Alkoholkonsum und Trinkkultur in der DDR

: Von Herrengedeck und Kumpeltod. Die Drogengeschichte der DDR. Band 1: Alkohol – der Geist aus der Flasche. Geesthacht 2009 : NEULAND Verlagsgesellschaft mbH, ISBN 978-3-87581-273-2 220 S. € 39,90

: Blauer Würger. So trank die DDR. Berlin 2011 : Aufbau Verlag, ISBN 978-3-351-02730-8 446 S. € 19,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Zwei Bücher zu einem Thema, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Das mag auch an ihrer Entstehungszeit liegen. Gundula Barsch habilitierte mit dem Thema 1996 an der Fakultät Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften der Technischen Universität Berlin. Thomas Kochan promovierte damit 2010 am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. So unterscheidet sich auch der Ansatz: Gundula Barsch leistet einen nüchtern-analytischen Beitrag zur Drogengeschichte der DDR, Thomas Kochan hat einen vergnüglich-wissenschaftlichen Text zur Alkohol- bzw. Trinkkultur in der DDR geschrieben. Gleichwohl und bei aller Verschiedenheit versuchen beide, das Thema komplex und historisch zu behandeln, Daten und Fakten zu sammeln sowie Zusammenhänge herzustellen und den staunenden Leser darüber aufzuklären, was sich so alles hinter „Blauer Würger“ (Kristall-Wodka), „Goldi“ oder „Vierzehn-fünfzig“ (Weinbrandersatz Goldbrand EVO 14,50 M), „Lascher Nazi“ (Marke Milder Brauner), „Kali“ (Kaffeelikör), „Kiwi“ (Kirsch-Whisky), „Kumpeltod“ (Bergmanndeputatschnaps), „Pfeffi“ (Pfefferminzlikör), „Stoni“ (Stonsdorfer Kräuterlikör), „Stichpimpulibockforzelorum“ (Magenbitterlikör) und „Herrengedeck“ (ein Exportbier und eine Pikkoloflasche Sekt) verbarg.

Gundula Barsch geht davon aus, dass der Alkoholkonsum ein komplexes soziales Phänomen darstellt, das in der Lebensweise und den Mentalitätsstrukturen der Menschen einer Gesellschaft wurzelt. Sie versucht darum, den „Geist der DDR-Gesellschaft“ zu erfassen und vor diesem Hintergrund den sozialen Umgang mit dem Alkohol nachzuzeichnen. So ergeht sich die erste Hälfte des Buches in relativ statischen Beschreibungen der traditionell marxistischen und offiziell sozialistischen Positionen zum „neuen Menschen“, zu dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv, von Arbeit und Leistung, den Idealen eines „guten Lebens“ und einer „sinnvollen Freizeit“ wie zum Genuss im Menschenbild der DDR, um zu jedem der Themen die abstrakte Frage zu stellen: Und was hat das mit dem Drogenthema zu tun? Die Antworten darauf bleiben in der Regel knapp, spekulativ und widersprüchlich. Aus der Sicht einer teilnehmenden Beobachterin verallgemeinert Gundula Barsch folgende Merkmale der DDR-Drogenkultur: Sie war eine Monokultur rund um den Alkohol, eingebunden in eine Aktivitäts- und Macherkultur, sie war einfach und rustikal, in den Trinkritualen kollektivistisch, sie war optimistisch und lebensfroh sowie ein Ventil für den Gefühlsstau. In der zweiten Hälfte des Buches geht Gundula Barsch anhand von Statistik und Literatur zunächst den Fragen nach, was man über das Trinken in der DDR wusste und welche alkoholbedingten Probleme es gab. Sie konstatiert zum Ende der DDR hin einen Trend zum Missbrauch und einen problematischen Alkoholkonsum in großen Teilen der Bevölkerung. In einem chronologischen Kapitel analysiert sie danach, wie das Thema Alkohol zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren, schwankend zwischen Befürwortung, Tabuisierung und Kritik, öffentlich behandelt wurde. Sie resümiert, dass es nicht gelang, den Alkoholkonsum der DDR-Bevölkerung breiter und offensiver als soziales Problem zu diskutieren, um schwerwiegenden Alkoholproblemen zuvorzukommen. Das Buch endet mit einer Betrachtung über die Grenzen und Verengungen der Alkoholforschung in der DDR. Im Anhang befinden sich das Nachwort eines Therapeuten zum Bericht eines Betroffenen sowie eine Zusammenstellung der gesetzlichen Regelungen zum Umgang mit Alkohol in der DDR. Die Quellengrundlagen der Arbeit sind Zeitschriften, Publikationen und Verlautbarungen der DDR. Die verwendete Literatur geht nur selten über die Erscheinungsjahre 1992/1993 hinaus. Neuere Ergebnisse der Alltags- und Gesellschaftsgeschichte der DDR werden nicht zur Kenntnis genommen.

