N. Ragaru u.a. (Hrsg.): Vie quotidienne et pouvoir sous le communisme

Cover
Titel
Vie quotidienne et pouvoir sous le communisme. Consommer à l'est


Herausgeber
Ragaru, Nadège; Capelle-Pogacean, Antonela
Reihe
Recherches Internationales
Erschienen
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 29,41
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bianca Hoenig, Historisches Seminar, Universität Basel

Konsum im Sozialismus, in einer „Mangelwirtschaft“ (János Kornai), das erscheint auf den ersten Blick als Widerspruch in sich. Gerade deshalb stellt dies einen faszinierenden Gegenstand dar, um die Funktionsweisen, die Stabilität und das Scheitern des sozialistischen Experiments in Mittel- und Osteuropa zu untersuchen. Konsum ist zu einem der privilegierten Themenfelder innerhalb einer sozial- und kulturgeschichtlich ausgerichteten Sozialismusforschung geworden, die die Gestalt und Aushandlung von Herrschaft im Alltag in den Mittelpunkt der Analyse stellt. Anstatt die sattsam bekannten Geschichten von Schlangen vor Geschäften und dem jahrelangen Warten auf Auto und Fernseher als Symbole für die systemisch bedingte und damit unabwendbare Niederlage in der Systemkonkurrenz mit dem Kapitalismus zu bemühen, geht es hier vielmehr darum, die Eigenlogiken eines spezifisch sozialistischen Konsums aufzudecken.

Dieses Ziel verfolgt auch der zu besprechende Sammelband. In Paris erschienen, bietet er eine Zusammenstellung von Arbeiten französischer und internationaler Autoren, die ein breites Spektrum an Themen und Ländern abdecken. Während der Großteil der Forschung zu diesem Themenfeld bislang noch der DDR und der Sowjetunion gewidmet ist, liegt ein Verdienst des Bandes darin, das gesamte östliche Europa – mit Ausnahme Jugoslawiens und Albaniens – zu berücksichtigen. Auch der gewählte chronologische Fokus bringt neue Impulse: Konzentrierte sich das Interesse bisher vor allem auf den Stalinismus bzw. die Etablierung sozialistischer Regime in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, so ist die Phase des „reifen Sozialismus“ ab den 1960er-Jahren bis zu seinem Zusammenbruch in der Forschung noch deutlich unterrepräsentiert. Gerade in Bezug auf den Konsum ist die Analyse dieses Zeitabschnitts aber lohnenswert. Denn erst so lässt sich die Behauptung, die unzureichende Befriedigung der Konsumwünsche der Bürger sei die Achillesferse gewesen, die letztlich zum Scheitern des realsozialistischen Projekts geführt habe, überprüfen und differenzieren.

Um zu vermeiden, die Maßstäbe und Begrifflichkeiten der Konsumgesellschaft westlichen Typs einfach auf die Gesellschaften jenseits des „Eisernen Vorhangs“ zu übertragen – wodurch letztere automatisch schlecht abschneiden würden –, stellen die Herausgeberinnen die Frage nach der inneren Legitimität der sozialistischen Herrschaft in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen (S. 20). Einerseits sollen so die offiziellen Versuche, Bedürfnisse festzustellen und zu befriedigen, ernstgenommen werden. Andererseits wird die Aufmerksamkeit auf die Alltagserfahrungen der Verbraucher gelenkt, die ausschlaggebend für den Erfolg oder Misserfolg staatlicher Konsumpolitik waren.

Der Band ordnet sich damit in den aktuellen Stand der kulturwissenschaftlich orientierten Sozialismusforschung ein. Mit diesem Handwerkszeug ausgerüstet, gelingen den Autor/innen interessante Aussagen über die Konsumwelt des Spätsozialismus. Weniger in der Beschreibung der Alltagspraktiken, die vielfach bereits anderswo dokumentiert sind, als in der Vielfalt der behandelten Aspekte und Zugänge zum Phänomen Konsum liegt hier der Gewinn. Der Sammelband gewährt neue Einblicke und erfüllt damit eines der beiden Ziele der Herausgeberinnen (S. 9). Der Anspruch, die bestehende Forschung gleichzeitig kritisch zu hinterfragen, scheint indes etwas hochgegriffen.

Der Band ist in drei Kapitel gegliedert, die große Kategorien in den Mittelpunkt stellen, dadurch jedoch als etwas willkürliche Unterteilung erscheinen. Der erste Abschnitt stellt die Frage nach dem Bestehen einer sozialistischen Konsumgesellschaft, im zweiten richtet sich der Fokus auf Herrschaftsmechanismen, wie sie sich in der Sphäre des Konsums spiegeln. Drittens geht es um Waren und ihre Funktion als soziale Distinktionsmerkmale.

