besonders interessant. Savoy legt dar, dass Kunstwerke, die im deutschsprachigen Raum entwendet wurden, durch ihre Eingliederung in das Musée Napoléon eine bedeutende Wertsteigerung, vor allem auch in ideeller Hinsicht, erfuhren. Diese Wertsteigerung ist auch so zu verstehen, dass ein Begriff von kostbarem nationalem Kulturbesitz oder Erbe durch den Kunstraub forciert ausgebildet wurde. Dieses Faktum wird von Savoy zwar im Verlauf ihres Buches vielfältig kommentiert, doch hätte man sich dringend eine stärker thesenhafte Zuspitzung (die man der Arbeit auch hätte voranstellen können) und eine vergleichende historische Diskussion dieses Aspektes gewünscht. Unmittelbar verbunden mit der Frage nach dem kausalen Zusammenhang zwischen Kunstraub und der Idee eines nationalen Kulturerbes ist die Frage nach dem Kulturtransfer, den das Verbringen der Kunstwerke von Deutschland nach Frankreich, deren Ausstellung und Kommentierung dort und der Diskurs um das verlorene und schließlich wiedergewonnene Erbe im deutschsprachigen Raum darstellte. In der Einleitung wird folglich als Leitfrage formuliert: „Sind die von Frankreich in Deutschland durchgeführten massenhaften Transfers von Kunstwerken und Büchern auch zur Grundlage eines tieferen Kulturtransfers geworden? Und kann dieser Kulturtransfer, wenn er denn stattgefunden hat, zu einem besseren Verständnis der gemeinsamen Basis der europäischen Geschichte beitragen?“ (S. 20) Dass eine Antwort auf diese Frage nicht gegeben beziehungsweise die Problemstellung nicht systematisch erörtert wird, gehört dann doch zu den Enttäuschungen, die einem Savoys Buch bereitet. Nachteilig mag sich in dieser Hinsicht auswirken, dass unter „Meinungen“ vor allem deutsche Stimmen zu Wort kommen. Savoys kurze Schlussbemerkungen zum Thema berühren zumindest eher das Faktum, nicht die Qualität des Transfers.

Der Kunstraub des revolutionären und des napoleonischen Frankreichs muss also auch künftig Gegenstand historischer Forschung sein; sicher ist aber auch, dass Savoy mit ihrer nun auch auf Deutsch vorliegenden Studie eine unverzichtbare Aktualisierung der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieses Problems geliefert hat. Dass Savoy für die deutsche Übersetzung auf eine Einarbeitung der nach 2003 erschienenen Literatur verzichtet hat, da man anderenfalls einen neuen Text hätte schreiben müssen, zeigt, dass auf diesem Forschungsfeld aktuell viel im Fluss ist.

Anmerkungen:
1 Bénédicte Savoy, Patrimoine annexé. Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800, 2 Bde., Paris 2003.
2 Zur napoleonischen Kunstpolitik siehe etwa auch Jean-Claude Bonnet (Hrsg.), L’Empire des muses. Napoléon, les arts et les lettres, Paris 2004.

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