Titel
The Impossible Border. Germany and the East, 1914-1922


Autor(en)
Sammartino, Annemarie H.
Erschienen
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
$ 39.95
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Julia Eichenberg, Department of History, University College Dublin

Annemarie Sammartino hat mit ihrem Buch eine kurze und sehr gut lesbare Studie zur deutschen Ostgrenze 1914-1922 vorgelegt. Damit bedient sie mehrere derzeit aktuelle Forschungsfelder: Den Weltkrieg im Osten, die Ausweitung der klassischen Weltkriegsperiodisierung auf die Nachkriegsjahre, Konflikte und Staatsbildung in ethnisch gemischten Grenzgebieten, sowie die Diskussion über das Wesen von Staat und Staatlichkeit anhand der Themen Staatsbürgerschaftsgesetzgebung und Migration. Das kurz und knapp verfasste Buch (205 S. Text), das auf ihrem 2004 eingereichten PhD beruht, ist anhand thematischer Kapitel klar strukturiert. Sammartinos Gesamtthese: Die Ostgrenze war zugleich Symbol, Resultat und Auslöser einer Souveränitätskrise der jungen deutschen Republik. Diese sei wiederum in eine generalle europäische Souveränitätskrise eingebettet gewesen, welche die staatliche Stabilität und Souveränität in der Nachkriegszeit erschütterte (S. 4). Migration sieht Sammartino als Auslöser wie Symptom der Krise; neben den anderen „dimensions of crisis“: 1) Instabiles Verhältnis zwischen Staat und kontrolliertem Territorium, 2) allgemeine Unsicherheit der Grenzen, 3) tiefe und bittere politische Klüfte, die nach 1918 aufbrechen, 4) zunehmende Betonung von „Volk“ als Legitimationsquelle sowohl für als auch gegen den Staat (S.13).

Diese These behandelt Sammartino in den verschiedenen Fallbeispielen ihrer Kapitel: Sie diskutiert in Kapitel 1 Krieg und Migration anhand der Entwicklung von Staatsbürgerschaftsfragen vor dem Krieg über das Entstehen einer gesellschaftlichen Kriegskultur bis zu Brest-Litowsk und dessen Nachwirkungen. Dieses Kapitel ist neben einem weiteren zum Thema "Kriegsgefangenschaft" (Kap. 6) das einzige, welches das tatsächliche Kriegsgeschehen berücksichtigt: Obwohl das Buch laut Titel den Zeitrahmen 1914-1922 abdeckt, befassen sich alle anderen Kapitel mit der Nachkriegszeit. Das Kapitel bringt einige deutschlandbezogene interessante Einsichten, bleibt jedoch leider insgesamt im Vergleich zu den etwa von Peter Gatrell und Joshua Sanborn diskutierten Auswirkungen von Migration auf Staat und Gesellschaft zurück.1 Das zweite, deutlich stärkere Kapitel ist den Aktivitäten der Baltischen Freikorps gewidmet, ihren Siedlungsbestrebungen im Baltikum und gewalttätigen Ausschreitungen gegenüber der Zivilbevölkerung. Die Gewalt erklärt Sammartino vor allem mit Enttäuschung: über den verlorenen Krieg, über die Aussichtslosigkeit der eigenen sozialen Stellung in Deutschland, und schließlich über den "Verrat" der lettischen Regierung, versprochene Siedlungsprojekte nicht umzusetzen. Mit einem Freikorps-Zitat "We were the Border", ein Ausdruck der "mixture of opportunity and despair", verdeutlicht die Autorin, dass die Freikorps-Kämpfer sich zugleich als Außenposten wie auch als Schutz und Kontrolle der deutschen Nation insgesamt verstanden (S. 63). Dies stachelte ihr übersteigertes Selbstwertgefühl an und beschleunigte die Gewaltspirale, die sich gegen die lokale Bevölkerung aber auch gegen eigene Mitglieder richten konnte (S. 67). Dennoch bezieht Sammartino deutlich Stellung gegen zu direkte Kontinuitätslinien zwischen der Gewalt der Freikorps und dem Aufkommen des Nationalsozialismus – und geht somit konform mit der aktuellen Forschung, die diese Interpretation weitgehend als Mythos entlarvt hat (S. 47).2

Aber auch friedliche Siedler trugen zur Konstruktion des deutschen Bildes vom Osten bei. Sammartino diskutiert in Kapitel 3 die „Ansiedlung Ost“ als Versuch einer sozialistischen Utopie, die von offizieller Seite als Möglichkeit gesehen wurde, deutsches Revolutionspotential zu externalisieren. Die Enttäuschung über ihr Scheitern habe zu einer generellen Ernüchterung angesichts deutscher Politik und zu Frustrationsgefühlen gegenüber dem Osten geführt. In diesem Kapitel, vielleicht einem der stärksten des Buches, ergänzt die Autorin das bisher stark von Liulevicius geprägte Bild der deutschen Erfahrung des Ostens um eine nicht kämpferische Komponente.3

In Kapitel 4 wendet sich Sammartino der Immigration der deutschen Minderheit vom nun polnischen Staatsgebiet nach Deutschland zu. Aufgrund der hohen Kosten, sowie der Tatsache, dass die Abwanderung aus Polen deutsche Ansprüche auf das verlorene Territorium untergrub, wurde diese vor allem von Konservativen abgelehnt, die für eine Vereinigung des "deutschen Staatskörpers" eintraten (S. 110). Diese Einstellung wurde bald Mainstream deutscher Politik. Die von Polen erhobene Emigrationssteuer wurde selbst vom Deutschen Roten Kreuz als Mittel begrüßt, um den Exodus einzudämmen (S.111). Leider wird der Titel des Kapitels, "We who suffered most", von Sammartino nicht zeitgenössisch belegt. Er klingt hingegen erstaunlich vertraut nach der Charta der Heimatvertriebenen von 1950 („vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen“) und sollte daher im angemessenen zeitlichen Kontext diskutiert werden.