Sandrine Kott und Jonathan R. Zatlin diskutieren am Beispiel der DDR die grundlegende Frage, wie sich der Warentausch im Realsozialismus beschreiben lässt. Während Kott dafür die Gabe als Analysekategorie vorschlägt, spürt Zatlin den sozialistischen Spezifika des Geldes nach. Ausgehend von ideologischen Dispositionen, verfolgen beide den Wirtschaftskreislauf, dessen Dysfunktionalität von der Bevölkerung durch Eigeninitiative und Netzwerke ausgeglichen werden musste. Es werden dabei Entwicklungsmuster deutlich, die sich auch durch die anderen Fallstudien ziehen: Mit dem relativen Wohlstand der 1960er- und dem sich verschärfenden Mangel ab Ende der 1970er-Jahre zog die Ungleichheit in den Diskurs ein, während sich kapitalistische Strukturen immer stärker in der offiziellen wie auch der informellen Wirtschaft festsetzten.

Als fruchtbar erweist sich der Zugang, verschiedene Expertengruppen zu untersuchen. Diese besaßen eine Mittlerposition zwischen der Fortschreibung und der Aneignung des öffentlichen Diskurses und machen somit die sich wandelnden Vorstellungen von Konsum greifbar. Im Mittelpunkt steht das Schlagwort der „sozialistischen Lebensweise“, das einen „richtigen“, rational auf die Bedürfnisse der Bürger abgestimmten Konsum beinhaltete, aber immer wieder mit den Widersprüchen der Wirtschaftsplanung wie auch mit den Konsumpraktiken der Bürger kollidierte. Liliana Deyanova betrachtet die Sozialwissenschaften in Bulgarien, Bradley Abrams die Werbebranche in der Tschechoslowakei der „Normalisierung“, Malgorzata Mazurek die Protagonisten der polnischen Verbraucherschutzorganisationen im Jahrzehnt der Solidarność. In der Zusammenschau gelesen, verdeutlichen sie die Pluralisierung des Konsumbegriffs in verschiedenen Milieus. Die Macht, dieses Konzept zu prägen, bedeutete dabei immer auch die Stärkung der eigenen Gruppenidentität und ihrer Bedeutung in der Öffentlichkeit.

Der zweite Teil betrachtet die Aneignung von Herrschaft. Unter diesem sehr allgemein gehaltenen Gesichtspunkt subsumieren sich Studien zu ganz verschiedenen Berufsgruppen. Virág Molnár erläutert sehr anschaulich, wie sich die ungarischen Architekten zwischen ihrer Reserve gegenüber dem Massen- und der Ablehnung des privaten Wohnungsbaus unintendiert zu Agenten der staatlichen Baupolitik machten. Gilles Favarel-Garrigues widmet sich mit der Wirtschaftskriminalität in der späten Sowjetunion einem Thema, das den Misserfolg der sozialistischen Konsumpolitik deutlich offenlegte. In dem mit mehr als 70 Seiten längsten Beitrag des Bandes erläutert Nadège Ragaru die verschiedenen Herrschaftsimplikationen des bulgarischen Kinos. Der Beitrag umfasst ein reiches Tableau von der Architektur der Kinogebäude bis zur sozialen Stellung der Filmemacher, das allerdings wegen der Fülle an Perspektiven keine davon tatsächlich auszuschöpfen vermag.

Die abschließenden drei Aufsätze widmen sich den Beziehungen zwischen Ware und Konsument. Wie schon Ragaru in ihren Überlegungen zum Kino, betrachtet Antonela Capelle-Pogăcean mit dem Theater in der rumänischen Stadt Oradea ein Medium als Konsumgut. Sie zeigt dabei, wie das Theater, das offiziell die Schaffung einer gleichen Gesellschaft unterstützen sollte, zum Ort alter und neuer Statusunterschiede wurde. Mit der Mode in der Sowjetunion unter Chruščev bearbeitet Larissa Zakharova ein Thema, an dem sich die Wertzuschreibung bestimmter Produkte wie die soziale Distinktion durch Konsum besonders gut untersuchen lässt. Sie zeichnet verschiedene populäre Strategien nach, um ausgehend von einer auf Gleichheit und Einheitlichkeit ausgelegten Bekleidungsindustrie durch Eigeninitiative individuelle Kleidungsstücke zu erhalten. Allmählich habe auch die staatliche Produktion eine Art Wettbewerb eingeführt. Das Gegenstück zu Molnárs Architekten präsentiert Ronan Hervouet, der über die sowjetische Datscha als Sehnsuchtsobjekt und Schauplatz der Aushandlung des sozialen Status schreibt.

In diesem letzten Abschnitt werden nochmals Entwicklungen deutlich, die an vielen Stellen erwähnt werden und sich somit als übergreifende Merkmale des spätsozialistischen Konsums charakterisieren lassen: Dazu zählen die Pluralisierung der Konsumpraktiken sowie die Bedeutung von persönlichen Netzwerken für die Beschaffung knapper Güter. Dies sind keine besonders großen Neuigkeiten und so darf man sich von dem vorliegenden Sammelband auch nicht einen grundlegend neuen Blick auf den Gegenstand „Konsum im Sozialismus“ erwarten. Seine Stärke liegt vielmehr darin, eine Vielfalt an Perspektiven und Themen in Bezug auf verschiedene Länder des Ostblocks zu erproben, die die Vorstellung des aufgrund eines Mangels an Fernsehern und Autos zum Untergang verurteilten sozialistischen Systems zumindest verkomplizieren.

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