Thomas Kochan geht das Thema mit beachtlicher methodischer Vielfalt und auf breiterer Materialbasis an. Er verbindet eine historische Perspektive mit Fragen nach den ökonomischen Grundlagen, den ideologischen Wurzeln und politischen Zäsuren der DDR-Gesellschaft. Er bringt Aspekte der Rechtsgeschichte und der Medizinforschung in seine ethnologische Neugier ein, die Trinkgewohnheiten im Gefüge der gesamten Alltagskultur verstehen zu wollen. Ebenso mehrdimensional ist die erschlossene Quellenbasis: Akten aus einschlägigen Archiven, achtzehn Interviews mit Spezialisten und Experten, Fernsehsendungen und Belletristik, Zeitungen und Zeitschriften unterschiedlichster Couleur vom „Eulenspiegel“ über „Deine Gesundheit“ bis „Die neuzeitliche Gaststätte“, Statistiken und Ratgeber- wie auch die Fachliteratur. Mit Bedacht spricht er von einer alkoholzentrierten, nicht von einer alkoholisierten Gesellschaft. Alkohol war ein zentrales Thema in der DDR, für die Politik, für die Wirtschaft wie für die Bevölkerung. In den späten 1950er-Jahren startete die Kulturpolitik einen Frontalangriff gegen die finsteren Bierkneipen und harten Sachen. Sie galten als Bremse des Fortschritts und sollten durch Milchbars und Klubgaststätten ersetzt werden. Nach dem Scheitern dieser „Kulturrevolution“ übernahmen Ende der 1960er-Jahre Juristen und Kriminologen mit einem Bündel von Alkoholgesetzen diese Erziehung. Die freilich wurde konterkariert durch die Entdeckung der Branche als sichere Einnahmequelle durch die SED-Wirtschaftsfunktionäre in den 1970er-Jahren: An Schnaps mangelte es der Mangelgesellschaft nie. Weil nicht sein sollte, was nicht sein durfte, bagatellisierte die SED-Führung das Problem eines zunehmenden Alkoholismus in den 1980er-Jahren. Das wiederum rief die massive Kritik der oppositionellen Gruppen hervor, während beherzte Mediziner Alkoholpolitik von unten betrieben. Aber 1989 legten die Ostdeutschen sang- und klanglos das alkoholzentrierte System ab: die friedliche Revolution war eine nüchterne Revolution.

Die Statistik der DDR legt bemerkenswert offen den Siegeszug der hochprozentigen Getränke dar. Die DDR wurde vom Bierland zum Branntweinland. 1974 überholte der DDR-Schnapskonsum den der Bundesrepublik. 1975 nahm die DDR in der Spirituosenweltrangliste den dritten Platz ein, 1985 stieß sie auf Platz zwei vor und 1987 wurden die Ostdeutschen vor den Bruderländern Ungarn und Polen in Sachen Schnaps Weltmeister. Im Frühjahr 1989 aber brach der Spirituosenkonsum ein und 1991 trank man im Osten reichlich drei Liter weniger als 1988 und nur noch so viel wie 1982. Ebenso aufschlussreiche Zahlenangaben hat Thomas Kochan für den durchschnittlichen Gesamtalkoholkonsum wie für den Bier- und Weinverbrauch in der DDR und im Vergleich mit der Bundesrepublik parat. „Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass die Ostdeutschen nach dem Ende der DDR eine zurückhaltende bis verklemmte Einstellung zu den Hochprozentern annahmen, wie sie die sozialistische Alkoholpolitik dreißig Jahre zuvor gefordert hatte.“ (S. 90) Deren Branntweinphobie wurzelte im Kaiserreich, wie auch die Vorliebe der Ostdeutschen bis ins 19. Jahrhundert zurück reichte. Der Kampf zwischen Abstinenzlern und Temperenzlern hatte Tradition. „Der vermeintliche Sonderweg der DDR-Spirituosenkultur begann also lange vor 1949.“ (S. 133) Dass die Schnapserei etwas mit der Dominanz proletarischer bzw. arbeiterlicher Werte, Tugenden und eben auch Geschmacksvorlieben zu tun hatte, ist einleuchtend. Freilich macht nicht das Getränk, sondern der Trinker den Unterschied. Und die Ostdeutschen wussten sehr wohl zwischen Schnaps und Rausch zu unterscheiden.