Mit der Problematik der Flüchtlinge eng verbunden ist die breitere Frage der Grenzkontrolle. Da die Ostgrenze als chaotisch und durchlässig galt, wurde sie für eine Verschärfung des "Judenproblems" verantwortlich gemacht und so zum Ausdruck staatlichen Scheiterns. Den schnellen Anstieg der Einwanderung von "Ostjuden" macht Sammartino für die Verschärfung des bereits existierenden Antisemitismus in Deutschland verantwortlich (S. 135ff.). Hier nähert sich die Autorin Liulevicius’ These über die Ursprünge des nationalsozialistischen Antisemitismus in der Konfrontation deutscher Soldaten mit "Ostjuden" in Oberost an, erweitert diese jedoch um die Immigration nach Deutschland, bleibt aber leider oft noch zu vage in ihrer Analyse.

Neben dem „Judentum“ wurde die vermeintliche Bedrohung aus dem Osten mit der Gefahr des Bolschewismus gleichgesetzt. Mit russischen Kriegsgefangenen gelangten Repräsentanten des "Bolschewismus" auf deutschen Boden, weshalb die Kriegsgefangenenlager von der Bevölkerung mit großem Argwohn betrachtet wurden (Kapitel 6, S. 138, 140). In Anlehnung an Etienne Balibar spricht die Autorin hier von einer Bedrohung sowohl der äußeren/physischen als auch der inneren Grenze zum Schutz der Nation (S. 138). Dies bleibt eine der seltenen theoretischen Annäherung Sammartinos an das Thema Grenze, was bedauernswert ist, hätte doch unter anderem eine Auseinandersetzung mit Jürgen Osterhammels Grenzdefinitionen das Buch bereichert.4

In den letzten beiden Kapiteln diskutiert die Autorin die Naturalisierungs- und Staatsbürgerschaftsgesetzgebung und die Fragen von Asyl und Asylberechtigung, wiederum mit einigen interessanten Argumenten, erneut leider ohne näher auf grundlegende Studien zum Thema einzugehen.5 Auch eine Auseinandersetzung mit Conrads Thesen zur deutschen Wahrnehmung polnischer Arbeitsmigration wäre wünschenswert gewesen.6 Im abschließenden Kapitel werden Asylfragen anhand russischer und jüdischer Immigranten diskutiert. Dabei seien erstere vor letzteren aufgrund einer imaginierten "Schicksalsgemeinschaft" des Leidens bevorzugt worden (S. 194). Das darauf begründete "Gastrecht" wurde jedoch im Zuge von Gewalttaten unter den Emigranten (beispielsweise den "Nabokov-Mord“) wieder in Frage gestellt.

Insgesamt handelt es sich bei der vorliegenden Studie um ein gut lesbares Buch, das interessante und wichtige Fragen der Epoche berührt. Doch bleiben Leerstellen, die wohl vor allem der Kürze des Buches angesichts einer sehr umfangreichen Problematik geschuldet sind. Chronologisch behandelt das Buch weniger den im Titel angesprochenen Krieg selbst als vielmehr die Nachkriegszeit. Auch bleibt "der Osten" einzig Gegenstand deutscher Wahrnehmung; kaum einmal werden Politik und Reaktionen der angrenzenden osteuropäischen Staaten diskutiert. Die Aussage, dass mit dem Ende des Ersten Weltkrieges der deutsche Expansionswille nach Osten erwacht sei (S. 204), scheint angesichts der langen Geschichte deutscher Ostexpansion fragwürdig.

In Anlehnung an Hannah Arendt konstatiert Sammartino, dass "the imagined unity of nation, state and territory that had been the foundation of the European political imaginary was shattered during 1914-1922" (S. 3). Hier sieht Sammartino die "crisis of sovereignty", in der Krieg, Niederlage, Revolution, und Bevölkerungsbewegung insbesondere in Osteuropa die Verbindungen zwischen Territorium, Nation und Staat schwächten. Grenzen wurden so zu Symbolen und Orten der Krise (S. 3) und "symbol of political impotence and ideological incoherence" der Weimarer Republik (S. 203). Während diese These für Deutschland einleuchten mag, hätte Sammartinos Ausweitung auf eine "European crisis of sovereignty" ausführlicherer Beweisführung bedurft. Diese Diskussion bleibt somit anderen überlassen, Sammartino liefert jedoch einen lesenswerten Einstieg in die wichtige Auseinandersetzung mit Deutschlands Beziehung zum Osten in der unmittelbaren Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs.

Anmerkungen:
1 Peter Gatrell, A Whole Empire Walking. Refugees in Russia during World War 1, Bloomington 2005; Josh Sanborn, Unsettling the Empire. Violent Migrations and Social Disaster in Russia during World War I, in: Journal of Modern History 77, no. 2 (June 2005), S. 290-324.
2 Z.B. Robert Gerwarth, The Central European Counterrevolution. Paramilitary Violence in Germany, Austria and Hungary after the Great War, in: Past and Present, 200 (2008), S. 175-209.
3 Vejas Gabriel Liulevicius, War Land on the Eastern Front. Culture, National Identity and German Occupation in World War I, (Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare, 9), Cambridge 2000.
4 Jürgen Osterhammel, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, insbesondere S. 210ff.
5 V.a. Dieter Gosenwinkel, Einbürgern und ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001.
6 Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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