Cover
Titel
Willi Sitte – Lidice. Historienbild und Kunstpolitik in der DDR


Autor(en)
Schirmer, Gisela
Erschienen
Anzahl Seiten
157 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Suche nach verlorenen Bildern ist ein altes Thema der Kunstgeschichte. Dass diese auch für die neuere Zeitgeschichte relevant ist, wird von Gisela Schirmer beeindruckend und spannend vorgestellt. Sie ist mit ihrer soliden und differenzierenden Darstellung dem Geheimnis eines verschwundenen Tryptichons von Willi Sitte auf die Spur gekommen, aufgefunden hat sie es leider nicht. Sie vermutet, „dass der Geheimdienst das Bild verschwinden ließ, entweder aus eigenem Interesse oder auf Veranlassung von Gegnern der Transaktion aus Ostberlin.“ (S. 127) Gleichwohl wird das großformatige Werk mit diesem Buch gewissermaßen neu entdeckt und dem Kunst- und Geschichtsinteressenten so plastisch vor Augen geführt, dass er selbst zur detektivischen Arbeit angeregt wird. Gisela Schirmer dokumentiert ausführlich die Vorgeschichte des Gemäldes „Lidice“, das im Jahr 1959 entstand, seinen künstlerischen Entstehungsprozess, seine Bedeutung für einen der wichtigsten bildenden Künstler der DDR, wie ebenso dessen schwierige Lebens- und Schaffensphasen in den 1950er-Jahren und dessen Demütigungen durch die bornierte und kleingeistige Formalismusdebatte. So gelingt es Gisela Schirmer, ein Stück deutsche Kulturgeschichte zu schreiben, herauszuarbeiten, welche Vorstellungen der Antifaschist und Kommunist Willi Sitte mit dem Thema Lidice verband, was ihn beim Malen bewegte und mit welcher Dummheit die selbsternannten Parteiführer ihm begegneten. Zugleich wird von ihr nachgewiesen, dass die 1996 gezogene Schlussfolgerung, unter anderem von Hubertus Gaßner, über Willi Sittes angebliche Überarbeitung des Gemäldes nicht nur oberflächlich, sondern schlicht falsch war.

All das gelingt Gisela Schirmer auf eine sehr sympathische und unaufgeregte Art, indem sie systematisch vorgeht. Nachdem der Leser in der Einleitung erfährt, dass ein 12 Quadratmeter großes Dreitafelbild bei der Übergabe als Geschenk an das Museum in Lidice anlässlich des 20. Jahrestages des unter dem Kommando der SS verübten Massakers 1962 einfach „verschwunden“ ist, stellt sie zunächst einmal die gesamte künstlerische Entwicklung Willi Sittes im Kontext mit der spezifischen deutschen Geschichte in großen Zügen dar, reiht das verschwundene Bild in die Serie anderer Historien- und Schlachtenbilder ein und zeigt auch an ausgewählten Beispielen den streitbaren und widerständigen Künstler Sitte. Es folgen auf 66 Seiten die 82 Schwarz-Weiß- und 22 Farb-Abbildungen, die unverzichtbar für das Verständnis dieses Gemäldes sind. An dieser Stelle wird das wissenschaftliche Buch von Gisela Schirmer zum begleitenden Katalog der in Merseburg gezeigten meisterhaften Seiten aus Skizzenbüchern, Studien, Vorzeichnungen und Gemälden zum Thema „Lidice“.

Auf Seite 105 steigen wir wieder in die aufregenden historischen Details ein. Gestützt auf gründliche und umfangreiche Archivstudien wird die Entstehungsgeschichte des monumentalen Bildes nachgezeichnet, das Kreuzfeuer der politischen und ästhetischen Angriffe gegen das Kunstwerk vorgestellt, das Spannungsfeld zwischen Ostberlin und Prag sowie die Zwischenstation in der Moritzburg in Halle bis zum Verschwinden des Gemäldes dokumentiert. Die gehaltvolle und kluge Darstellung enthält einerseits fundamentale Aussagen zum gelebten Antifaschismus Sittes, sie entfaltet andererseits seine künstlerische Herkunft von den alten Meistern und seine Auseinandersetzung mit der Moderne, insbesondere mit Leger und Picasso.1 Und sie geht zum Dritten intensiv auf Willi Sittes künstlerisches Ringen ein, Tod und Massaker, Opfer und Täter, Weiblichkeit und Männlichkeit, Überlebende und Hoffende in Bilder umzusetzen.

Der „Kunstpapst“ und Leiter der Kulturkommission beim ZK der SED, Alfred Kurella, hatte Willi Sitte vor dem Gemälde Schläge angeboten: „wenn Du nicht Antifaschist wärst, könnte ich Dir rechts und links eine Ohrfeige runterhauen. Wie kann man so ein Bild malen.“ (S. 116) Da hatte Sitte wohl einen Nerv getroffen und der intelligente Stalinist Kurella war zutiefst erschrocken. Denn Sittes Gestaltung, einem mittelalterlichen Altar gleichkommend, offenbarte ein überzeitliches Phänomen. Er malte damit nicht nur die Gräueltat der Nazischergen in Lidice, sondern assoziierte auch die Todeskommandos Stalins und die blutige Niederschlagung des Arbeiteraufstands in Ungarn. Und seit dem XX. Parteitag der KPdSU war das Dogma von der „führenden Rolle der Partei“ ins Wanken geraten. Eben weil die Soldaten kein Gesicht hatten, sondern in Annäherung an die Moderne flächig dargestellt waren, fehlte Kurella das für ihn maßgebende und sichtbare Feindbild. Seine Ablehnung entsprang der verborgenen Ahnung, dass das stalinistische Freund-Feind-Schema nicht mehr in die Zeit passte. Die massive Kritik der „eigenen“ Genossen stürzte Willi Sitte in eine schwere Existenzkrise, als Künstler aber sah er weit mehr, viel weiter und viel mehr. Und er hat es ästhetisch und individuell umgesetzt. Das vor allem, war den Funktionären suspekt. Sie reagierten mit Distanz und Abwehr und ließen das Bild – irgendwo auf dem Transport – „verloren gehen“.

Möge dieses Buch vielen Kunstliebhabern Anregung bieten, selbst nach dem 12 Quadratmeter großem Dreitafelbild „in der Art eines Diptychons mit einer in der Breite leicht ausladenden Predella“ (S. 106) zu fahnden, von dem nur noch eine Schwarz-Weiß-Abbildung existiert (vgl. S. 41). Die europäische Kunstwelt wäre mit diesem Gemälde reicher und das Museum in Lidice könnte dem 1967 gestifteten kleinformatigen Bild (87cm x 50 cm) von Gerhard Richter „Uncle Rudi“ ein monumentales Kunstwerk zur Seite stellen, das mit Picassos „Guernica“ durchaus vergleichbar ist.

Anmerkung:
1 Vgl. Gisela Schirmer, Willi Sitte. Farben und Folgen. Eine Autobiographie. Mit Skizzen und Zeichnungen des Künstlers, Faber & Faber, Leipzig 2003; rezensiert von Gerd Dietrich, in: H-Soz-u-Kult, 09.02.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-105> (23.08.2011).

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