Nach Thomas Kochans schöner Formulierung ist der Mensch nicht nur, was er isst, er trinkt auch wie er lebt. Und „der ‚Homo bibens‘ der DDR war das Resultat einer meisterlichen Anpassung an seine Umgebung“ (S. 148). Neben den historischen Bedingungen beschreibt Kochan wesentliche Merkmale der alkoholzentrierten Gesellschaft DDR: Die Ursachen für das weit verbreitete Süffeln am Arbeitsplatz sieht er im östlichen Kollektivismus und Paternalismus. Die Gemächlichkeit und Immobilität der Gesellschaft beförderte das Trinken ebenso wie die ausgedehnte Feierkultur und das damit verbundene kollektive Anstoßen. Zugleich war die Einstellung zum Alkohol in der DDR naiv und offen, ganz im Gegensatz zur modernen Scheu vor dem Rausch. „Diese Offenheit, das vorurteilslose und unverstellte Verhältnis zu den Alkoholika“, kennzeichnet er als das „hervorstechende und erstrangige Charakteristikum der ostdeutschen Einstellung zum Alkohol“ (S. 238). Alkoholkonsum hatte nichts Anrüchiges und für die Vorstellung, dass die Ostdeutschen aus Verzweiflung oder vor der Diktatur in den Alkohol flüchteten, fanden sich keine Belege. In der DDR überlebte eine eher vormoderne Einstellung zum Alkohol, das „soziale“ Trinken, das zu jeder Geselligkeit gehörte, und das „instrumentale“ Trinken aus Durst, Hunger und zu Heilzwecken. Von vielen wurde das Bier gar nicht zu den alkoholischen Getränken gerechnet und Schnaps, Eierlikör und Rotwein als Hausmittel gegen allerlei Krankheiten gehandelt. Aber auch das beruhte auf alten Bräuchen, die lange vor der DDR entstanden waren. Wenn aber das exzessive Saufen unter subkulturellen Jugendlichen zum demonstrativen Anderssein gehörte, in Kneipen oder auf Betriebsfesten im Suff aufmüpfige Reden gehalten wurden, denen womöglich noch unbedachte Taten folgten, dann konnte der Alkohol zum Politikum werden. Dann bekam der Alkohol in der DDR „eine Bedeutung, die ihm in einer Gesellschaft, die ihre Konflikte offen austrägt und mit ihren Schwächen gelassen umgeht, niemals zukommen kann“ (S. 308) – ein weiterer Wesenszug der alkoholzentrierten Gesellschaft.

Noch im Jahr 1994 kolportierte die „tageszeitung“ das gängige Vorurteil: „Was soll man von einem Volk halten, das freiwillig einen Fusel mit dem Beinamen ‚Blauer Würger‘ schluckte, von dem man blind oder wahnsinnig werden konnte oder beides? So ein Volk verdient kein anderes Schicksal, als kolonisiert zu werden!“ (S. 84) Doch schon im Frühjahr 1989 hatten die ostdeutschen Käufer unbewusst und unerkannt den Epochenwandel vorweg genommen. Der Schnapskonsum brach zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten deutlich ein. Ironisch erinnert Thomas Kochan an Meinungsäußerungen von W. I. Lenin und Friedrich Engels, für die der Zusammenhang von klarem Kopf und revolutionärer Tat stets zum Fundament sozialistischer Alkoholkritik gehörte. So wurden die ostdeutschen Demonstranten im Herbst 1989 „zu den ‚neuen Menschen‘, die sich die kommunistische Ideologie immer ersehnt hat – revolutionär gesinnt, aktiv und nüchtern“ (S. 373).

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Weitere Informationen
Von Herrengedeck und Kumpeltod
Sprache der Publikation
Blauer Würger
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension