T. Großbölting u.a. (Hrsg.): Der Tod des Diktators

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Titel
Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Großbölting, Thomas; Schmidt, Rüdiger
Erschienen
Göttingen 2011: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Bruendel, Ruhr-Universität Bochum / E.ON Ruhrgas AG, Essen

Beim „Wegfall der Person des Charismaträgers und der nun entstehenden Nachfolgerfrage“, so Max Weber, richtet sich das Interesse des Machtapparats auf die Fortdauer bzw. „Neubelebung“ der charismatischen Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten. Dabei geht es vor allem darum, „die eigene Stellung ideell und materiell auf eine dauerhafte Alltagsgrundlage“ zu bringen.1 Insofern ist der Umgang mit dem Tod eines Herrschers und mit seinem Leichnam stets ein symbolischer Akt von hoher macht- und gesellschaftspolitischer Bedeutung. Denn der Kampf um die Nachfolge ist nicht nur ein Machtkampf, sondern zugleich ein Kampf um die politische Deutungshoheit. Diese schließt die unmittelbare Vergangenheit ebenso ein wie die an die Zukunft gerichteten Erwartungen. Das gilt grundsätzlich für alle Staatsformen, wenngleich Demokratien für den Herrschaftswechsel formale Verfahren vorsehen und der Zusammenhang zwischen Person und Amt bzw. Macht weniger stark ist als in personalisierten Herrschaftsgefügen. Gleichwohl ist, wie die an der Universität Münster lehrenden Herausgeber Thomas Großbölting und Rüdiger Schmidt zu Recht betonen, der Tod eines Mächtigen zumeist ein medial reflektiertes „Massenereignis“. Staatsbegräbnisse sind in allen politischen Systemen ein „hochoffizielles und zeremoniell überformtes Ritual“ (S. 7).

Wie die Machtapparate prominenter Diktatoren des 20. Jahrhunderts auf das Ableben des Herrschers reagierten, möchten die Herausgeber anhand von 15 historischen Fallbeispielen beleuchten. Die verschiedenen Beiträge zeigen, dass der Tod von Diktatoren oft mehr ist als ein bloßer Herrschaftswechsel: „Er konnte den Übergang auf einen Nachfolger bedeuten oder [...] den Umbruch des gesamten Systems.“ (S. 9) Beim Tod des Diktators musste der Führungszirkel „auf eine Legitimationslücke reagieren und versuchen, diese zu schließen“ (S. 10). Die Fallstudien, die gemäß den jeweiligen Todesdaten der Herrscher chronologisch geordnet sind, umfassen eine Zeitspanne von fast 200 Jahren. Dabei bezieht sich nur der Beitrag zu Napoleon auf das 19. Jahrhundert. Der französische Usurpator, dessen Regiment unlängst als rücksichtslos und aggressiv gedeutet wurde2, wird berücksichtigt, weil seine Herrschaft verschiedene Verfassungsformen ausprägte und somit nach Hans-Ulrich Thamer als „Laboratorium der Moderne“ gelten kann (zit. im Aufsatz von Rüdiger Schmidt, S. 13). Die Beiträge beleuchten primär die Tode europäischer Diktatoren. Immerhin rücken mit Mao und Ho Chi Minh auch zwei asiatische sowie mit Idi Amin, Saddam Hussein und Augusto Pinochet jeweils ein afrikanischer, arabischer und lateinamerikanischer Diktator in das Blickfeld. Damit sind zumindest diejenigen außereuropäischen Diktatoren berücksichtigt, die zu ihrer Zeit – wenn auch mit Abstufungen – weltpolitische Bedeutung erlangt haben.

Die Auswahl der Diktatoren wird von den Herausgebern allerdings nicht reflektiert. Welche Kriterien ihr zugrunde lagen, erfährt der Leser nicht. Dass es sich zum Teil um grundverschiedene Staatsformen handelte und um sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, von denen einige in ihren Länder keineswegs als ‚Diktatoren’ galten oder bis heute gelten, wird ebenfalls nicht thematisiert. Gleichwohl ist es sinnvoll, dass Hitler diesen autoritären Staatsführern zugeordnet wird, ohne zu debattieren, ob dies die ‚Einzigartigkeit’ des Nationalsozialismus relativiere. Das entspricht der neueren Forschung, die längst die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Verbindungslinien der europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts differenziert herausgearbeitet hat.3

Leider werden die Fallstudien lediglich additiv präsentiert, das heißt ohne Typologisierung oder Klassifizierung. Dabei hätte sich eine stärkere Systematisierung angeboten, da beispielsweise die spezifischen Rahmenbedingungen das Ableben der jeweiligen Diktatoren beeinflussten: So waren es verlorene Kriege oder Revolutionen, die zum gewaltsamen Tod von Mussolini, Hitler, Ceauşescu und Hussein führten, während etablierte bzw. siegreiche Diktatoren wie Stalin, Franco und Mao erst im hohen Alter und im Amt verstarben. Folgerichtig wurde auch mit den Leichnamen sehr unterschiedlich verfahren: Während die Leiche Mussolinis geschändet und erst sehr spät endgültig bestattet wurde, wie Verena Kümmel spannend darlegt, sollte von Hitler auf eigenes Geheiß nichts übrig bleiben. Dies nährte zunächst allerhand Spekulationen über seinen Verbleib, die Hans-Ulrich Thamer anhand der sowjetischen „Operation Mythos“ ausführlich schildert. Demgegenüber ließ sich Franco in einem nach eigenen Plänen errichteten monumentalen Siegesdenkmal unweit von Madrid bestatten, während Maos Leichnam nach sowjetischem und vietnamesischem Vorbild in einem Mausoleum ausgestellt wurde. Insofern wäre auch ein komparativer Ansatz bezüglich der politischen Testamente der Diktatoren oder im Hinblick auf ihren selbstgestalteten bzw. den von ihren Nachfolgern verordneten Totenkult erhellend für das Verständnis der „Diktatorenkulte“ (S. 9) gewesen.

Zudem hätte sich ein vergleichender Blick auf die langlebigen, aber kranken Diktatoren gelohnt. Wie Benno Ennker erläutert, wurde Lenin unter „politische Quarantäne“ gestellt (S. 42), während Stalin und Franco bis zuletzt die Zügel in der Hand hielten und noch in der Stunde ihres Todes Angst und Schrecken verbreiteten: Trauten sich 1953 die Bediensteten stundenlang nicht an den toten Kremlchef heran, wie Klaus Kellmann ausführt, wartete 1975 „ganz Spanien“ auf den Tod des Caudillos, über den jedoch öffentlich, so Walther L. Bernecker, „weder gesprochen noch geschrieben werden durfte“ (S. 165). Anders war der Umgang mit den früheren Machthabern, wenn sie noch zu Lebzeiten abgesetzt wurden. Entweder wurden sie faktisch und symbolisch marginalisiert (wie Ulbricht), oder sie gingen ins Exil (wie Idi Amin). Erkenntnisgewinne hätte auch ein Blick auf das zum Teil zwiespältige Verhalten der Bevölkerung nach der Entmachtung oder dem Tod des Diktators bieten können: So reagierten weite Teile der Serben auf Milošević’ Überstellung nach Den Haag mit einem „Festklammern an Opfer-Mythen“ (S. 271), während der „lange Schatten“ Pinochets (S. 277) dazu führte, dass immerhin 60.000 Chilenen an seinem Todestag von ihm Abschied nahmen.

Diese Beispiele zeigen, dass fehlende übergeordnete Fragestellungen den Nutzen des Buches beschränken. Die allzu kurze Einleitung wird den Fallstudien nicht gerecht und liefert keinen analytischen Rahmen für die Beiträge. Zwar beziehen sich die Herausgeber auf Ernst Kantorowicz und Max Weber (S. 9), nutzen aber weder Kantorowicz’ Betrachtungen über die „Die zwei Körper des Königs“4 noch Webers Charisma-Konzept zur systematischen Durchdringung der einzelnen Studien. Dabei hätte man mit Webers Methodik die der charismatischen Herrschaft inhärente Tendenz zur „Veralltäglichung“ ebenso trennscharf herausarbeiten können wie deren Traditionalisierung oder Legalisierung, also Umwandlung in monarchische oder demokratische Staatsformen nach dem Ableben des Charismatikers. Auch die „Nachfolgerdesignation“ oder die Versuche einer „Umdeutung“ bzw. Übertragung des Charismas auf die Position („Amtscharisma“) oder auf den Nachfolger hätte man mit Webers Kategorien vergleichend untersuchen können.5 Trotz dieser Kritikpunkte ist es ein sehr lesenswertes Buch mit erhellenden Beiträgen, die sowohl das Ereignis des Todes und dessen institutionelle Folgen als auch die Erinnerungskultur gut lesbar und substantiiert beleuchten. Sie bringen den Leser auf weiterführende Fragen und mögen dadurch die vergleichende Forschung beflügeln.

Anmerkungen:
1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie [1921/22], 5. Aufl. Tübingen 1980, S. 143.
2 Vgl. die Ausstellung „Napoleon und Europa. Traum und Trauma“, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 17.12.2010 bis 25.4.2011, <http://www.kah-bonn.de/index.htm?ausstellungen/napoleon/index.htm> (8.8.2011).
3 Vgl. etwa Benno Ennker / Heidi Hein-Kircher (Hrsg.), Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, Marburg 2010; Jörg Baberowski / Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror. Gewaltexzess und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium, Bonn 2006; Stefan Breuer, Nationalsozialismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005; Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939, München 2005; François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996; Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995.
4 Ernst Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology, Princeton 1957; dt.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990 (jeweils in mehreren Auflagen erschienen).
5 Zitate: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 143, S. 157, S. 144.